Russlands Krieg gegen die Ukraine

Sprechen wie der Kreml? Die spezielle Berichterstattung der „Berliner Zeitung“

Am 18. März jährt sich zum achten Mal die gewaltsame Einverleibung der Krim durch Russland. Viele Beobachter sehen diese Annexion als eine Art Startpunkt des jetzigen russischen Kriegskurses, und man kann daher davon ausgehen, dass die Berichterstattung zum Jahrestag umfangreich sein wird.

2021 hielt sich die Aufmerksamkeit noch in Grenzen. Eine Ausnahme machte damals die „Berliner Zeitung“, die für den Anlass als Autor Sergej Jurjewitsch Netschajew rekrutierte, den russischen Botschafter in Berlin. Der Diplomat, der 2021 für die Zeitung ingesamt zwei „Gastbeiträge“ und einen „Gastkommentar“ verfasst hat, blickte in seinem Text auf den Tag der „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“ zurück. „2014 machten die Menschen auf der Halbinsel vom in der UN-Satzung verankerten Selbstbestimmungsrecht Gebrauch“, juchzte er. Die Formulierung „Wiedervereinigung“ greift auch die Redaktion für den Vorspann auf – ohne Anführungszeichen.

Von „putinfreundlicher Berichterstattung“ sprach daraufhin das konservative Monatsmagazin „Cicero“ – und spottete: „Ist die ‚Berliner Zeitung‘ das Sprachrohr des Kreml?“ Die Frage (die damals ein bisschen ungerecht war, weil am selben Tag auch der ukrainische Botschafter für die „Berliner Zeitung“ über das Thema schreiben durfte) hat auch rund ein Jahr danach nicht an Aktualität verloren.

Kreml-Sprache

Als Russland einen Tag vor dem Einmarsch in der Ukraine der internationalen Öffentlichkeit einen Vorwand dafür präsentierte, veröffentlicht die „Berliner Zeitung“ einen Artikel, der mit der indirekten Wiedergabe eines Zitates des Kreml-Sprechers Dimitri Peskow einsteigt: „Die Leiter der Volksrepubliken Donezk und Lugansk (DVR und LVR), Denis Puschilin und Leonid Pasechnik, habe[n] den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Hilfe bei der Abwehr der Aggression der ukrainischen Streitkräfte gebeten.“ Distanzierende Adjektive vor „Volksrepubliken“ (etwa „sogenannte“, oder „selbsternannte“) fehlen ebenso wie Anführungszeichen bei der Formulierung „Aggression der ukrainischen Streitkräfte“.

Über den angeblichen „Hilferuf“ berichteten natürlich auch andere Medien, aber die „Berliner Zeitung“ fiel an jenem Tag dadurch auf, dass ungefähr die Hälfte des 3.500 Zeichen langen Textes zum Thema von Äußerungen des Kreml-Sprechers Peskow dominiert war. „Die Staatsoberhäupter dieser Republiken sprechen dem russischen Präsidenten im Namen ihrer selbst und ihrer Völker ihre Dankbarkeit für die Anerkennung ihrer Staaten aus. Ihre Appelle betonen, dass die Bürger der Republiken angesichts der sich verschlechternden Situation und der Drohungen aus Kiew derzeit gezwungen sind, aus ihren Häusern zu fliehen, und ihre Evakuierung nach Russland im Gange ist“ – so lautet zum Beispiel ein Zitat von ihm, das hier stellvertretend für die sprachliche Qualität des Artikels stehen kann.

So gesehen, ist die Russland-Berichterstattung der „Berliner Zeitung“ nicht nur deshalb problematisch, weil man dort den Botschafter eines autokratisch regierten Staates für einen legitimen Gastautor hält, sondern weil der Sound in manchen redaktionellen Artikeln ähnlich offiziös ist wie in den Texten des Diplomaten. Der Branchendienst „Meedia“ sprach nach dem Peskow-Zitat-Festival von „einer bewussten Entscheidung zur Hofberichterstattung“.

Ein wilder Ritt

Michael Maier ist der Herausgeber der „Berliner Zeitung“, außerdem leitet er das Auslandsressort, das dort „Welt & Nationen“ heißt. Wenn man sagte, Russland sei sein großes Steckenpferd, würde man dem Österreicher wohl nicht zu nahe treten. In seinem 2016 erschienenen Buch „Das Ende der Behaglichkeit. Wie die modernen Kriege Deutschland und Europa verändern“ übernehme er „immer wieder einseitige Zugänge“, etwa „im Ukraine-Konflikt eins zu eins die Darstellung des Kreml“, schrieb die österreichische Zeitung „Die Presse“ in einer Rezension.

Am 24. Februar, dem Tag des russischen Einmarsches in der Ukraine, hat Maier laut Autorenverzeichnis auf der Website der „Berliner Zeitung“ allein zehn Texte zu diesem Thema verfasst. Auch der Peskow-lastige Artikel stammt demnach von ihm. Maier ist also nicht nur ein Herausgeber, der ein Ressort leitet – was an sich schon eine ungewöhnliche Kombination ist in der Zeitungswelt. Er ist sich auch nicht zu fein, in der Galeere zum Ruder zu greifen.

Auf den Vorwurf der „Hofberichterstattung“ angesprochen, nennt Maier als ein Gegenbeispiel einen seiner Leitartikel; er ist am fünften Kriegstag erschienen. Die Überschrift lautet: „Er fährt zur Hölle: Putins letzter Aufritt auf der Weltbühne.“ Der Text ist ein wilder Ritt und umfasst ein außerordentliches Spektrum: Verblasene Leitartikel-Metaphorik aus der Theo-Sommer-Schule („Der Angriff Russlands auf die Ukraine markiert den Beginn einer tektonischen Verschiebung der geopolitischen Realitäten“). Exkurse ins Querdenkerische („Die Aushöhlung der Grundrechte, die seit den Terror-Jahren schleichend immer weiter geht, deutet in eine merkwürdige Richtung: Kann es sein, dass wir von China lernen und nicht umgekehrt?“). Schließlich die feurig formulierte Hoffnung, mittelfristig werde sich „die Jugend der Welt gegen die Despoten erheben“ – was sich allerdings nicht nur auf jene in Russland bezieht, sondern auf sämtliche Repräsentanten des „globalen Unterdrückungsregimes“. Mittendrin findet Maier übrigens durchaus warme Worte für einen Teil des russischen „Hofes“, wenn man so will: Außenminister Sergej Lawrow habe „einen hypernervösen Zaren offenkundig nicht mehr von einem wahnwitzigen Plan abhalten“ können, schreibt er.

Gegenstimmen

„Wenn Sie die Website durchsuchen, werden Sie Dutzende sehr, sehr harte Kommentare finden“, sagt Maier. Das stimmt. Zwei Beiträge seiner Ressortleiterkolleg*innen, am Tag der Invasion erschienen, sind gute Beispiele dafür. Christine Dankbar, verantwortlich für das Ressort „Politik und Gesellschaft“, schreibt am Tag des Einmarsches: „Wenn das Wort Zivilisationsbruch noch eine Bedeutung hat, dann in diesem Fall.“ Und Feuilletonchef Harry Nutt meint, „dieser Rückfall in die anachronistische Welt der Gewaltpolitik“ sei Ausdruck eines „rechtsradikalen russischen Nationalismus, den der dubiose Ideologe Alexander Dugin entworfen hat und auf den Putin sich auch in seinen wirren geschichtsphilosophischen Thesen stützt“.

Dass diese Kommentare „sehr, sehr hart“ formuliert sind, könnte auch damit zu tun haben, dass die Autor*innen das Bedürfnis haben, sich möglichst deutlich von den vielen Texten abzusetzen, die gegenüber Russland alles andere als hart sind. In Gesprächen mit Menschen, die die Redaktion kennen, ist von einem deutlichen Unbehagen gegenüber Maiers Kurs zu hören. Die „Berliner Zeitung“ berichtet über Russland – und auch über den Verbündeten China – jedenfalls auf völlig andere Weise als die meisten anderen deutschen Medien.

Zum Alleinstellungsmerkmal der „Berliner Zeitung“ gehören solche Formulierungen: „Während der Westen die aktuellen Erklärungen des russischen Präsidenten zur Ukraine scharf verurteilt und Sanktionen auf den Weg gebracht hat, gibt es aus anderen wichtigen Ländern differenzierte Reaktionen.“ Gemeint sind hier Indien und Israel. Der „Westen“ rasselt also einen Tag vor der russischen Invasion mit dem Säbel, während unter anderem Israel, das man aus guten Gründen dem Westen zurechnen könnte, hier mal eben großzügig ausgemeindet wird, um besser einen Gegensatz zwischen dem Westen und „differenziert“ auf Russland reagierenden Ländern herstellen zu können.

Eine westliche Stimme aus China?

Tags darauf beginnt ein Text der „Berliner Zeitung“ mit den Worten: „China drängt laut der South China Morning Post (SCMP) auf Maßnahmen, um die Eskalation der Spannungen um die Ukraine zu stoppen.“ Ist es am Tag des Angriffs angemessen, von einer „Eskalation der Spannungen um die Ukraine“ zu sprechen, also mit Hilfe der Formulierung „Spannungen um“ implizit auch anderen eine Mitschuld am Einmarsch zu geben?

„Die ‚Spannungen‘ beziehen sich auf die unstreitig bestehenden ‚Spannungen‘ zwischen dem Westen und Russland – die es ja schon länger gibt als den Krieg“, sagt Michael Maier dazu. An diesem Tag habe „noch niemand gewusst, in welchem Ausmaß die Invasion kommen wird“. Seitdem „klar“ sei, „wie es läuft, schreiben wir konsequent ‚Angriffskrieg‘, ‚Angriff‘, ‚Invasion o.ä.‘“

Eine der „grundsätzlichen“ Stärken der Auslandsberichterstattung seiner Zeitung sieht Maier darin, dass man „ganz bewusst“ versuche, „nicht einfach nur“ dpa-Meldungen „rüberzuheben“. Im gerade erwähnten Text etwa habe man „eine westliche Stimme aus China bringen“ wollen. Die „South China Morning Post“ komme aus Hongkong und werde „von Briten betrieben“, sie sei „eine alte demokratisch-freiheitliche Zeitung der Engländer“. Das ist allerdings nur historisch korrekt. Inhaber der 1903 gegründeten „South China Morning Post“ ist seit Ende 2015 der chinesische Megakonzern Alibaba, und an der journalistischen Unabhängigkeit der Zeitung gibt es berechtigte Zweifel.

Aus Putins Perspektive

Am zweiten Kriegstag wartet die „Berliner Zeitung“ mit folgendem Spin auf: „Die EU friert die Vermögenswerte von Wladimir Putin und Sergej Lawrow ein. Das dürfte in Moskau als massive Eskalation gesehen werden.“ Übernimmt die „Berliner Zeitung“ hier die Perspektive der von der Einfrierung Betroffenen und deren Sympathisanten? Würde man, wenn etwa eine Berliner Ermittlungsbehörde Maßnahmen gegen mutmaßliche Kriminelle ergreift, darüber sinnieren, dass die Betroffenen dies als „massive Eskalation“ empfinden?

Maier sagt, der Satz sei „definitiv nicht als Wertung gedacht, sondern wie folgt gemeint: Wenn man deren Konten einfriert, trifft es sie wirklich – und daher ist es für sie persönlich eine Eskalation.“ Generell wolle die „Berliner Zeitung“ im „nachrichtlichen Bereich“ lediglich wiedergeben, „was die verschiedenen Player sagen“. Die Devise, angelehnt an „angelsächsische Medien“, etwa die „Financial Times“, laute: „Alles, was wir berichten, ist nicht unsere Meinung oder Präferenz, sondern die Wiedergabe dessen, was in der Welt passiert.“

Für den Satz „Das dürfte in Moskau als massive Eskalation gesehen werden“ trifft das aber gerade nicht zu. Er interpretiert ja die Nachricht. Ähnlich verhält es sich mit einem zu Beginn der vergangenen Woche veröffentlichten Text: „China positioniert sich als regionaler Friedensstifter und könnte als Gewinner aus dem Krieg hervorgehen“, heißt es da im Teaser. Abgesehen davon, dass es nicht übermäßig feinfühlig wirkt, angesichts der Zerstörung und des Leids in der Ukraine schon jetzt über den möglichen „Gewinner“ des Krieges zu spekulieren, handelt es sich hier um eine kommentierende Formulierung.

Ideal Nüchternheit

Als ein Beispiel dafür, wie man im Nachrichtenjournalismus Positionen abbildet, ohne dabei „persönliche Vorlieben“ zum Ausdruck zu bringen, sieht Maier auch einen Artikel, der zu Beginn der Olympischen Winterspiele unter der Überschrift „Spiele in China: Die Spaltung der Welt wird sichtbar“ erschienen ist.

Tatsächlich lässt sich der von Maier verfasste Text als ein Paradebeispiel dafür heranziehen, wie man durch Gewichtung Meinung macht: Zwei Absätze widmen sich der Kritik von Human Rights Watch an der Situation in China, einer dem Bundestags-Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der sich die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation „zu eigen gemacht“ habe – auch ein bemerkenswertes Framing, ein weiterer den „scharfen“ Reaktionen der chinesische Botschaft in Berlin auf diese Vorwürfe („Die Menschenrechtslage in China befindet sich momentan im historisch besten Zustand“). Allein vier Absätze bestehen aber aus einer ausführlichen Wiedergabe eines „Gastbeitrags“, den Wladimir Putin für die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua über die russisch-chinesischen Beziehungen geschrieben hat. Dieser Teil nimmt ungefähr die Hälfte des Textes ein.

Seine Vorstellung von „Neutralität“ würde Michael Maier gern auch auf andere journalistische Bereiche ausgedehnt sehen. Er formuliert die „Idealvorstellung“, dass „auch die Medienberichterstattung neutral sein sollte. Dann dient sie der nüchternen Information und Aufklärung.“ Seine Message lautet in dem Zusammenhang: „Wir sind hier jedenfalls auch auf eine kompetente Medienkritik angewiesen, um uns zu verbessern.“

In diesem Sinn tragen also auch wir unnüchternen Medienjournalist*innen alle ein kleines bisschen Mitschuld daran, dass die „Berliner Zeitung“ ist, wie sie ist.

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