Corona-Zahlen-Quatsch

Und hier sind die aktuellen Infektionszahlen, von denen wir wissen, dass sie nicht stimmen

In Großbritannien gibt es auf Channel 4 eine neue Gameshow. Sie heißt: „I Literally Just Told You“, und die Kandidaten müssen nicht mehr tun, als Fragen zu beantworten zu Dingen, die gerade eben erst in der Sendung passiert sind oder gesagt wurden. Der Witz besteht in der verblüffenden Unmöglichkeit, sich an etwas zu erinnern, was nur wenige Sekunden zurückliegt – oder vielleicht auch in dem Unwillen, einfach mal ein bisschen aufzupassen.

Jana Pareigis spielte gestern in der „heute“-Sendung ihre eigene Version davon: Sie hörte nicht einmal sich selbst zu. „Die aktuellen Infektionszahlen sind nicht verlässlich, da an den Feiertagen weniger getestet und gemeldet wird“, sagte sie, um dann, ohne mit der Wimper zu zucken, ausführlich die aktuellen, nicht verlässlichen Infektionszahlen zu referieren.

Screenshot: ZDF

Sie ist nicht allein. Flächendeckend haben Online-Medien an den Feiertagen verkündet, dass die Inzidenz zurückgegangen sei. Dieselben Online-Medien, die gerade erst verkündet hatten, dass die Inzidenz an diesen Tagen nicht aussagekräftig sei.

Die Nachrichtenagentur dpa hatte vorab darauf hingewiesen. Am 23. Dezember meldete sie morgens: „Experten erwarten wenig aussagekräftige Corona-Daten über Feiertage“. Sie zitierte die Verbandschefin der Amtsärzte mit der Einschätzung, dass es bei den offiziell gemeldeten Corona-Zahlen zu einer Untererfassung kommen könnte: „Verlässlich dürften die Zahlen erst wieder Anfang Januar sein.“ Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht seine Zahlen, wie schon im vergangenen Jahr, mit einem entsprechenden Warnhinweis.

"Während der Feiertage und zum Jahreswechsel ist bei der Interpretation der Fallzahlen zu beachten, dass mit einer geringeren Test- und Meldeaktivität zu rechnen ist, so dass die im Dashboard und Lagebericht ausgewiesenen Daten nur ein unvollständiges Bild der epidemiologischen Lage in Deutschland ergeben könnten."
Screenshot: RKI Dashboard

In einer weiteren Meldung zitierte dpa an Heiligabend mehrere Gesundheitsexperten, die die schlechte Datenlage kritisierten und etwa von „drei Wochen Ungewissheit“ sprachen.

„Corona-Inzidenz geht weiter zurück“

Trotzdem meldete dpa an den Feiertagen dann ungerührt die aktuellen Zahlen im Bund und den Ländern unter Titeln wie: „Sieben-Tage-Inzidenz über Weihnachten gesunken“, „Corona-Inzidenz geht weiter zurück“ oder „Sieben-Tage-Inzidenz weiter gesunken“. In den Meldungen selbst fügte die Agentur immerhin jeweils brav den Warnhinweis des RKI hinzu, dass die Zahlen „nur ein unvollständiges Bild der Corona-Lage in Deutschland zeigen könnten“. Aber Überschriften wie: „Corona-Inzidenz in Berlin bei knapp 268 – Zahlen weiter unvollständig“, die angesichts dieser Tatsache angemessener wären, blieben die Ausnahme.

Auch die 20-Uhr-„Tagesschau“ brachte den Hinweis, dass die Zahlen gerade einigermaßen unbrauchbar sind, ebenso wie die Zahlen selbst, unbeirrt anmoderiert mit: „Hier die aktuellen Infektionszahlen.“

Screenshots: „Tagesschau“

Warum? Wären das nicht knapp 30 Sekunden Sendezeit, die man stattdessen mit, sagen wir: Nachrichten füllen könnte?

Natürlich ist es richtig, dass offizielle Stellen wie das RKI auch Daten veröffentlichen, wenn sie nicht vollständig sind. Vielleicht müssen auch all die automatischen Daten-Dashboards in den Online-Medien weiter mit Stoff befüllt werden – obwohl man darüber diskutieren könnte, ob die nicht lieber demonstrativ keine aktuellen Zahlen anzeigen sollten. Denn ihr Wert ist doch gerade die Vergleichbarkeit mit den Vortagen und -wochen, um eine Entwicklung ablesen zu können, und genau das ist seriös im Moment nicht möglich.

Die Medien folgen im Umgang mit den Zahlen der Logik: Lieber falsche Daten, als gar keine Daten.

Ein Abbild der Realität?

Was soll das Publikum, was sollen die Bürgerinnen und Bürger anfangen mit der Information: „Die Zahlen sind gesunken, aber vielleicht gar nicht wirklich.“ Es ist ohnehin schon aufgrund vieler Unschärfen und methodischer Probleme heikel, diese Daten für ein Abbild der Realität zu halten – für einen Ausdruck dessen, was die Pandemie gerade in Deutschland macht. Aber Zahlen haben einen ganz anderen Nimbus der Objektivität als etwa Berichte über persönliche Schicksale oder überfüllte Krankenhäuser. Sie sind einerseits abstrakter, andererseits aber auch greifbarer, weil man sie eben vergleichen kann – mit früheren Werten, mit anderen Ländern, mit Grenzwerten.

Im Moment kann man sie nicht vergleichen. Und wenn man es doch tut, in Überschriften und Diagrammen, kommt man zu falschen Interpretationen, zu einer vermutlich verfrühten Entwarnung. Es gibt wirklich gar keinen Grund, solche haltlosen Werte auch noch in Nachrichtensendungen zu referieren. Und dann auch noch mit einer Nachkommastelle, was die Beklopptheit auf die Spitze treibt: Wir wissen zwar nicht, ob die Sieben-Tage-Inzidenz in Wahrheit bei 200 oder 300 liegt, aber wir geben sie mit 222-KOMMA-SIEBEN an?

Das ist vielleicht das eigentliche Problem an diesem Umgang mit den Zahlen: Er macht deutlich, wie gedankenlos viele Medien mit diesen Daten umgehen. Als würden sie nicht einmal sich selbst zuhören, was sie literally gerade gesagt haben.

7 Kommentare

  1. Wenn es um Mediekritik geht ist Übermedien weit vorne.
    Wenn es um die Kritik an der Darstellung von Daten und Studien geht ist Übermedien ganz weit vorne.

  2. Ja, aber wenn ich „literally“ zwei Sekunden zuvor gesagt bekomme, dass die Zahlen nicht verlässlich sind, dann weiß ich das doch noch, wenn sie präsentiert werden, und kann das entsprechend einordnen. Sehe das jetzt ehrlich gesagt nicht so kritisch, wenn die Zahlen in den Medien gezeigt werden. Es gibt sie ja trotzdem und sie werden ja trotzdem erhoben. Warum dann auch nicht darüber berichten, oder muss die sich dann jeder selbst im RKI-Dashboard raussuchen?
    Gut, Überschriften, die suggerieren, dass die Inzidenz sinkt, sind natürlich daneben, aber wo jetzt das Problem in der heute-Sendung gelegen haben soll, ist mir zuminest aus dem Artikel nicht klar geworden. Es sei denn, man hält die Zuschauer für unfähig, den Hinweis mit den unzuverlässigen Zahlen zu verstehen.

  3. Danke! Und andere Daten vom RKI, die wirklich interessant sind (z.B. der Wochenbericht), werden erst
    gar nicht erwähnt, weil man die Leser wohl nicht überfordern will.
    Oder sind es die Medien selber, die schon vor Prozentrechnung Angst haben?

  4. Eigentlich wäre die umgekehrte Reihenfolge besser: „…die gemeldeten Zahlen liegen zwar nur bei x, aber wegen der Feiertage ist mit einer besonders hohen Dunkelziffer zu rechnen.“

  5. Das ist ein bisschen wie bei Wahlumfragen, die Aussichten einer Partei mit 12,nochwas Prozent angeben und dann in einer Fußnote erwähnen, dass die statistische Schwankungsbreite der Erhebung bei +/- 3 Prozentpunkten liegt. Hauptsache es klingt exakt…

  6. @2: Stefan Niggemeier schreibt: „Wären das nicht knapp 30 Sekunden Sendezeit, die man stattdessen mit, sagen wir: Nachrichten füllen könnte?“ Das ist doch der relevante Punkt. Wenn wir wüssten, dass die Zahlen z.B. halb so hoch wie normalerweise wären, könnte man das vorher einordnend erwähnen und dann die Zahlen nennen. Wenn wir aber nur wissen, dass die Zahlen *irgendwie niedriger* und damit quasi unbrauchbar sind, muss man sie auch gar nicht erwähnen. Was würde es dann auch für einen Unterschied machen, ob die Inzidenz bei 20, 120 oder 220 liegt? Man kann, bis im Januar die Zahlen wieder vergleichbar werden, auch einfach auf ihre Nennung verzichten; sie haben ja keinen Mehrwert.

  7. Ein Argument für die Nennung dieser Zahlen fiele mir ein: Würde man sie nur auf den Dashboards veröffentlichen, und nicht, wie sonst üblich, in den Nachrichten, erhöbe sich da nicht das Geschrei der Leerdenker: „Seht, jetzt, wo die Werte fallen, da verschweigt sie die Lügenpresse“?

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.