Suizid-Berichterstattung

Eine schlechte Stelle zum Schreiben

Im Berliner „Tagesspiegel“ gibt es seit zwei Wochen eine „Sommer-Serie“; das ist eine Rubrik, die Zeitungsmacher irgendwann erfunden haben, als es noch ein Sommerloch gab, sich die Meldungen also nicht ständig überschlugen. So eine Sommer-Serie füllt leere Seiten. Und auch für die Leser kann sie nützlich sein, gerade im Lokalen, weil dort gerne Orte empfohlen werden, die man mal (wieder) besuchen kann: schöne Radwege, Aussichtstürme, Badeseen.

Oder, wie im „Tagesspiegel“: ein Ort, an dem jemand Suizid begangen hat.

Sollte man da so machen?
Sollte man das so machen? Ausriss: „Tagesspiegel“ 24.7.2016

In der zweiten Folge der Serie begibt sich Gerrit Bartels, Kultur-Redakteur beim „Tagesspiegel“, auf die Suche nach jenem Ort, an dem der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf sich vor ziemlich genau drei Jahren das Leben nahm. Es ist ein gut geschriebener Text, er ist auch auf eine Art interessant, aber er ist problematisch.

Wolfgang Herrndorf war schwer krank, er hatte einen Hirntumor, und er dokumentierte seinen Verfall im Tagebuch „Arbeit und Struktur“, was bisweilen heiter ist und oft bedrückend. Herrndorfs Sterben ist damit auch Literatur geworden, überall erhältlich. Sich damit zu befassen, nachzulesen, wie er dem Tod schreibend begegnete, hat einen literarischen Wert, einen menschlichen ohnehin. Es ist auch legitim, darüber nachzudenken, zu diskutieren, dass hier jemand entschlossen hat, aus dem Leben zu gehen, um nicht qualvoll dahinzusiechen – und inwieweit das nachvollziehbar ist.

Aber darum geht es in der „Sommer-Serie“ nicht. Es ist eine Suche, eine Pilgerreise zu dem Ort, an dem es geschah. Man könnte auch sagen, es ist Literaturtourismus, ein latent makaberer. Und ich frage mich, ob das so, in dieser Form, in dieser Rubrik, in der Art der Schreibe, gut und richtig ist.

Seit Jahren wissen wir, dass es gefährlich ist, zu explizit über Suizide zu berichten. Weil es, das ist wissenschaftlich belegt, dazu führen kann, dass sich andere Menschen durch die Beschreibung inspiriert fühlen und ebenfalls Suizid begehen, auf dieselbe Weise: der „Werther-Effekt“. Deshalb sollte man Suizide nicht verherrlichen oder romantisieren, man sollte nicht die Methode nennen, auch nicht den Ort. Es gibt dazu etliche Leitfäden.

Gemäß dieser Leitfäden ist an dem Sommer-Serien-Text vieles falsch.

Drüber steht: „Eine schöne Stelle zum Sterben“, was sich an ein Zitat von Herrndorf anlehnt, aber gleichsam diesen Ort romantisiert, auch wie er später beschrieben wird: Es sei „schön“, heißt es, von der Stelle, an der ein Gedenkkreuz aus Metall steht, „den Kanal herunter Richtung Spandau zu schauen, auf die sich im Wasser spiegelnden, sich ihm geradezu hinbiegenden Bäume“. Und es wird genau beschrieben, wie man zu der Stelle gelangt. Wie abgelegen sie ist. Wie wenige Spaziergänger dort sind. Geradezu perfekt. Und wem die Wegbeschreibung nicht genügt, der kann auf die Karte sehen, die der „Tagesspiegel“ unter den Text gedruckt hat: der rote Punkt – dort ist es.

In der ersten Folge der Serie war eine Autorin durch die Rummelsburger Bucht gelaufen, um zu beschreiben, was sie so sieht und was es dort alles gibt, ganz klassisch. So werden wohl auch die nächsten Folgen sein. Dass dazwischen eine steckt, die den Weg zu einem Suizid-Ort weist, finde ich bedenklich. Ich weiß nicht, ob sich Herrndorf wünschte, dass die Stelle zu einem Pilger-Ort wird, wo Menschen seiner gedenken; dass sie zu einem Hotspot für Suizidale wird, hat er gewiss nicht im Sinn gehabt. Und hoffentlich wird sie das nicht. Aber die Forschung zeigt, dass es sein kann. Es gibt prominente Beispiele.

Gerrit Bartels, der Autor des Textes, hat Medizin studiert, bevor er Journalist wurde, er arbeitete auch in der Psychiatrie. Nachvollziehen aber, worin das Problem seines Textes liegen könnte, kann er nicht; er hatte, bis zu meiner Anfrage, noch nicht mal darüber nachgedacht, wie offenbar niemand beim „Tagesspiegel“, was auch bemerkenswert ist. Und Bartels sagt: „Ich glaube nicht, dass der Text romantisierend ist oder gar Menschen zur Nachahmung anregt.“ Er habe bloß nachgesehen, wo eigentlich dieses Kreuz steht, das sich Herrndorf gewünscht hat. „Und wenn man sich mit Herrndorf beschäftigt, kann man das Thema Suizid kaum umgehen, zumal er es selbst in seinem Buch ‚Arbeit und Struktur‘ ständig reflektiert.“

Das stimmt.

Aber ich glaube, es gibt einen Unterschied. Dass sich ein Schriftsteller in seinem Werk mit dem eigenen Sterben befasst und dies dann im Feuilleton, der Literaturwissenschaft, auch in gesellschaftlichen Debatten, zum Beispiel über Sterbehilfe, behandelt wird, ist das eine. Etwas anderes ist es, wenn man in einer eher luftigen „Sommer-Serie“ unter dem Titel „Berliner Ufer“ darüber schreibt und dabei den Weg weist, ein Foto zeigt, die Methode nennt.

Ich kann schon nachvollziehen, dass Leute, die Herrndorfs Literatur verehren, diesen Text gerne lesen. Ein Leser kommentiert darunter, es sei ein „wunderbarerer, melancholisch stimmender Artikel“ – jedenfalls für jene, könnte man hinzufügen, die keine dunklen Gedanken hegen.

Aber auch wenn das so ist: Es wäre angebracht, will man den Text nicht ganz aus dem Internet löschen, wenigstens einen Hinweis ans Ende zu stellen, wohin sich Menschen mit Problemen wenden können.

45 Kommentare

  1. Ich bin mir da gar nicht so sicher. Erstens ist es ja nicht per se schlecht, sich das Leben zu nehmen, weshalb mir die reine Tatsache, dass solche Berichte die Zahlen steigern, noch nicht als Argument reichen würde, und zweitens ist Suizid in unserer Gesellschaft so … Ja, wie sagt man? Stigmatisiert, dass ich zumindest auch etwas Gutes drin sehe,: so einer Form drüber zu schreiben.
    Dass die schlechten Effekte überwiegen, kann natürlich auch sein. Kommt mir aber zumindest noch ungeklärt vor.

  2. Ich teile die Kritik am Artikel nicht, wenn ich auch verstehe, dass ein seltsamer Beigeschmack dabei ist.

    Nur weil der Kontext in einer unbedarften Sommerserie sicherlich unpassend ist, kommt es doch ausschließlich auf den Inhalt an. Da kann es keinen Unterschied machen, ob der Text in einer Print-Zeitung, im Internet oder aber zB als Text in einer Herrndorf-Buch erscheinen würde. Man mag ja durchaus den Hinweis auf Beratung dem Artikel anhängen. Über Suizid muss gestiegen werden dürfen. Auch über dem von Herrndorf. Das ist legitim um vom Tagesspiegel auch angemessen zurückhaltend umgesetzt worden.

    Es wird wohl kaum zu einem Tatort-Tourismus führen. Jetzt sind doch auch keine Leute an der Stelle unterwegs wie im Artikel steht und das wird sich doch nicht wesentlich ändern.

    Auch der Text in der FAS vor einigen Monaten über die Tatwaffe im Literaturarchiv Marbach hat doch zu Recht keine Kritik wie diese hier ausgelöst.

    Sorry, aber ich finde nicht den Artikel, sondern die Kritik daran nicht angemessen.

  3. Korrektur Tippfehler:
    Über Suizid muss geschrieben werden dürfen. Auch über den Suizid von Herrndorf. Das ist legitim und vom Tagesspiegel auch angemessen zurückhaltend umgesetzt worden.

  4. Nun ja, gestern Abend lief im WDR eine Doku über den, gewollten, Suizid einer älteren Dame; im ZDF vor kurzem der Film „Hin und Weg“, dessen letzte Viertelstunde schon sehr Gänsehautmässig war…
    Warum sollte es also keinen von einer Tageszeitung beschriebenen schönen Platz zum Sterben geben?
    Das ist mir alles zu korrekt, diese Kritik. Meinen Platz kenne ich noch nicht, aber ich werde ihn mir aussuchen, solange ich noch dazu selbstentscheidend in der Lage bin.
    Und ja, ich hänge am Leben, schon weil ich sehr neugierig bin…

  5. Die Diskussion um den Werther-Effekt wurde (auch mehrfach im Blog von SN) geführt. Jede Reflektion zum Thema Suizid, auch die gut gemachten, wird geeignet sein vulnerable Personen zu motivieren.
    Auch eine fiktionale Darstellung ist dazu geeignet. Eine Berichterstattung, die dieses Thema zum Gegenstand macht wird, fast immer gegen die eine oder andere Leitlinie der DGS verstoßen.
    Hinzu kommt eine ethische Grundsatzbewertung, die ebenfalls kompliziert ist, denn das Spektrum reicht von der absoluten Ablehnung bis zur Akzeptanz, um freiheitliche Selbstbestimmung in Vollendung hochzuhalten. Schon die Grundhaltung des Einzelnen zum Suizid beeinflusst seine Auffassung zu den möglichen Arten der Darstellung.
    Der hier vorgestellte Artikel hat mehr den Charakter einer künstlerischen Darstellung und stellt insofern keinen Bericht dar.
    Auch Herr Rosenkranz relativiert seine Kritik und arbeitet heraus, dass hier nun definitiv keine reißerische Darstellung erfolgt. Man wird, dass hat sich nun schon mehrfach bestätigt bei diesem Thema keinen Konsens finden, welche Form der öffentlichen und medialen Darstellung angemessen ist. Im der Kritik des Artikels sehe ich in der Argumentation aber einen Widerspruch: Die künstlerische Auseinandersetzung des Betroffenen wird legitimiert, hier spricht Boris Rosenkranz weder dem Autor noch dessen Lesern irgendwelche Rechte zur Reflektion des Themas ab. Der Artikel im Tagesspiegel, der weniger als Bericht sondern eher als melancholische Stimmungsbeschreibung daherkommt, ist aber auch mehr eine persönliche Betrachtung des Wanderers, der den Leser an seinen Gedanken teilhaben lässt. Also irgendwo auch Kunst. Und auf höherem Niveau die künstlerische Freiheit zu akzeptieren, sie aber auf niedrigerem Niveau beschneiden zu wollen, geht eigentlich nicht.
    Außerdem: Mir persönlich erscheint der Vorwurf, ein ernstes Thema herabzuwürdigen, weil es Gegenstand einer Sommerloch-Serie wird, ein wenig zu moralisierend.
    Aber:
    Sehr gut finde ich, dass die Zeilscheibe der Kritik ein Artikel ist, der definitiv nicht an die wirklich widerliche Sensationslust anderer Fälle heranreicht, also auch viel kontroverser diskutiert werden kann. Hier zeigt uns der Autor auch einmal mehr, dass man es sich bei Übermedien auch gerne mal nicht leicht macht und Wege sucht, um auch das Nachdenken der Leser anzukurbeln.

  6. @Muriel: Doch, in fast allen Fällen ist Suizid per se schlecht. Und die Forschung zeigt eindeutig, dass Stigmatisierung vorbeugend wirkt und hilft, Suizide zu vermeiden. Ich habe selbst eine sehr gute Freundin im Alter von nur 20 Jahren auf diese furchtbare Weise verloren. Das hat das Leben ihrer Familie und auch meines unwiederbringlich verändert. Der selbstbestimmte Tod ist ein Mythos, denn extrem selten erfolgen Suizide bei klarer Gemütsverfassung. Im Fall von Herrndorf mag eine solche Ausnahme vorliegen, bei fast allen anderen aber nicht. Das zeigt schon die Tatsache, dass verhinderte Suizide nach erfoglter Hilfestellung meist nicht mehr umgesetzt werden.
    Meine Freundin befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation, die nüchtern und von außen betrachtet lösbar war. Sie hatte ihr Leben vor sich. Jede einzelne „Zahl“ ist ein Schicksal, das höchstwahrscheinlich verhindert hätte werden können, daher reichen steigende Zahlen durch solche Texte sehr wohl aus, um darum zu bitten, sie zu unterlassen.

  7. @INGA
    …ich bin nicht sicher, ob Sie recht haben. Auch gestern Abend: Ein Beitrag über die Kölner Raser-Szene auf ZDF-Info. Darf darüber und die Opfer nicht berichtet werden, nur weil es Testosteron-gesteuerte Idioten erst recht anfeuern könnte?
    Schon klar: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich.
    Und noch mal gestern Abend im WDR: Eine Doku über einen gescheiterten Suizid.
    Sicherlich sehens- und nachdenkenswert.

  8. @Ekkehard:
    Es gibt, wie Inga ganz richtig anmerkt, eindeutige Zahlen, die einen Nachahmer-Effekt belegen. Und Sie wollen doch nicht ernsthaft psychisch Kranke in mentalen Ausnahmesituationen (und nur um diese geht es, das sind die potentiellen Nachahmer) mit „Motorsport-Interessierten“ vergleichen. Das ist so aberwitzig, da weiß ich nicht mal wie ich da adäquat drauf reagieren sollte.

    Offensichtlich hatten Sie noch keinerlei engeren Kontakt zu ernsthaft psychisch Kranken. Für Muriel scheint dasselbe zu gelten. Fast alle Suizide geschehen in psychischen Ausnahmesituationen. Das geht soweit, dass eine Existenz von tatsächlichen „Bilanzsuiziden“ ohne psychiatrische Erkrankung von vielen Autoren
    verneint wird – eine Meinung, der ich mich so nicht hundertprozentig anschließen würde, wobei das ein schwieriges, komplexes Thema ist. Die allermeisten Suizide und -versuche fallen aber sowieso nicht in diesen Bereich sondern geschehen „ganz banal“ im Rahmen psychischer Krankheiten, die im großen und ganzen doch gut behandelt werden können, besser als die meisten Leute ohne näheren Kontakt zu dem Fach denken würden.

    Und jetzt kann es sich eigentlich nur noch um Minuten bis Stunden handeln, bis der erste „psychiatriekritische“ Kommentator hier auftaucht.

  9. Ich stehe sehr für ein Recht auf Suizid ein, aber ich kann auch aus eigener Erfahrung sagen, wie einem die Hirnchemie einen Streich spielen kann – einen bösen Streich, der einen zu Selbstmordgedanken treibt, obwohl kein Problem (bis eben auf diese Hirnchemie) vorliegt.

    Der Werther-Effekt ist nachgewiesen.
    Ebenso ist nachgewiesen, dass viele verhinderte Suizidversuche NICHT wiederholt werden.

    Menschen begehen Suizid auch in nur scheinbaren Ausnahmesituationen. Es ist keinesfalls immer die letzte, würdevolle Lösung ist, die es sein sollte.

    Oder anders ausgedrückt: wenn euer bester Freund vor Wut schäumt und die Fäuste schon gehoben hat – sagt ihr ihm dann wie toll man sich fühlt, nachdem man einen Gegner zusammengeschlagen hat? oder wie mannhaft und ehrenhaft ein Faustkampf ist?

    Aus diesen Gründen teile ich die Meinung des Autors.

    @Ekkehard #7
    Tatsächlich ist es fraglich, ob geltungssüchtigen Egomanen ihr Wunsch nach „Ruhm“ erfüllt werden sollte. (Ich habe den Bericht nicht gesehen, gehe aber davon aus, dass auch Raser gezeigt wurden bzw. zu Wort kamen ). Ähnliche Gedanken werden ja auch im Zusammenhang mit Amokläufen und Terrorismus geäußert.
    Es kann über alles berichtet werden, das bedeutet aber nicht, dass es automatisch in aller Ausführlichkeit und mit Fotos geschehen muss .

    @Inga
    mein tiefes Beileid.

  10. @9 Earonn,
    „Aus diesen Gründen teile ich die Meinung des Autors.“
    Keine Frage, dass diese Gründe nachvollziehbar sind. Aber ein generelles Ausblenden des Themas ist doch ebenfalls nicht hilfreich. Und der hier kritisierte Artikel ist jedenfalls keine reißerische Abarbeitung am Thema.
    Deswegen hätte ich gerne mal gewusst, was Dich im Hinblick auf den Artikel im Tagesspiegel stört?

  11. …ich selbst war vor Jahren beruflich völlig überfordert, wie ich heute weis.
    Angebotene Hilfen habe ich, z.T. aus falschem Stolz, verweigert.
    An das „was wäre wenn“ habe ich viel zu oft gedacht.
    Meine Neugierde hat mich regelmässig gehindert. Und meine Feigheit.
    @INGA:
    Selbstmörderische Todesfälle sind für alle schlimm und oft schwer erträglich.
    Ganz sicher trifft das aber auf beinahe jeden, mindestens ungewöhnlichen/ausserordentlichen Todesfall zu.
    Obwohl keiner Religionsgemeinschaft zugehörig, kann und will ich meine christliche Erziehung nicht verleugnen.
    Deswegen hilft gelegentlich Dietrich Bonhoeffer mit „Von Guten Mächten Wunderbar Geborgen…“ aus.

  12. Nachtrag:
    In den letzten vierzehn Tagen sind zwei Familien, jeweils Eltern mit Kindern, um ihr Leben gebracht worden: Einfach so, weil zur falschen Zeit auf der falschen Autobahnspur.

  13. @JUB68
    Für mich persönlich: diese Mischung aus lieblicher Natur und „Tipps und Tricks“:
    „Er entdeckt am Nordhafen eine kleine Bank unter der Fennbrücke, auf der er probesitzt, die aus technischen Gründen jedoch nicht ideal erscheint. Eine Brache am Friedrich-Krause-Ufer verwirft er ebenfalls, weil auch hier Menschen in der Nähe sein könnten.“

    Der Artikel ist sicherlich nicht das schlimmste Beispiel dieser Art. Er hätte aber auch nicht gelitten, wenn man nur die Gegend beschrieben hätte.

    Disclaimer: ich hatte eine Depression, und ich weiß wie das ist, wenn man seelenruhig, emotionslos, ganz sachlich über die Methodik des eigenen Selbstmords nachdenkend vorfindet, ganz so, wie man sonst seine Einkaufsliste zusammenstellt.
    Vielleicht macht mich das übersensibel, oder vielleicht kann ich dadurch besser den Unterschied zwischen der Sicht eines Gesunden und eines Depressiven auf so einen Artikel beurteilen – soweit wir Laien das überhaupt können.

    Jemand mit professioneller Erfahrung unter uns?

  14. @13 Earonn
    Sorry, ich hätte nicht mit persönlicher Betroffenheit in den Erfahrungswerten gerechnet, da entsteht ein anderer Blickwinkel auf derartige Passagen, eine „Tipps und Tricks“-Komponente muss man in dieser Formulierung erst mal entdecken, ist aber nachvollziehbar, wenn man versucht in die Haut des Betroffenen zu schlüpfen.
    Nur liegt auch eine gewisse elegische Stimmung in diesen Zeilen, die sicher mit der Absicht geschrieben wurden, zu berühren, aber von der Intention her nicht mit dem Effekt „Tipps und Tricks“.
    Sie können diesen Effekt aber erzeugen, das ist mir jetzt klarer geworden.

  15. @JUB68
    alles okay, bei mir war es glücklicherweise nur eine stressbedingte Episode, die seit Jahren vorbei ist.
    Ich spreche gerade deswegen heute offen darüber, weil viele sich (glücklicherweise) gar nicht vorstellen können, wie sowas ist, und weil darüber zu sprechen für mich keinerlei Belastung darstellt. Nachteil ist natürlich, dass ich nur anekdotisches Wissen besitze.

    Danke für dein Bemühen um Verstehen.

  16. Gibt es nur ein Recht zum Leben und kein Recht zum Sterben?

    Ängstlich umgehen wir das Thema, schweigen es tot und mahnen sofort, wenn es irgendwo erscheint, ob es auch richtig besprochen wird. Der Rahmen der Tabuisierung von Sterben ist groß.

    Es ist den meisten offensichtlich lieber, dass Zehntausende vor sich hinleiden, alt, siech, schwerstkrank, psychisch überfordert.

    Wen das Leben erdrückt, der darf nicht gehen? Jeder Suizid ist Verzweiflung ob des Lebens, das unerträglich geworden ist. Es ist die Frage der Zurückbleibenden, ob sie etwas verändern hätten können.

    Schreiben wir Artikel in dem Sinn, dass Sterbehilfe und Sterbebegleitung in diesem Land optimiert werden. Holen wir die Suizidalen aus dem falschen Mitleid, was unsere letztliche Gleichgültigkeit verdeckt. Geben wir den Menschen die Freiheit auf ein Leben und einen Tod. Und werden wir ehrlich, denn „Leben wäre eine prima Alternative“, wie Maxi Wander, todkrank, ihr Buch nannte.
    Wer das Leben nicht mehr leben mag, soll gehen können. Wir müssen uns nur überlegen, ob wir genügend Alternativen aufbauen können, ihm eine echte Wahl zu geben.
    Den Hinweis mit Beratungsstellen unter jeden Artikel finde ich gut.

  17. Ergänzung:

    Ich habe zwei Suizidversuche intensiv begleitet. Beide aus Ohnmacht dem Leben gegenüber, beide gescheitert.

    Eine – eine Transsexuelle – hat sich ähnlich wie im Artikel mit ihrem Tod beschäftigt. Ein sehr narzistisches Unterfangen, ein Versuch, dem Leben im Tod eine große Bedeutung zu geben. Eine Inszenierung. Bis ins kleinste Detail.

    In dem Fall brauchte es 4 Monate Zeit. Sich Zeit nehmen zu sprechen, es ernst zu nehmen, die Freiheit zum Tod annehmen. Alle Wege offen halten. Es hat geklappt – praktisch in letzter Sekunde. Es war ein Lebenskrimi – und jeder, der hier Suizide verhindern will oder das Thema am besten nicht öffentlich „featuren“ will, sollte sich überlegen, ob er bereit wäre, diese Zeit zu „investieren“. Wenn nicht, lasst sie sterben und schweiget.

  18. Boah, Kasimir, ich könnte echt kotzen, wenn ich so etwas lese! Es wurde hier schon mehrfach geschrieben: Psychisch kranke Menschen KÖNNEN nicht beurteilen, ob das Leben noch einen Sinn hat oder nicht! Das ist TEIL der KRANKHEIT! Da ist absolut NICHTS dran selbstbestimmt, das ist krankheitsbestimmt und sonst gar nichts. Dabei lassen sich gerade Depressionen heute sehr gut behandeln. Earonn z.B. beschreibt hier, wie sie in einer depressiven Episode ernsthaft an Suizid gedacht hat. Wenn da der entsprechende Impuls gekommen wäre, gäbe es sie vielleicht nicht mehr. Frag sie doch, ob sie heute der Meinung ist, dass sie in dieser Zeit in der Lage war, die Konsequenzen korrekt zu beurteilen.
    Es geht auch nicht darum, das Thema totzuschweigen. Wir reden hier gerade drüber! Es geht darum, es nicht so zu bearbeiten, dass Menschen in Grenzsituationen Impulse bekommen, sich umzubringen. Und solche Sprüche wie „es ist besser so für sie“ habe ich übrigens bei meiner Freundin damals auch zu hören bekommen (kotz). Das ist einfach nur feige und der Versuch, die eigenen Schuldgefühle zu verdrängen. Denn „sie wollte es so“. Pustekuchen. Sie wollte glücklich leben und weil ihre Hirnchemie ihr vorgaukelte, das sei unmöglich, ist sie einen vollkommen sinnlosen Tod gestorben.

  19. Inga, ich gehe davon aus, dass du immer noch verletzt bist…
    „Jede einzelne „Zahl“ ist ein Schicksal, das höchstwahrscheinlich verhindert hätte werden können, “ sagst du oben. Warum ist der Tod deiner Freundin nicht verhindert worden? Wem hilfst du noch oder ist dein Aufschrei nur Ausdruck einer inaktiven Ohnmacht? Wieviele „Impulse“ gibt es, die einen Suizid unterstützen könnten und die wir ausmerzen müssen? Bei uns gibt es einen Suizidhotspot in der Nähe – nahe bei der großen Landespsychiatrie, an einer Stelle, wo die Bahn fährt, ein Flüsschen fließt. Regelmäßig wird der Zugverkehr für 3 Stunden blockiert, weil wieder mal… Dort wollte auch mein Fall, obwohl sie nie im PLK war. Jeder kennt diese gemütliche Stelle. So what.

    Die Tochter meiner Bekannten machte in den 80igern mit ihrem Freund zusammen Suizid – im Gefolge einiger Jugendlicher. 16 Jahre alt – weil sie meinten, besser als in diesem Moment des Glücks könnte es nicht mehr werden. War ein kleiner Hype damals.

    Ich finde, die Diskussion bleibt oberflächlich. Bloß nicht öffentlich machen, bloß nichts anfassen, es bewegt sich sonst.
    Der andere Weg, den ich gegangen bin, offensiv alles bei meinen 2 Fällen ansprechen, eine Freundin zwangsweise einliefern und beim anderen Fall in der Endphase der Entschlussfassung täglich bereit sein als Ansprechpartner – manchmal 4 Stunden, das ist das Verhindern, was den meisten zu viel ist. Lieber einen Artikel canceln.
    Wenn es nach mir ginge, würde der Suizid lärmend öffentlich gemacht werden, offene Suizid-Zentren, Info, Filme, Angebote – raus aus dem Dunkel. der Scham, der Lüge. Krankheit offensiv und kollektiv leben, darüber reden. Aus der inneren Isolation raus. Der Verzweiflung eine Hoffnung geben und vor allem reden reden reden. Merken, man ist nicht allein – vielen vielen Menschen geht es ebenso. Das kann heilen.
    Meine Methode in dem einen Fall war übrigens: Die Freiheit lassen, den Weg in den Tod mit gehen, nicht dagegen halten, nicht widersprechen, aber immer betonen, dass ich wahrnehme, dass sie lieber leben wollte als sterben. Sie hat es durchgezogen bis zum letzten Moment, ist gegangen, sich die Kehle durchzuschneiden, mich mit ihrem ganzen Beerdigungspaket zurückgelassen. 12 Stunden später hat sie angerufen, sie hat es nicht gemacht. Ist dann weggezogen und hatte keinen Kontakt mehr zu der alten Stadt und Szene. War eine Kollegin, keine Freundin. Riskantes Unternehmen – aber man muss unter der Decke der Verzweiflung und Depression zum Lebenswunsch finden. Das macht kaum jemand mit den Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Der Artikel wird in der Tiefe gar nichts bewirken – außer er repräsentiert das Innere des Suizidalen. Und das sucht sich als Impuls alles, was es braucht. Und wird immer etwas finden.

  20. Inga:

    „Psychisch kranke Menschen KÖNNEN nicht beurteilen, ob das Leben noch einen Sinn hat oder nicht! “

    Das allerdings ist eine heiße These, liebe Inga.

    Führt direkt zur Entmündigung. Psychisch kranke Menschen können oft viel besser den Sinn des Lebens erkennen als die sogenannten Normalos, deren Lebenszweck sie nur noch als dissoziierte Personen durchstehen können.
    Wer wirklich krank ist, ist noch die Frage.

  21. @20
    Das ist keine heiße These, das ist Fakt. Was Sie vielleicht meinen, ist eher die Frage, ob im Einzelfall die psychische Erkrankung zu leicht unterstellt wird. Tatsächlich mag es Fälle geben, in denen ein geistig gesunder Mensch diese Option bewusst wählt. Das ist vorstellbar bei einer unheilbaren Krankheit, bei einer nachhaltigen dauerhaften Behinderung, die nicht akzeptiert werden kann (Unfallopfer) und in lebensbedrohlichen, ausweglosen Situationen, in denen der Suizid ein langsames, qualvolles Sterben verhindert. Nur sind diese Konstellationen eher nicht die Mehrheit.
    Und wenn ich lese, was Sie da schreiben, sind Sie ein Mal den konventionellen Weg gegangen, denn die Einweisung in stationäre psychiatrische Behandlung ist die übliche Wahl auch unter den Medizinern, wenn akute Selbstmordgefahr verifiziert wird. Das andere Mal haben Sie ein Risiko gefahren, dass bei gegensätzlichem Ausgang möglicherweise auch Sie in eine ethische Krise gestürzt hätte.
    Der gesellschaftliche Reflex besteht aber immer darin, einen Selbstmord zu verhindern, was letztlich auf der humanistischen Sichtweise beruht, dass das Leben ein hohes Gut ist. Gleichermaßen verhindert dieser Reflex aber auch irreversible Entscheidungen. Man muss sich sicher den Einzelfall ansehen, aber die ideale Lebensbewältigung besteht in der Lösung von Problemen und nicht in der Flucht oder dem Ausweichen vor Problemen. Suizid ist aber das nie die Problemlösung , sondern immer die krasseste Form der zweitgenannten Variante. Es mag im Einzelfall bei objektiv unlösbaren Problemen eine rationale Entscheidung sein, aber wer beurteilt das zutreffend?

  22. …dieses Thema, sprich Selbstmord, ist so emotionsgeladen:
    Wäre ich H.Rosenkranz, würde ich das Forum hier schliessen.
    Mögliche Hilfsangebote hat er ja benannt.
    Ein schönes Wochenende…

  23. Kasimir: Ja nee, is klar. Psychisch Kranke sind die eigentlich Gesunden. Als nächstes kommt die Anti-Psychiatrie-Leier. Ich wünschte, meine Freundin hätte überlebt und würde ihr Leben so führen, wie wir anderen: dissoziiert aber zufrieden.
    Wenn jemand akut selbstgefährdend ist, wird er in der Tat temporär „entmündigt“, d.h. per richterlichen Beschluss unter Beobachtung gestellt. Das ist ein schwerwiegender Eingriff in die Selbstbestimmung, richtig, aber es rettet Leben.

  24. @Kasimir: Ihren Kommentar unter #19 hatte ich ja noch gar nicht gelesen. Wow. Geht es eigentlich noch? Ich finde das alles unglaublich anmaßend und narzisstisch, was Sie schreiben.
    Ich kann Ihnen sagen, was ich mache, wenn ich merke, dass freundschaftliche Unterstützung nicht mehr weiterhilft: Ich biete Begleitung zu Fachleuten an. Ich suche Nummern raus, ich erkundige mich nach professionellen Hilfsangeboten oder nach Selbsthilfegruppen. Ich weiß nämlich auch, wo meine Grenzen sind.

  25. Schön wär’s mit der Einweisung oder Entmündigung.

    Meine Freundin hatte sich zu wenig geritzt in dieser Nacht, war nicht lebensgefährlich verletzt und der Arzt verweigerte die Notaufnahme, weil sie ihre Absichten gezielt verleugnete. Obwohl wir 3 Personen waren, die bezeugten, dass wir ihre Absichten kennen, sie hierher zur Einweisung gebracht hatten und vorher der ärztliche Notfalldienst bei ihr zu Hause war.
    Er sagte, sie könnte ja, wenn sie wollte, am nächsten Morgen freiwillig in der Ambulanz erscheinen. Dann überließ er sie ihrem Schicksal.

    Also erzähl mir nix. Ich kenne viele Gefährdete, die zudem stark Drogen/medikamentenabhängig sind, da läuft nichts über Einweisung. Alles freiwillig. Wer wesentlich schneller und stärker entmündigt wird, sind im Moment die Alten.

  26. Inga, Sie könnten ja auf die Idee kommen, ich kann was und nachfragen?

    Ich habe 10 Jahre Beratungsarbeit gemacht, war in der Selbsthilfegruppe aktiv und habe mich in diesem Fall mit einer Supervisionsgruppe rückgekoppelt.

    Und diese Transsexuelle ist eben nicht zu Fachleuten gegangen. Sie hat sich geweigert – wie viele, die danach allein Suizid begehen.

    Und genau die sind doch das Problem, denke ich? Sie scheinen nicht viel Erfahrung zu haben. Die meisten Menschen verweigern sich der Hilfe besonders der Psychologen.

  27. Ja, das Internet ist natürlich geduldig. Aber wenn ich mir Ihre Phantasien zu Suizidzentren so durchlese, hoffe ich sehr schwer, dass Sie nicht in der Beratung aktiv sind. Gruselig.

  28. @25,26
    Wenn Sie mal in die Statistikpublikation der Deutschen Rentenversicherung schauen, werden Sie feststellen, dass in 2015 über 40% aller Renten wegen Erwerbsminderung wegen psychischer Störungen geleistet wurden, und die deutsche Rentenversicherung zahlt nicht gerade bereitwillig solche Renten, da liegen schwerwiegende Störungen vor. Seit Jahren schon belegen psychische Störungen die Nummer Eins der sogenannten „EU-Renten“. Ihre Behauptung, dass sich die meisten Menschen der psychologischen Behandlung verweigern, stammt da wohl aus einem wenig representativen Umfeld. Ferner lässt Ihre Aussage, dass sich die meisten Menschen (nach Ihrer Wahrnehmung) der psychologisch/psychiatrischen Behandlung verweigern, folgende Schlussfolgerung zu:
    Ihre Beratungsarbeit war nicht professionell und auch nicht effektiv, sonst hätten Sie die „meisten Menschen“ zur psychologischen Behandlung überzeugt.

  29. @27 Inga
    Professionelle Beratung basiert im wesentlichen auf vier Funktionen.
    Eine der Funktionen des Beraters ist die Rolle des Gatekeepers, der Zugänge öffnet (oder manchmal blockiert). Diese Rolle kann der Berater nur erfüllen, wenn er entweder selbst geschaffene Netzwerke aktiviert oder aber Institutionen anlaufen kann, die dazu in der Lage sind. Der „Weiße Ring“ hat vor Jahren schon für psychisch gefährdete Opfer ein Modell geschaffen, wonach Psychologen spätestens innerhalb von 48 Stunden nach Kontaktaufnahme im häuslichen Bereich des Betroffenen präsent waren. Aufbauend auf diesem Modell haben andere Beratungstellen (staatliche und private) entsprechende Netzwerke entwickelt, z.B. die professionelle psychologische Akutintervention.
    Suchtberatungstellen beschäftigen regelmäßig Psychologen, die auch in den häuslichen Bereich des Patienten gehen und gezielt auf potentielle Suizidgefährdung schaut, professionelle Beratung lässt sich nicht in der Notaufnahme von einem A.i.P. abwimmeln. Sie schaltet eigene Fachleute ein oder hat zumindest Zugang zu Institutionen, die Fachleute einschalten können.
    Von diesen grundsätzlichen Kenntnissen der Beratung oder akademischer gesprochen, vom Case Managment hat Kasimir offensichtlich keinen Schimmer.

  30. @JUB: Ja, ich denke wir sind da schon sehr gut aufgestellt in Deutschland, was die Versorgung bei psychischen Erkrankungen angeht. Womit Kasimir recht hat, ist, dass die Vorbehalte, auch aus dem Kreis der Angehörigen, häufig noch sehr hoch ist und daher oft zu spät Hilfe angenommen wird. Bei einem Bekannten habe ich leider miterleben müssen, dass irgendwann tatsächlich ein Beschluss erfolgt ist und er von der Polizei in die Klinik verbracht wurde. Dort wurde ihm dann zwar geholfen, und er steht nun seit Jahren wieder mit beiden Beinen solide im Leben, aber es wäre sicher besser gewesen, wenn er selbst rechtzeitig Hilfe gesucht und seine Eltern ihm das nicht massiv ausgeredet hätten.

  31. @30 Inga
    In erster Linie wollte ich nur etwas faktenbezogener Deine Kommentare unterfüttern, da Du hier (verständlicherweise) etwas emotionsgeladen reagiert hast.
    Ich wollte gar nicht sagen, dass wir in Deutschland gut aufgestellt sind, ich finde auch nicht, dass das stimmt. Fachlich verfügen wir über gute bis sehr gute Behandlungsmöglichkeiten, organisatorisch hapert es an allen Ecken und Enden. Bei Deinem Bekannten hätten die Eltern als „Kontextfaktor“ erkannt werden müssen und hätten ebenso in die Beratung einbezogen werden müssen. Da die Geschichte schon eine Weile zurückliegt, war dass möglicherweise nicht bekannt. Mittlerweile ist die Notwendigkeit der engen Einbindung von Angehörigen, die als Bezugspersonen fungieren längst theoretisch belegt, findet in der Praxis aber nicht statt. Außerdem ist die Gesetzliche Krankenbersicherung, über die nun mal die meisten Fälle laufen zu schwerfällig. Seit 2001 haben wir das neunte Sozialgesetzbuch. Das verpflichtet beispielsweise die Rehabiltatiomsträger zur Schaffung gemeinsamer Servicestellen, die der Beratung Erkrankter dienen sollen. Hier sollte bei komplexeren Fällen (und psychische Erkrankungen mit potentieller Suizidgefährdung gehören dazu) Beratung und Hilfsangebote erfolgen. Eine stationäre psychologische Behandlung kann je nach Fallkonstellation in die Zuständigkeit der Krankenkasse oder der Rentenversicherung fallen. Der Betroffene, Familie usw. kann oft nicht wissen, wer zuständig ist und wer ihm helfen kann, einfach nur einen schnelleren Termin zu bekommen, im einer Einrichtung, die für seine psychische Erkrankung spezialisiert ist, die ungenaue Diagnosen, gerade auf psychiatrischen Fachgebiet verifiziert usw. Das geht weiter in richtig banale Dinge, wie die Frage, wie der Patient überhaupt in die ggfs. weit entfernte Einrichtung kommt, wenn er selbst nicht fahren kann, niemanden hat, der ihn fährt und auch öffentliche Verkehrsmittel nicht nutzen kann. Wer organisiert ihm das? Wer bezahlt das, wenn er dazu nicht in der Lage ist. Diese gemeinsamen Servicestellen sollen hier helfen und in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt vorhanden sein (23 SGB IX). Gib mal Deine PLZ unter „Reha-Servicestellen.de“ ein. Wahrscheinlich findest Du eine Vielzahl von Anschriften diverser SVK-Träger, vor allem der Rentenversicherung, aber auch der Kassen. Dann frag dort mal nach der Servicestelle gemäß Paragraph 23 SGB IX.
    Frag nach einem geeigneten Verhaltenstherapeuten für eine posttraumatische Belastungsstörung, der im Deiner Nähe praktiziert und Dir nächste Woche den dringend benötigten Termin gibt. Frag mal, wie Du dahin kommst, wenn Du kein Auto hast und knapp bei Kasse bist.
    Frag mal, was während Deiner langen stationären Behandlung mit Deiner alten Mutter wird, deren Pflege Du trotz psychischer Erkrankung zumindest anteilig sichergestellt hast. Ich fürchte, da wird wenig kompetente Hilfe kommen.
    Wir sind so gut aufgestellt, dass es auch Antworten für diese Fragen gibt, es gibt Krankentransporte auch für psychisch Kranke, der Mediziner traut sich nicht diese zu verordnen, weil er Einkommensgrenzen nicht kennt, weil er keine Zeit hat, sich mit dem Kostenträger auseinander zu setzen, es gibt Verhinderungspflege, die Anträge sind aber für jemanden, der selbst psychisch angegriffen ist, ohne Hilfe kaum zu bewerkstelligen usw.
    Das sind eher reale Probleme, die lösbar sind, aber vom Erkrankten nicht gelöst werden können, dann ist die Familie überfordert oder sabotiert schlimmstenfalls sogar notwendige Behandlung.
    Hier fehlt es dann leider an Hilfe von außen, die mit entsprechender Sachkenntnis angeboten wird.
    Die Rechtsgrundlagen sind da. Die Bemühungen teilweise auch, aber gut aufgestellt ist anders.

  32. @JUB: Vielen Dank für die Ausführungen.
    Im Fall meines Bekannten hatten sich die Eltern schon geweigert, ihren Sohn mit mir zu einer niederschwelligen Suizidprävention gehen zu lassen, als er noch einigermaßen selbst handlungsfähig war. Begründung: er müsse „das selbst auf die Reihe bekommen“.
    Ich will hier nichts schön reden, aber wenn ich mir z.B. ansehe, wie viele offensichtlich psychisch Kranke in Großstädten der USA verarmt auf der Straße leben, dann läuft hier definitiv vieles besser. (Das war jetzt zugegebener Maßen sehr plakativ. Mir ist bekannt, dass das Thema sehr komplex ist).
    P.S.: Du wirst nicht emotional, wenn jemand öffentliche „Suizidzentren“ fordert?

  33. @32 Inga
    Doch, sicher. Nur die Art wie man seine Emotionen in eine Debatte einbringt, ist immer unterschiedlich und ich versuche regelmäßig Diskussionen sachlich zu führen, gerade wenn ich emotional beteiligt bin, ist mir um so wichtiger, die Debatte zu versachlichen. Du hast Dich über diese Forderung geärgert, bei mir hat sie eher ein Kopfschütteln ausgelöst. Mich hat es eher angefressen, dass man die Möglichkeit nicht ausschließen kann, dass (zwar engagierte) Amateure ( zweifellos auch mit guten Absichten) womöglich wirklich in der Beratung psychisch Kranker mit Suizidgefährdung herumpfuschen.
    Ich habe aber regelmäßig persönlichen Umgang mit schwerverletzten Menschen, wo häufig eine psychologische Komponente zur körperlichen Versehrtheit hinzukommt und in einigen Fällen auch eine Suizidgefährdung. Darunter sind auch Menschen, die ausschließlich psychisch geschädigt wurden, da man (auch sehr verzögert) in Deutschland auch begriffen hat, dass seelische Traumatisierung ebenso nach Wiederherstellung verlangt, wie die körperliche.
    Solche Kontakte konditionieren einen selbst, was den Umgang mit den eigenen Emotionen angeht. Deswegen werde ich selten wütend.
    Und der USA-Vergleich ist nicht nur plakativ, sondern auch interessant, denn witzigerweise basieren viele gute Sachen, die unsere Psychologie leistet, z.B. beim Thema posttraumatische Belastungsstörung, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen us-amerikanischer Forscher.

  34. Nachtrag zu 33:
    Ich werde selten wütend, war unsauber formuliert, ich gebe meinem Zorn nur selten nach, und wenn, dann ohne Publikum oder nur mit sehr vertrautem Publikum :-)

  35. Ja, in den USA gibt es herausragende Forschung zum Thema. Und für Menschen, die Zugang dazu haben (sprich: Geld und Bildung) ist das auch toll. Aber wenn Krankenversicherung individualisiert wird, so wie in den USA, dann hat man zwar noch in jedem kleinen Stehcafe eine barrierefreie Toilette, aber Menschen mit körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigungen landen halt auch mal auf der Straße (ja, gibt es bei uns – leider – auch. Aber nicht in diesem Ausmaß).

  36. Danke für diesen Artikel!
    Was mich bei diesem Thema gedanklich umtreibt ist die Frage, wie eigentlich suizidale Terrorakte und iher mediale „Verarbeitung“ unter dem Aspekt dieses Artikels zu betrachten sind.

  37. #Team Kasimir
    Warum sollte ich mir von einer schnappatmenden Inga paternalistisch erklären lassen ich wäre unmündig wenn ich meinen Leben selbstbestimmt beenden möchte?

  38. Ich verstehe, dass die Frage kontrovers diskutiert wird und viele Menschen sich stark angesprochen fühlen. Neben (berechtigten) subjektiven Empfindungen und Haltungen, gibt es aber auch Forschung zu dem Thema. Ich lebe zur Zeit in Australien, in einem Land mit dramatisch hoher Suizidrate, aber auch einem starken systematischen Ansatz zur Suizidprävention. Dazu gehört, dass über Suizide in den Medien nur sehr, sehr zurückhaltend berichtet wird. Ich lebe unweit einer sehr „schönen Stelle“, die so schön ist, dass sich nirgendwo sonst in Australien mehr Menschen suizidieren. Immer wenn über diesen Ort in Verbindung mit Suizid berichtet wird, gehen die Zahlen der Suizidversuche hier nach oben.

    Unabhängig von diesem einzelnen Phänomen, empfehle ich ‚Mindframe‘, eine nationale Medieninitiative zur Berichterstattung über Suidzide (www.mindframe-media.info). Eine Ressourcebook zur Berichterstattung gibt es hier: http://www.mindframe-media.info/for-media/reporting-suicide?a=10217
    Der Tagesspiegelbericht entspricht diesen Empfehlungen so überhaupt nicht.

    Zwei Aspekte daraus:
    Es gibt Belege für die Steigerung von Anreizen zum Suizid, wenn über den Ort berichtet wird (Quellen hier unter Punkt 31, http://www.mindframe-media.info/__data/assets/pdf_file/0011/10019/MF-Media-References.pdf).

    Außerdem wird empfohlen, bei jeder Medienberichterstattung (Print, online, Radio, TV) auch immer Informationen dazu zu ergänzen, wo Betroffene (jemand, der selbst an Suizid denkt oder jemand, der sich um eine andere Person sorgt oder jemanden verloren hat) Hilfe erhalten kann. Nach meiner Erfahrungen wird das hierzulande so gut wie immer umgesetzt.
    Meist wird Lifeline http://www.lifeline.org.au genannt, je nach Zielpublikum dann zum Beispiel noch Mensline http://www.mensline.org.au oder Kids Helpline http://www.kidshelpline.org.au hinzu kommen.

    Warum die Medien in Deutschland gerade den letzten Punkt, wie auch von Boris Rosenkranz angesprochen, nicht umsetzen, obwohl es Hinweise auf die Wirksamkeit gibt, verstehe ich aus der Perspektive vom anderen Ende der Welt nicht.

  39. @Tom: Gerade den letzten Punkt setzen die meisten Medien in Deutschland inzwischen um, sogar „Bild“. Umso erstaunlicher ist es, dass der „Tagesspiegel“ darauf verzichtete.

  40. JUB 68
    31. Juli 2016 um 0:26

    Du überschätzt dich. Wenn du „akademisch gesprochen von Casemanagement“ redest und mich keiner Ahnung bezichtigst, bist du auf der falschen Spur. Ich war privat mit meiner Freundin in der Psychiatrie und professionell bin ich genau mit diesen Netzwerken und Fallmanagment im pädagogisch-psychologischen Bereich involviert, die du zum Teil beschrieben hast. Diese Netzwerke funktionieren nur partiell. In Deutschland funktioniert gerade Vernetzung schlecht und führt zu verheerenden Ausfällen in der Behandlung und Begleitung von Menschen mit unterschiedlichsten Problemen. Du hast vielleicht darüber gelesen, aber in der praktischen Umsetzung warst du nicht, zumindest was diesen konkreten Beitrag angeht. Deine arrogante Oberlehrerart schlägt denen ins Gesicht, die in diesen real nicht existierenden Netzwerken untergegangen sind.
    Aber das will ich nicht weiter ausführen. Ihr habt euch auf eurem Level gegenseitiger Bestätigung gefunden, damit soll es gut sein.

  41. @Horst: Wenn Sie das selbstbestimmt tun, bitte (wenn ich es auch nicht gut heiße, seinen Angehörigen das anzutun). Ich bestreite aber, dass Depressive in einer akuten depressiven Episode frei entscheiden können. Sie schätzen ihre Lage als negativer ein, als sie objektiv ist, sonst wären sie ja nicht depressiv. Und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ist eben nicht frei, dafür aber möglicherweise tödlich und unumkehrbar.

  42. @Kasimir #40
    „…heiße These, liebe Inga“ oder „…lässt sie sterben und schweigt“ (vom Einzigen, der sich irgendwie richtig reinhängt und deshalb auch als Einziger das Recht zu reden), also mit Vorwürfen von oberlehrerhafter Arroganz sollte man sich zurückhalten, wenn man selbst eine derartige Diskussionskultur pflegt.
    Auch sonst scheinen Sie nicht richtig zu lesen, denn paradoxerweise, habe ich unter Nummer 30 ausgeführt, dass eben entsprechende Netzwerke nicht so funktionieren, wie Sie funktionieren sollten. Nichts anderes, als was Sie ebenfalls behaupten.
    Wenn Sie, wie in Ihrer Geschichte dargestellt, drei Zeugen für die Selbstmordabsichten ihrer Freundin gehabt haben, hätten Sie am nächsten Werktag nach dem Desaster in der Notaufnahme eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten gehabt, unter anderem die Kontaktaufnahme zur Krankenversicherung ihrer Freundin. Auch wenn da nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese möglicherweise nicht sofort ein offenes Ohr gehabt hätte, wäre unter Himweis auf deren rechtliche Verplichtungen und unter dem speziellen Hinweis, dass Zeugen in jedem Bereich der Sozialversicherung ein Beweismittel darstellen (21 SGB X). Spätestens bei dieser Ansage, hätte ein MA der Kasse kalte Füße bekommen, einer Einforderung der Auskunfts und Beratungspflicht nicht nachzukommen.
    Das Netzwerke in Ihrer Beratung real nicht existieren, liegt womöglich daran, dass Sie versäumt haben, welche aufzubauen, was ebenfalls zu den Aufgaben im Casemanagement gehört. Wenn meine Ausführungen überhaupt einen Schlag in irgendein Gesicht darstellen, dann wohl kaum in das der Opfer, sondern eher in das schlechter Berater. Ansonsten können Sie auch nicht einschätzen, wer sich überschätzt. Tatsächlich können Sie einwenden, dass Sie unterschätzt werden, allerdings hat mich Ihr Beitrag unter #40 nicht überzeugen können, dass es so ist.

  43. Normalerweise sehe ich das so, dass dem Menschen die Wahrheit zuzumuten ist, im konkreten Fall, wegen der Kombi aus psychisch kranken Menschen und potentiell tödlichem Ausgang, finde ich aber schon, dass mehr Zurückhaltung angemessen wäre.
    Und das bedeutet nicht: „Wegsehen und schweigen!“, denn gerade, wenn die Suizidprevention in D. eher suboptimal läuft, sollte man dem Werther-Effekt nicht anfeuern.

    Ganz anderes Beispiel: wenn an einem bestimmten Strand zu wenig Rettungsschwimmer sind, obwohl es da starke Strömungen gibt, schwärmt man ja auch nicht davon, wie flach und nichtschwimmerfreundlich das Wasser da ist.

  44. @Horst #30
    Leider gibt es diejenigen, die diese Entscheidung bewusst treffen können, und jene, die es nicht können.
    Und das Problem besteht halt darin ,zwischen beiden zu unterscheiden.
    Würden Sie denn wollen, dass auf die Absichtserklärung, sich das Leben zu nehmen, die Leute nur „jau, denn mach mal“ antworten – ohne zu prüfen, ob vielleicht eine andere Ursache vorliegt?

    Nicht falsch verstehen – ich unterstütze die Möglichkeit für z.B. Schwerkranke, das selbst zu entscheiden.
    Ich kann aber auch nicht ignorieren, wie leicht es für mich gewesen wäre. Und ich hatte noch das Glück eines fürsorglichen Umfelds und einer guten Klinik, in die ich aber nur gekommen bin, weil ich in ihrem Einzugsgebiet wohnte.

    Was mich jedoch freut ist, DASS wir hier so darüber diskutieren. Ja, mit harten Bandagen. Aber wenigstens kümmern sich hier alle Beteiligten um ihre Ansichten. Gleichgültigkeit wäre viel erschreckender.

  45. @Earonn

    Und was genau befähigt dich oder Inga darüber objektiv zu entscheiden ob eine Person ihre Entscheidung bewusst trifft oder nicht, wer hat euch oder andere dazu ermächtigt über anderer Menschen Entscheidungen und Verfassung zu urteilen und mal kurz vom Schreibtisch aus zu entmündigen?
    Anmaßung galore

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