Die Autorin
Kathrin Hollmer arbeitet als freie Journalistin in München. Sie schreibt nicht nur über Filme und Serien, sondern diskutiert auch gern in Jurys darüber, insbesondere, wie Frauen und Diversität erzählt werden.
Wir ärgerten uns mit Charlotte im Familienchat über ihre unvorsichtigen Eltern. Warteten mit ihr auf das Corona-Testergebnis. Verstanden die Sorge, sie könnte ihre Chefin angesteckt haben, und die Wut, wenn in der Videokonferenz wieder das Bild einfror. Wir ertappten uns, wie auch wir alle paar Minuten Nachrichtenseiten updaten, obwohl wir wissen, dass es uns nicht guttut. Wir sahen uns also selbst, gespiegelt in einer Serie, die nicht nur unterhaltsam, sondern fast therapeutisch war. Und auf jeden Fall tröstend.
So war das zu Beginn der Pandemie, im ersten Lockdown 2020. Die ZDFneo-Serie „Drinnen“, entwickelt und produziert in sensationeller Geschwindigkeit, erschien im April – und sie half uns damals beim Verarbeiten dieser für uns alle neuen Situation. In 15 kurzen Folgen begleitet die Serie Charlotte (gespielt von Lavinia Wilson) in ihrem Corona-Alltag. Das Filmset ist ihre Wohnung, genauer: ihr Home-Office-Arbeitsplatz am Küchentisch.
Kurze Zeit später deklinierte die Anthologie-Serie „Liebe. Jetzt!“ (auch ZDFneo) durch, wie sich die Pandemie auf Liebesbeziehungen, Familien und Freundschaften auswirkt. Wie „Drinnen“ fing sie dabei sowohl banale als auch besondere Momente der neuen Realität ein, Sorgen, Ängste und Fantasien. „Instant Fiction“ nennt das ZDF seitdem kurze, für die Mediathek konzipierte Serien, die innerhalb weniger Wochen entwickelt und produziert werden – und aktuelle reale Geschehnisse unmittelbar aufgreifen.
Schaut man heute, zwei Jahre später, in fiktionale Produktionen, muss man feststellen: Die Pandemie wurde zurückgedrängt. Wer meint, an Filmen und Serien der Jahre 2020 und 2021 ließe sich später einmal die Zeit der großen Pandemie-Wellen ganz einfach ablesen, täuscht sich. Was zu der Frage führt, warum das so ist. Wieso ist die Pandemie, die uns weiterhin täglich umgibt, nur noch so selten in der Fiktion sichtbar? Und ist das eine gute Idee?
Kathrin Hollmer arbeitet als freie Journalistin in München. Sie schreibt nicht nur über Filme und Serien, sondern diskutiert auch gern in Jurys darüber, insbesondere, wie Frauen und Diversität erzählt werden.
Es gibt sie natürlich, die Produktionen, in denen Corona gezielt aufgegriffen wird. Die Sitcom „Lehrerin auf Entzug“ (ZDFneo) etwa, die 2020 erschien, begleitet eine Lehrerin beim Distanzunterricht. Zum Jahreswechsel 2020/21 zeigte die improvisierte NDR-Serie „Für immer Sommer 90“ den Alltag im ersten Pandemiesommer, mit Maskenpflicht und unbeholfenen Umarmungen.
Auch 2021 ging es, zum Beispiel, in der zweiten Staffel der Kunst-Nothilfe-Serie „Ausgebremst“ (Warner Comedy) über eine Fahrlehrerin und Video-Seelsorgerin (Maria Furtwängler) unter anderem um pandemiebedingte Existenznöte und eine Corona-Leugnerin; in „Schlafschafe“ (ZDFneo) glaubt eine Mutter plötzlich an Verschwörungserzählungen, und ihre Familie versucht, sie zur Vernunft zu bringen; und im ZDF lief außerdem der erste Corona-Fernsehfilm: „Die Welt steht still“ mit Natalia Wörner als Intensivmedizinerin in der ersten Covid-Welle.
Auch bei regelmäßigen Klassikern: vereinzelt etwas Pandemie. Im Berliner und im Dortmunder „Tatort“ etwa tragen die Kommissar:innen – wenn auch inkonsequent – Maske, in der Dortmunder Episode „Heile Welt“ war eine Corona-bedingte Geschäftspleite mal das Mordmotiv. Auch in der Krimireihe „Nachtschicht“ von Lars Becker war der Mund-Nasen-Schutz zu sehen.
Alles Beispiele, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Aber man muss nach der Krise schon suchen im Fiktionalen, während sie sonst dauerpräsent ist: in den 20-Uhr-Nachrichten, in Talkshows und Reportagen, auch dann, wenn eine Fernsehsendung mal wieder ohne Publikum stattfinden muss. In der Erzählmaschine „Fernsehen“ gebe es in Sachen Information zum Thema Corona „fast schon ein Übermaß, mit zahllosen Sondersendungen“, sagt die Medienforscherin Joan Bleicher von der Universität Hamburg.
Zumindest in einem fiktionalen Segment, sollte man meinen, dürfte das Thema Covid-19 geradezu unumgänglich sein: in Krankenhausserien. Doch das Gegenteil ist der Fall: „Wir haben uns bewusst dazu entschieden, Corona nicht allzu schnell zum Thema bei ‚In aller Freundschaft‘ und ‚In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte‘ zu machen, da die Pandemie nach wie vor sehr dynamisch verläuft“, sagt ein Sprecher des MDR. „Der Wunsch und die Sehnsucht nach Entspannung und Unterhaltung war und ist sehr groß.“
Eine Möglichkeit, der Pandemie erzählerisch aus dem Weg zu gehen, ist die fiktionale Zeitreise. Im Moment setzen die Sender verstärkt auf Nostalgie, wie neulich die „taz“ unter dem Titel „Die Kunst macht ihren Job nicht“ beklagte: Retro-Fernsehen, unter anderem in Form von Wiederholungen (wie „Die Schwarzwaldklinik“ und „Diese Drombuschs“) und historischen Stoffen (zum Beispiel „Ein Hauch von Amerika“ und „Der Palast“) führt die Zuschauer:innen in eine vermeintlich heile Welt zurück, oder zumindest in eine, in der die Menschen andere Sorgen hatten.
Fragt man bei anderen Sendern und Produktionsfirmen nach, ist auch dort Eskapismus das Lieblingsargument, mit dem man die Pandemie aus der Fiktion heraushält. „Die Zuschauer wollen die Gegenwelt zum Corona-Alltag sehen“, sagt UFA-Chef Nico Hofmann. Ähnlich sieht es Hauke Bartel, Leiter der Abteilung Fiktion bei RTL, der auf Anfrage von Übermedien sagt:
Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer spiegeln uns sehr deutlich: In einem von Corona bestimmten Alltag wünschen sie sich ganz besonders in der Fiktion Geschichten, die sie in eine Welt hineinversetzen, die nicht von dem Thema bestimmt wird. Und wir sind froh, dass wir unserem Publikum diese Möglichkeit des Eskapismus dank strengster Sicherheitsvorkehrungen bei den Produktionen auch bieten können.
Zu Beginn der Pandemie gab es noch die Hoffnung, das Ganze sei bald wieder vorbei. Weil Produktionen möglichst zeitlos sein sollen, haben Sender und Produktionsfirmen Corona deswegen erst einmal nicht thematisiert. Gerade beim Film gibt es schließlich lange Vorlaufzeiten.
„Entsprechend groß ist die Gefahr, mit der Abbildung der Realität zum Zeitpunkt der Ausstrahlung bereits veraltet zu sein“, sagt Bartel. „Und offen gestanden sind wir immer wieder ein Stück weit davon überrascht worden, wie lange die Pandemie andauert.“
Auch ästhetische Argumente, die zudem die Rezeption betreffen, werden von Filmemacher:innen angeführt. Besonders stören sie sich am Mund-Nasen-Schutz. Degeto-Chef Thomas Schreiber stellt dazu eine rhetorische Frage:
Macht es im Bereich der Schauspielkunst, in der es maßgeblich darum geht, dass die Zuschauer:innen eine emotionale Beziehung zu den Charakteren entwickeln, wirklich Sinn, Darsteller:innen mit Maske agieren zu lassen, hinter der alle Ausdrucksmöglichkeiten im Gesicht verschwinden?
UFA-Chef Hofmann sieht das auch so: „Die Vermittlung von Gefühlen und Ausdrücken ist so gut wie unmöglich und darum wird die Maske wohl nicht das Requisit der Wahl“, sagt er. „Tatort“-Kommissarin Maria Furtwängler erzählte dem „Focus“ gar, eine Szene werde nochmal neu gedreht, wenn im Hintergrund des ersten Takes versehentlich eine Maske zu sehen war.
Die Kehrseite: Bei Filmen und Serien, die in der Gegenwart spielen, kommt es für Zuschauer:innen immer wieder zu Momenten der Irritation. Etwa, wenn im dritten Pandemiejahr niemand Mund-Nasen-Schutz trägt, also alles wie früher zu sein scheint. Das fällt gerade bei Produktionen auf, die sonst auf Realismus setzen – beim „Tatort“ etwa oder in Soaps wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (RTL), in denen der Alltag eine große Rolle spielt.
Eskapismus darf und muss es selbstverständlich geben, aber Realitätsflucht ist nur eine Funktion der Fiktion. Spielfilme und Serien sind immer auch ein Abgleich mit dem eigenen Leben und eine Versicherung, dass wir nicht allein sind mit unseren Sorgen und Herausforderungen, von denen in den vergangenen Jahren viele neu dazugekommen sind. Fiktion kann als Spiegel der Gesellschaft Orientierung geben. Wenn Spielfilme und Serien das Thema ignorieren, das die Menschen in den vergangenen zwei Jahren am meisten beschäftigt und bewegt hat, ist das eine verpasste Chance.
Es gibt Zahlen, die der Strategie der Sender Recht zu geben scheinen. Das ZDF veröffentlichte im Frühjahr 2021 eine Studie, der zufolge 74 Prozent der Zuschauer:innen der Aussage zustimmten, sie seien froh, wenn sie „beim Schauen von Serien und Filmen nicht an die alltäglichen Einschränkungen durch Corona erinnert“ würden.
Es gibt aber durchaus auch andere Stimmen: So sind 29 Prozent irritiert, wenn in Filmen und Serien Schauspieler:innen sich zum Beispiel „umarmen oder keine Maske tragen, so als würde es kein Corona geben“, in der Generation Z stimmten dem sogar 49 Prozent teilweise oder ganz zu. Auch erwartet ein Viertel der Zuschauer, dass Corona-bedingte Veränderungen wie „das Abstandhalten oder das Tragen von Masken auch in Filmen und Serien ganz beiläufig einfließen“. 22 Prozent gaben zudem an, dass sie Filme und Serien schauen werden, „die sich mit den unterschiedlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie beschäftigen“.
Ganz so klar ist die Sache also nicht. Manche Zuschauer:innen mögen keine Lust haben, in der Fiktion an Corona erinnert zu werden, aber längst nicht alle; ein Teil wünscht sich das sogar und artikuliert das auch entsprechend. Zum Dortmunder „Tatort: Heile Welt“ etwa gibt es entsprechend gegensätzliche Kommentare: Eine Zuschauerin freut sich, das sei „endlich mal ein aktueller Film, der Corona nicht wegdenkt“; ein anderer findet „die Masken an allen Ecken und Enden“ eher „überflüssig“; und wieder ein anderer beklagt, es sei dann doch auch „irgendwie inkonsistent … Manchmal Abstandsregeln und Masken, manchmal gar nicht“.
Filmemacher:innen sollten sich trauen, auch die neue Realität weiter abzubilden. Denn auch die Angst vor dem Ablaufdatum ist unbegründet. Filme sind immer auch Dokumente ihrer Zeit. Knapp zwei Jahre sind seit dem ersten Lockdown vergangen, wir sind inzwischen in der fünften Welle – doch Serien wie „Drinnen“ und „Liebe. Jetzt!“ haben nicht an Aktualität verloren.
Es geht dabei auch nicht bloß um Masken oder andere äußere Merkmale. Wer Corona in der Fiktion ausspart, verdrängt auch Themen, die die Pandemie verstärkt oder akut gemacht hat: Angst um die Gesundheit, die eigene und die von Familie und Freund:innen. Wut auf Maskenverweiger:innen. Geldsorgen. Einsamkeit. Psychische Probleme. Ein Gesundheitssystem, das an seine Grenzen kommt. Häusliche Gewalt.
Teilweise soll das alles noch aufgearbeitet werden. Aber mit Zeit. Die ARD-Tochter Degeto verweist auf ein großes Projekt, in dem die Pandemie „eine zentrale Bedeutung“ haben werde, mehr ist darüber aber noch nicht zu erfahren. Und UFA-Chef Hofmann brainstormt immerhin schon mal:
Da sind Themen wie Nähe und Wärme, was Isolation mit uns macht, die gesellschaftliche Spaltung, die wir erleben, seit die Debatte über die Impfpflicht läuft, die Beschneidung der Freiheitsrechte und psychische Belastung. Ich könnte mir einen Film über Long Covid bei Kindern vorstellen, darüber, was das mit einer Familie macht.
Allerdings, räumt er ein, erst „in drei oder vier Jahren“. Dieser zeitliche Abstand ergebe auch deshalb Sinn, weil sich die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ja ununterbrochen veränderten: „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt“, sagt Hofmann. „Wir werden im Sommer anders urteilen als im Moment. Bis dahin muss man abwarten, um zu spüren, ob die Themen immer noch so relevant sind und ob sich ein Film lohnt.“
Die Medienforscherin Joan Bleicher stimmt zu: „Zeitlicher Abstand ist wichtig, um eine kritische Distanz zu entwickeln, Dinge historisch einzuordnen und zu reflektieren.“
Dabei wäre schon Zeit gewesen für Stoffentwicklung und Produktion. Sieht man ja an anderen Ländern, etwa den USA. Dort ist der Umgang mit der Pandemie in der Fiktion wesentlich vielfältiger, nicht nur, was die Sichtbarkeit von Masken angeht. Zusammenfassungen über Covid-19 in US-amerikanischen Serien liefert zum Beispiel die „New York Times“ und auf Deutsch „54 Books“. Man sieht: Es gibt in den USA auch Produktionen, die Emotionen, Ängste und Überforderung verhandeln.
Herausragend macht das „Mr. Corman“. In der Serie geht es um einen Lehrer (Joseph Gordon-Levitt), der seine Schüler:innen per Videokonferenz unterrichtet, kaum noch mit Händewaschen und Desinfizieren hinterherkommt und morgens erst mal an alten Büchern und Pfefferminzpastillen riecht, um sicherzugehen, dass er noch was riecht. In der Hauptsache thematisiert die Serie aber Cormans Ängste und Panikattacken, und wie er verzweifelt versucht, sich Hilfe zu holen und dabei scheitert. So wie es vielen geht, ob im US-amerikanischen oder dem deutschen Gesundheitssystem.
Hätten wir die „Lindenstraße“ noch, sagt Medienforscherin Bleicher, „würde die Pandemie in der Serie sicher stark thematisiert werden, weil sie immer auf aktuelle Entwicklungen reagiert hat“. Die „Lindenstraße“ war in der Tat oft Vorreiterin. 1986 etwa hat sie als erste fiktionale Produktion in Deutschland Aids angesprochen. „Weil klar war, dass die Serie schnell etwas dazu sagen muss, weil über Aids in Deutschland so viel Falsches geredet wurde. Es wurde so viel Angst verbreitet“, sagte der Erfinder Hans W. Geißendörfer einmal der „taz“. Auch wenn die „Lindenstraße“ doch auch spät dran war – die ersten HIV-Infektionen in Deutschland wurden bereits 1982, also vier Jahre vorher, entdeckt.
Heute gibt es die „Lindenstraße“ nicht mehr. Dafür ist die fiktionale Produktion in der Regel wesentlich schneller, kann „instant“ – unmittelbar – reagieren. Fiktion, die gleichzeitig am Puls der Zeit ist, ist eine Herausforderung: erzählerisch, visuell und technisch. Aber eben auch eine große Chance.
„The Good Doctor“ Staffel 4 erzählt die Geschichte des autistischen Arztes während der Pandemie.
Apples „The Morning Show“ hat sogar das Drehbuch der 2. Staffel im Sinne der Pandemie umgeschrieben. Vielleicht nicht bemerkenswert für eine Show in der es um eine Nachrichtensendung geht, vielleicht aber auch gerade deswegen bemerkenswert.