Champions-League-Finale

Das ZDF zeigt, wie man mit Fehlern transparent umgeht

Das Finale der Champions League zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid begann am Samstag im Stade de France nahe Paris mit mehr als 30 Minuten Verspätung. Den Veranstaltern war es nicht gelungen, tausende Liverpool-Fans rechtzeitig ins Stadion zu schleusen. Der europäische Fußballverband UEFA und französische Behörden machen bis heute Fans dafür verantwortlich, die sich angeblich mit gefälschten Tickets Eintritt verschafft hätten. Das ZDF, das das Finale als „Sportstudio live“ übertrug, übernahm zunächst diese Schuldzuweisungen vonseiten der Offiziellen – um sich dann später in einer 180-Grad-Wende sehr transparent zu korrigieren.

Moderator Jochen Breyer und Experte Christoph Kramer Screenshot: ZDF

Dabei hatten der offiziellen Darstellung von Anfang an etliche Augenzeugen in sozialen Netzwerken widersprochen, darunter viele Journalist:innen, vor allem britische. Rob Draper, Fußball-Chefreporter der „Mail on Sunday“, begann nach eigenen Angaben bereits um 19:28 Uhr, das Geschehen zu dokumentieren: Das Gedränge vorm Stadion war offenbar auch durch Polizeiabsperrungen entstanden und weil zu wenige Order:innen vor Ort waren.

Auch Mark Ogden, Korrespondent des US-Sportsenders ESPN, filmte frühzeitig das Chaos beim Einlass und die französische Polizei, die wartende Liverpool-Fans mit Tickets, darunter Kinder, mit Tränengas und Pfefferspray drangsalierte. Ab 20:40 Uhr berichtete der Sportjournalist Chaled Nahar, der unter anderem für die „Sportschau“ und den Deutschlandfunk tätig ist, auf Twitter im Minutentakt über die zahlreichen Berichte rund um den Tumult am Einlass.

Menschenleben in Gefahr

„Sky Sports“-Chefreporter Kaveh Solhekol sprach von einem „Flaschenhals“, in den die englischen Gäste gedrängt worden seien. Liverpool-Fan Daniel Robinson postete später ein Bild des gefährlichen Rückstaus, der auch in einer Massenpanik mit Toten und Verletzten hätte enden können. Ein Video dokumentiert, wie Fans über eine Mauer klettern, um der Enge zu entkommen.

Natürlich gab es rund um das Stadion auch Fehlverhalten von Fußballfans. Vor allem aber sprechen zahlreiche Augenzeug:innen, darunter auch spanische, von Jugendlichen der Banlieue, zu der der Austragungsort Saint-Denis gehört, die ohne Ticket ins Stadion wollten, randalierten und Fans ausraubten. Diese Ereignisse zeugen von der allgemein schlechten Sicherheitslage, die die französische Polizei nicht im Griff hatte. Sie sind aber nicht der Grund dafür, dass zehntausende Fans zu spät ins Stadion kamen, wohl aber dafür, dass sie um Leib und Leben fürchten mussten.

ZDF gibt zunächst Liverpool-Fans die Schuld

Für das ZDF vor Ort waren Moderator Jochen Breyer, Kommentator Béla Réthy, die Experten Per Mertesacker und Christoph Kramer sowie der Reporter Nils Kaben und die Reporterin Claudia Neumann. Nachdem Breyer bereits an Réthy abgegeben hatte, wurde wegen der Verzögerung zu ihm und Experte Kramer zurückgeschaltet.

Gegen 21:15 Uhr wiederholte Breyer zunächst die offizielle UEFA-Schuldzuweisung an Fans, die angeblich zu spät zum Stadion gekommen wären (hier ab Minute 50:00). Zudem wurden Bilder eines spanischen Senders präsentiert, die dieser auf Twitter gepostet hatte. Sie zeigen, wie einzelne Männer über den Zaun rund um das Stadion klettern.

Während Breyer noch vorsichtig formulierte, „das könnte zumindest Teil des Problems sein“; fällte Experte Kramer ein vorschnelles Urteil, indem er Breyer ins Wort fiel und selbstgewiss verkündete, das könne nicht nur so sein, „sondern das wird das Problem sein. Natürlich geht das nicht, es nervt tierisch, weil jetzt irgendwie alle warten müssen“. Wie sich im Nachhinein herausstellte, wussten weder Kramer noch Breyer zum diesem Zeitpunkt etwas über die bedrohliche Lage vor dem Stadion. Auch die Verantwortung der Veranstalter hatten sie da noch nicht thematisiert.

Korrektur nach massiver Social-Media-Kritik

Die Kritik aus den sozialen Netzwerken, die ein ganz anderes Bild zeigten, folgte prompt. Matt Ford, Sportreporter bei der Deutschen Welle in Bonn, twitterte:

Doch dann geschah etwas Bemerkenswertes: Breyer und dem ZDF gelang es aufgrund der zahlreichen Hinweise noch in der Halbzeit, die eigene Berichterstattung zu korrigieren. Das ist technisch alles andere als einfach. Schließlich müssen sich Breyer und Co. von der Moderationsinsel zu ihren Plätzen hin- und zurückbewegen, die Möglichkeit währenddessen zu recherchieren, ist im Stadion sehr begrenzt. Zudem besteht die eigentliche Aufgabe darin, sich auf das sportliche Geschehen zu konzentrieren.

Trotzdem nutzte Breyer die kaum drei Minuten, die ihm nach der „Heute“-Sendung in der Halbzeit noch blieben, um zu sagen, dass das Bild, das man vor Anpfiff gezeichnet habe, unbedingt vervollständigt werden müsse.

Das ZDF zeigte die Tränengas-Bilder des ESPN-Kollegen sowie Bilder eines eigenen Kameramanns, der ebenfalls hartes polizeiliches Vorgehen und Gedränge an den Drehkreuzen gefilmt hatte. Breyer sprach nun davon, dass dringend geklärt werden müsse, „ob der Veranstalter, also die UEFA“ und die französischen Behörden nicht eine erhebliche Mitverantwortung für das Chaos trügen.

Vervollständigt wurde diese Kehrtwende nach dem Spiel im „Sportstudio“, als Breyer den Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS), Michael Gabriel, live in die Sendung schaltete. Die KOS hat langjährige Erfahrung in der Betreuung von Fans und der Gestaltung deeskalierender Sicherheitskonzepte vor Fußballspielen. Gabriel hatte Breyer noch vor Anpfiff eine SMS geschickt und seine Frustration zum Ausdruck gebracht. Und Breyer nutzte die Gelegenheit, den Kritiker spontan in die Sendung zu laden, in der Gabriel dann das organisatorische Versagen der UEFA kritisierte. Dieses war auch schon in der Woche zuvor massiv augenfällig geworden, als die Frankfurter Eintracht ihr Europa-League-Finale gegen die Glasgow Rangers in Sevilla spielte: Dort gab es für gut 40.000 Anhänger beider Finalteilnehmer stundenlang nichts zu trinken, bei Temperaturen von über 30 Grad im Schatten. 

ZDF kündigt Verbesserungen an

Im Gespräch mit Übermedien sagt Breyer, dass er vor Anpfiff keine Möglichkeit gehabt habe, selbst auf Twitter oder anderweitig im Netz nach Informationen zu suchen:

„Ich stehe da ja lange vorher auf meinem Posten und habe meinen Sendeleiter auf dem Ohr, das war’s. Als wir die Information des französischen Senders bekamen, dass hunderte Fans ohne Tickets ins Stadion gekommen seien, dazu die Bilder des spanischen Senders und die Meldung der UEFA auf der Anzeigetafel, dass viele Fans zu spät angereist seien, haben wir diese weitergegeben. Als ich dann nach Anpfiff die Nachricht von Michael Gabriel und Tweets auf meinem Handy gesehen habe, wusste ich, das müssen wir dringend richtigstellen.“

Er sei für die Kritik auf Twitter dankbar, denn er ärgere sich genauso über Fehler in der Berichterstattung. Die Situation in Paris sei auch für das ZDF-Team chaotisch gewesen. So habe man sofort nach Bekanntwerden der Verzögerung Reporterin Claudia Neumann rausgeschickt, die später auch einen kritischen Kommentar schrieb. Sie habe im Durcheinander vor den Eingängen ihren Kameramann aber nicht finden können, da das Handynetz ebenfalls ausgefallen sei.

So drehte das ZDF zwar die Tränengas-Bilder, die in der Halbzeit auch gezeigt wurden, Neumann hatte aber nicht die Chance, diese auch live auf dem Sender zu kommentieren. Wäre dies gelungen, hätte man schon vor Anpfiff besser berichtet, sagt Breyer. „Wir brauchen in Zukunft wieder Funkgeräte, auf die Mobilfunk-Netze ist im Falle einer unvorhergesehenen Situation kein Verlass.“ Künftig wolle das ZDF in solchen Fällen eine Person nur für Social-Media-Monitoring einsetzen. Auch darüber, von Anfang an eine:n Fanreporter:in vor dem Stadion zu haben, denke man intensiv nach.

Drei Lektionen des Finalabends

Der Finaltag und die Berichterstattung im ZDF haben gezeigt: Reporter:innen, die vor Ort zu einer eigenen Anschauung kommen, sind Gold wert. Natürlich möchte die UEFA sich keine Blöße als Veranstalter geben und weist gerne mal wieder den Fans die Schuld zu. Und die französischen Behörden halten mit teils absurden Thesen daran fest. 70 Prozent der Liverpool-Anhänger seien mit falschen Tickets am oder im Stadion gewesen, behauptete Innenminister Gérald Darmanin.

Neben der Tatsache, dass viele britische Journalist:innen mit eigenen Augen ganz andere Dinge gesehen haben, ist da aber noch ein Widerspruch: Wenn so viele Fans gefälschte Karten gehabt hätten, wären es im Stadion entweder zu einer massiven Überfüllung gekommen oder es hätten Zehntausende draußen abgewiesen werden müssen. Beides war nicht der Fall: Der Liverpool-Block war vor allem im Oberrang selbst beim verspäteten Anpfiff noch fast halb leer. Es dauerte bis zur zweiten Halbzeit, ehe alle Fans im Stadion waren. Dann jedoch war es draußen nahezu gespenstisch leer, wie „Sky Sports“-Chefreporter Kaveh Solhekol noch während des Spiels live berichten konnte. Entsprechend eindeutig fällt seine Bewertung aus

https://twitter.com/SkyKaveh/status/1531350274765475841

Die zweite Lektion: Das Wiedergeben von offiziellen Statements von Veranstaltern, Verantwortlichen, Polizei und Behörden in Konfliktsituationen ist kein adäquater Journalismus, weil diese Institutionen in solchen Momenten Partei sind. Es ist bei keinem Fußballspiel und bei keiner Demo und bei keinem eskalierten Volksfest ausreichend, nur die Sicht der Polizei wiederzugeben. Die eigene Berichterstattung mag damit offiziös daherkommen, ist aber in Wirklichkeit Behörden-PR.

Und so läuft es leider viel zu oft: Beim aktuellen Beispiel gab hier die „Tagesschau“ ein besonders schlechtes Bild ab, die noch am Nachmittag des Folgetages die UEFA-Story der Fans mit gefälschten Tickets über den Sender schickte – trotz der längst erfolgten ZDF-Richtigstellung, und trotz der wesentlich akkurateren „Sportschau“-Darstellung von Chaled Nahar im eigenen Programm.

Drittens zeigte das ZDF, dass transparente Fehlerkorrektur sehr wohl funktionieren kann. Auf Twitter dankten noch am Abend viele Kritiker dem ZDF und Breyer für die Korrektur.

Und auch Breyer bedankte sich: 

Fußballfans können gewalttätig sein, aber sie sind es keineswegs immer – und viel weniger häufig an allem schuld, als ihnen zugeschrieben wird. In der Korrektur der eigenen Berichterstattung haben Breyer und das ZDF am Ende bewiesen, dass man medial auf Augenhöhe kommunizieren kann. Dieser Umgang ist sehr viel wert: Denn zu leicht verlieren ganze gesellschaftliche Gruppen das Vertrauen in mediale Darstellungen, weil Fehler nicht korrigiert werden oder bestimmte Aspekte unter den Tisch fallen.

Offenlegung: Ich habe 2018 eine Veranstaltung der KOS in Frankfurt am Main moderiert.

2 Kommentare

  1. Jochen Breyer ist mir in den letzten Jahren immer wieder positiv aufgefallen, z.B. die durch Hoffenheim-Doku und (sogar völlig ohne Sportbezug) die Doku vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen.
    So blöd es klingt: Vom Äußeren hält man ihn völlig zu Unrecht vielleicht erst einmal für nen typischen „Grinse-Sportmoderator“, aber er hebt sich doch sehr ab von den allermeisten Kolleg:innen, finde ich.

  2. Respekt an Jochen Breyer. Das war in der Tat vorbildlich. (Weiß man zufällig, ob sich Spezialexperte Kramer auch für seine Vorverurteilung entschuldigt hat?)

    Was mir auch sehr gefällt, ist, dass man in den Übermedien auch mal positive „Nachrichten“ liest, wenn jemand etwas gut gemacht hat. Leider viel zu selten, aber das liegt wohl daran, dass sowas zu selten vorkommt. IIRC hat auch noch Thorsten Schröder in der 20-Uhr-Tagesschau am Sonntag die Fans als die Schuldigen präsentiert.

    Hoffnung, dass wir in Zukunft die Meldungen von involvierten Behörden und/oder Event-Veranstaltern nicht als Fakten präsentiert bekommen habe ich folglich auch gar keine.

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