Ende der Erzählungslosigkeit

Nicht alles ist ein Narrativ. Aber ohne Narrativ ist alles nichts.

Die Generalsekretäre Volker Wissing (FDP), Lars Klingbeil (SPD) und Michael Kellner (Grüne) nach den ersten Sondierungsgesprächen Foto: Imago / Chris Emil Janßen

Noch schweigen die Ampelisten. Aber bald werden sie erzählen. Schließlich wollen sie mit der Koalitionsvereinbarung nicht nur politische Projekte, deren Finanzierung und Gesetzeswerdung beschreiben. Sie möchten auch eine Erzählung anbieten. Ohne gemeinsame Erzählung werde es nicht gehen, hieß es früh von den Verhandelnden. Eine Fortschrittserzählung soll es sein, sagte Olaf Scholz. Das Zitrus-Selfie ist das bildliche Symbol dieser Regierungsbildung, die Erzählung – als Komposita wahlweise mit „Fortschritt“, „Aufbruch“ oder „Zukunft“ angedickt – der Schlüsselbegriff.

In fast keinem Kommentar zur Regierungswerdung fehlt nunmehr der Begriff von der Erzählung. Wer etwas intellektueller klingen will, spricht vom Narrativ. Naturgemäß führt die inflationäre Verwendung eines Begriffs zu einer Verunschärfung seiner Bedeutung. Vor einiger Zeit erlitt das „Framing“ ein ähnliches Schicksal.

Nicht alles, was erzählt wird, ist ein Narrativ

Bei der Erzählung setzten die semantischen Dehnungsübungen natürlich auch schon viel früher ein. Im Wahlkampf hieß es, über Armin Laschet habe sich ein Narrativ etabliert, das ihn als tollpatschig und wankelmütig beschreibe. Gemeint war wohl eher ein Image. Am Tag nach der Wahl war im „Handelsblatt“ zu lesen, die SPD habe das Narrativ von der „Koalition der Gewinner“ den vermessenen Machtansprüchen der Verlierer-CDU entgegen gesetzt. Das ist nicht mehr als ein Spin. In der „Zeit“ nutzte die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal die nun bald um sich greifende Suchbewegung nach der Ampel-Erzählung, um einen kompletten politischen Forderungskatalog als „Vorschlag für die Erzählung“ in die Debatte einzuschleusen. Das nennt man – bei aller Wertschätzung – wohl eher ein Manifest. Kurzum: Erzählt wird vieles, narrativiert wird dabei selten.

Wozu überhaupt das ganze Gerede? Politik soll doch einfach machen und eben nicht immer nur reden. Aber Politik braucht Vermittlung, Sinnstiftung und Legitimation, die über elektorale Mehrheiten hinaus geht. Und Menschen erklären sich die Welt durch Geschichten. Noch wichtiger: Geschichten sind die Strukturen, in denen sie Veränderungen denken. Wir sind „homo narrans“, wie auch Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem neuen Buch ausführen. Das ist anthropologisch und kognitionswissenschaftlich ausreichend belegt.

Für eine Bundesregierung heißt das: Der Koalitionsvertrag beschreibt, was die Koalitionäre tun wollen. Das Narrativ begründet, warum sie es tun wollen.

Diese Begründung muss Menschen überzeugen, sonst können die Koalitionäre bald wieder einpacken. Überzeugen lassen sich Menschen in letzter Konsequenz im emotionalen Departement ihres Denkens. Also an dem Ort im Gehirn, wo Geschichten gespeichert und zügig aktiviert werden können.

Begrenzt utopiefähig

Ein Regierungsnarrativ, auch diese Überforderung klingt in den Rufen nach der Erzählung häufig an, ist nicht dazu geeinigt, die Welt komplett neu auszudeuten. Gesellschaftliche Meta-Narrative (z.B. jenes der „Leistungsgesellschaft“), die das Fundament kollektiver Wahrheiten bilden, entstehen in größeren zeitlichen und geographischen Zusammenhängen, häufig als Ko-Produktion von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst, Medien und anderen Bereichen.

Ein Koalitionsnarrativ ist somit auch nur begrenzt utopiefähig. Trotzdem kann es ein Wegbereiter für Veränderungen und eine Quelle für Hoffnung sein. Beispielsweise, indem sich Regierungen nicht mehr als „das, was möglich ist“ (Merkel) definieren, sondern als „das, was ermöglicht werden muss“ zur Lösung von Problemen. Das Mögliche ist ja tatsächlich soviel mehr als das Wahrscheinliche in der Politik. Den Rahmen des Wahrscheinlichen, des Klein-Kleins, zu verlassen, wäre schon mal ein guter Einstieg.

Drei miteinander verbundene Geschichten

Was die Regierung im Aufbau nun aber sucht, ist ein „public narrative“. Als Mastermind für derartige Narrative gilt in den USA Marshall Ganz. Er ist Dozent an der Kennedy School of Governance in Harvard und – wie sollte es anders sein – ein Berater aus der Obama-Ära.

Marshall Ganz hat ein Konzept für Narrative entwickelt. Demzufolge besteht ein Narrativ aus drei miteinander verbundenen Geschichten: Einer Geschichte über das „Selbst“, über das „Wir“ und über das „Jetzt“. Jede Geschichte enthält wiederum drei Elemente: Ein Subjekt, eine Handlung und Werte als moralische Basis.

Nun sollte man es tunlichst vermeiden, US-amerikanische Kommunikationsstrategien eins zu eins der hiesigen politische Kultur überzustülpen. Insbesondere die Geschichte über das „Selbst“ tendiert in einem präsidentiellen System mit überakzentuierter „Leader“-Kultur zur überbordenden Selbstheroisierung. Dennoch ist die dreiteilige Grundstruktur der Narrativtheorie von Marshall Ganz hilfreich, um sich konzeptionell dem anzunähern, wonach die Ampel-Parteien derzeit suchen.

Die Werte der Erzählenden

Gehen wir die drei Geschichten der Reihe nach durch und überlegen beispielhaft, was das Ampel-Narrativ leisten müsste. Die Geschichte über das Selbst handelt von den Werten des bzw. der Erzählenden und den Unterschied, den sie in der Welt machen wollen. Im Wahlkampf hat Olaf Scholz den Wert des Respekts und als Leitbild die „Gesellschaft des Respekts“ für sich reklamiert.

Gewiss sollte man Scholz auch nach dem Wahlkampf ein Kanzlernarrativ zugestehen, ein Koalitionsnarrativ müsste sich hingegen aus der Wertebasis aller drei Parteien speisen. Nicht als Summe ihrer Einzelteile, man könnte denkfaul durchgerechnet dann schnell bei einer Nullsumme landen, sondern komplementär als größeres Ganzes.

Nehmen wir exemplarisch den dauerkontroversen Wert der Freiheit: Würden sich die FDP in Richtung der Grünen dafür öffnen, ihren auf die akuten Möglichkeiten des eigennützigen Individuums fixierten Freiheitsbegriff um eine andere Zeitdimension (ökologische Überlebensfähigkeit) und weitere Subjekte (zukünftige Generationen) zu erweitern, hätte man bereits etwas interessantes Gemeinsames zu erzählen.

Diese Weiterentwicklung für das größere Ganze müsste logischerweise jede Partei leisten, in jeweils unterschiedlichen Bereichen. Dann kann das Narrativ die Begründung für eine neue Politik sein, eine Politik, die keine der drei Parteien in dieser Form schon ihr Programm geschrieben hat.

Selbstbeschreibungen vom Ansatz „die SPD steht für das Soziale, die Grünen für das Ökologische und die FDP für das Liberale“ führen indes zu sofortiger Selbstaufgabe in alten Schein-Gegensätzen. Es wäre töricht, SPD und FDP durch beschränkte Rollenzuschreibungen von der Rettung der menschlichen Lebensgrundlagen zu entbinden. Als Fortschritt sollte heute nichts mehr durchgehen, was sich nicht auch am Überlebensprojekt der Klimaneutralität messen lässt.

Das Band zwischen Regierenden und Regierten

Das zweite Element des Narrativs, die Geschichte des „Wir“, bezieht die Gesellschaft als Ganzes mit ein. Sie spannt das Band zwischen Regierenden und Regierten. Allerdings ist das Subjekt in dieser Geschichte nicht einfach nur ein Kollektiv im kategorischen Sinne (zum Beispiel Staatsbürger, Verbraucherinnen, …), sondern ein Kollektiv der gemeinsam geteilten Erfahrung.

Man könnte sagen: Die Ampel hat diesbezüglich Glück im Unglück. Die jüngsten gemeinsamen Erfahrungen sind die klimainduzierte Hochwasserkatastrophe und die Pandemie. Prägende Realitätsschocks, die die Bereitschaft für Veränderungen erhöhen. Auch die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Jahre, die beim Brexit schmerzlich erlebte Fragilität der europäischen Einigung oder lebensweltlicher: schlecht ausgestattete Schulen, schlechtes Mobilfunknetz, schlechter ÖPNV – all das sind mittel- oder unmittelbar gemeinschaftlich geteilte Erfahrungen.

In jedem Fall sind sie anschlussfähig für einen sehr großen Teil der Gesellschaft, weil sie Werte und Bedürfnisse betreffen, ja sogar bedrohen, und somit zu einer gemeinsam verstandenen Herausforderung machen. Und das ist die Grundlage für das dritte Narrativ-Element: die Geschichte des „Jetzt“.

Vom Hier ins Dort

Die Geschichte des „Jetzt“ baut auf den gemeinsamen Erfahrungen auf. Denn sie erlauben uns einen Abgleich, quasi am lebenden Objekt, zwischen der „Welt, wie wir sie uns vorstellen“ und der „Welt, wie sie tatsächlich ist“. Das „Jetzt“ beginnt mit der Definition der Herausforderung im Heute und setzt sich mit einer Handlung fort, die in eine Zukunft führt, die dieser Herausforderung gerecht geworden ist.

Hier reicht es freilich nicht, wolkig vom „Aufbruch“ zu sprechen, es muss schon erzählt werden, wohin der Aufbruch führen soll und mit welcher (glaubwürdigen) Strategie wir vom heutigen „hier“ ins zukünftige „dort“ kommen. Wenn die Strategie „Transformation“ lautet, konkreter die Dekarbonisierung von allem was wir kennen, dann muss zwar nicht detailliert erläutert werden, wie jede einzelne Tonne CO2 vermieden wird. Es müssen aber die Meilensteine beschrieben werden – ein Projekt wie der Kohleausstieg bis 2030 wäre so einer.

Die Geschichte des „Jetzt“ ist vermutlich die kritischste im ganzen Narrativ. Denn schon bevor sie überhaupt erzählt wird, ist sie mit Unmengen an Gegenerzählungen konfrontiert. Nicht alle davon sind relevant, aber manche verfangen und müssen mühevoll rückerzählt werden. Zum Beispiel die Geschichte, die mittlerweile immer öfter aus den Kohle-Regionen in Ostdeutschland zu hören ist. Sie besagt, dass der Kohleausstieg „das neue 1990“ werde.

Schon allein der Begriff der Transformation ist in dieser Geschichte vorbelastet, die als gemeinsam geteilte Erfahrung ein Trauma aktiviert. Eine Geschichte, die aus Sicht vieler eben nicht nur ein gutes Ende nimmt. Das Misstrauen derjenigen, bei denen nun Ängste vor der nächsten Transformation entstehen, macht die Sache für die neue Regierung nicht einfacher. Ihre Erzählung von der Transformation kann folglich nicht allein von Innovation im technologischen Sinne handeln, etwa bei Produktionsweisen oder Fortbewegungsarten, sondern muss soziale Innovationen ebenso stark machen, damit sich Geschichte nicht (vermeintlich) wiederholt.

Merkels narrative Leerstelle

All das sind nur erste Fragmente für die Befüllung der Struktur eines Narrativs. Sie sollen zeigen, dass eine Erzählung mehr ist als nur ein Modewort, mit dem sich eine gut klingende Zeile formulieren lässt. Das tatsächliche Konzept dahinter offenbart aber auch die Leerstelle der deutschen Narrativpolitik unter Merkel.

Gewiss: Merkel hatte Überzeugungen (zum Beispiel für Europa), sie hatte einen Politikstil (moderierend), sie hatte Images (zum Beispiel die rationale Naturwissenschaftlerin). Aber Merkel hatte nie eine Erzählung. Man wusste nie so richtig, was sie über den Tag hinaus mit dem Land und mit Europa vorhat.

Die Bundesrepublik lebt also politisch gesehen schon lange in einem narrativem Notstand. Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, diesen endlich aufzuheben.

4 Kommentare

  1. Ich weiß nicht. Narrative entpuppen sich doch sehr oft als Marketing-Luftnummer. So wollte man uns Anfang 2021 das Narrativ der nationalen Gesamtanstrengung in der amerikanischen Impfkampagne nahebringen. Alle ziehen an einem Strang, Impfungen am Supermarkt und Drive-In.
    Und dagegen das Narrativ der unflexiblen Deutschen, die doch gar nicht gemeinsam am Strang ziehen, lachhaft damals für viele die 10 Millionen Impfungen am Tag, die Scholz prophezeite. (Letztlich waren wir gar nicht so weit davon entfernt an den Spitzentagen.)
    Am Ende haben wir die USA recht mühelos bis Ende Sommer überholt und die Narrative von damals sind völlig vergessen. Die Substanz (harte Arbeit von Organisatoren der Impfzentren, gute Logistik, Hausärztenetz und auch dort harte Arbeit) hat für Fakten gesorgt, gegen jedes vorherrschende Narrativ.
    Das sind nur Beispiele. Aber meine Erfahrungen aus der Arbeitswelt stützen das ganz genauso. Narrativ = heiße Luft
    Ich meine deshalb ganz im Widerspruch zur Überschrift: Alles geht auch ohne Narrativ. Ein Narrativ tut gar nichts. Merkel und der CDU fehlte wenn kein Narrativ, sondern der CDU ein Plan.

  2. „Menschen erklären sich die Welt durch Geschichten. […] Überzeugen lassen sich Menschen in letzter Konsequenz im emotionalen Departement ihres Denkens. Also an dem Ort im Gehirn, wo Geschichten gespeichert und zügig aktiviert werden können.“

    Stimmt schon: Die Leute erzählen sich selbst ihr Leben und die Gesellschaft (oder auch die Freiheit, die Lindner meint), in Form von Geschichten, um eine widersprüchliche Welt kohärent zu bekommen. (Mag erklären, warum so viele FDP wählen, obwohl sie von dem „Leistung muss sich wieder lohnen“-Narrativ selbst nie profitieren werden.)

    Aber diesen Mechanismus zu befeuern, sollte man doch Werbe- und PR-Leuten überlassen. Kritischer Journalismus hätte die Aufgabe, die „Geschichte“ mit Aspekten zu konfrontieren, die nicht in ihr aufgehen, und ihre Widersprüche zur Wirklichkeit freizulegen. Das geht, mit bewusster Reflexion: Menschen sind keine Sklaven ihres „emotionalen Departements“. Sie sind nur gerne denkfaul.

    Zudem wurde der neutral-beschreibende Begriff vom „Narrativ“, auf den sich El Ouassil, Karig und auch Hillje beziehen, in der Alltagssprache längst von einer abwertenden Verwendung verdrängt. Was meint wohl einer, der über das „Narrativ vom Klimawandel“ spricht, oder über das „Narrativ von der globalen Pandemie“? Das Wort ist, wie vor ihm schon die „Ideologie“, zum Synonym für Betrug und Verblendung geworden.

  3. Ich bin absolut nicht mit der Herleitung einverstanden. Ich kann mir „Image“, „Spin“ und erst recht „Manifest“ nicht ohne Narrativ vorstellen.
    Die Erklärung, warum eine Regierung macht, was macht kann ich mir hingegen sehr gut ohne Narrativ vorstellen.

    Beispiel „Wir schaffen das“.
    Kein Narrativ wäre: „Merkel will bis zu 1 Mio. Flüchtlinge, die an der Grenze warten aufnehmen und hält dies für national bewältigbar“.
    Zwei Narrative wären:
    „Merkel will deutsches Erbgut ausrotten und holt dafür Bereicherer ins Land“ oder „Ende der Unmenschlichkeit – Endlich verteidigt Merkel die Werte, die sie vor sich her trägt“

    Alles lässt sich mir einer Story versehen, die in einer bestimmten Zielgruppe bestimmte Reize auslösen soll (kaufen / wählen). Ob das nun die Erklärung ist „warum eine Regierung etwas tut“ oder eben ein Spin, Manifest oder ein Image.
    Und das passt auch viel besser zur „homo narrans“ Theorie.

  4. Kann ja sein, dass das so definiert wird, aber das Wort „Narrativ“ wird meistens anders verwendet: „Geschichte, die sich jemand ausgedacht hat, die aber viele Leute glauben.“

    Gibt’s da noch einen Hasswortartikel zu?

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