Instagram-Projekt

Wenn eine naiv imaginierte Sophie Scholl über die Judenverfolgung redet

Ende September hat das ARD-Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ seinen ersten Preis eingeheimst: den Sonderpreis des „Bunte New Faces Award“. „Wie Leben und Schicksal von Sophie Scholl, ihres Bruders Hans und ihrer Mitstreiter in der Weißen Rose mit den Instrumenten von Instagram erzählt werden, ist mutig, innovativ und emotionaler als jedes Geschichtsbuch“, heißt es in der Begründung der Jury.

Auf dem Kanal können Nutzer:innen seit knapp sechs Monaten das Leben der Widerstandskämpferin Sophie Scholl im Jahr 1942 live verfolgen. „Emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit“ sollen ihre letzten zehn Lebensmonate erzählt werden. Zumindest steht es so auf der dazugehörigen Webseite des SWR.

Gerade diese radikale Subjektivität hat am Freitag vergangener Woche – nicht zum ersten Mal – ihre Schwächen gezeigt. In einer Fragestunde konnten Nutzer:innen ihre Fragen an „Sophie Scholl“ stellen – und die antwortete dann. Es kommen Fragen zu ihrem Lieblingsbuch, ihrem Glauben oder ihrer Zeit im BDM.

Spannend wird es bei der Frage „Was glaubst du, passiert gerade mit den Juden?“

„Sophie Scholl“ antwortet:

Hitler macht seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland sehr schwer: Die Ausgrenzung zieht sich durchs ganze Leben.

An der Universität dürfen Jüdinnen und Juden schon seit 1938 nicht mehr studieren.

Im gleichen Jahr, am 9. November, gab es schlimme Ausschreitungen in ganz Deutschland und Österreich. Synagogen brannten, Geschäfte wurden zerstört, Menschen gedemütigt und ermordet.

Ich verstehe, dass man niedrigschwellig ansetzen möchte. Dass man einfache, schnell verstehbare Sätze braucht in sozialen Netzwerken. Aber allein der Satz „Hitler macht seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland schwer“ ist ein einziger Euphemismus.

Ja, Hitler hat als Diktator die Gesetze erlassen, die Jüdinnen und Juden in Deutschland entrechtet haben. Aber die Entmenschlichung und Verfolgung, die alltägliche Diskriminierung, dafür haben Millionen Deutsche täglich selbst gesorgt. Der Antisemitismus war tief verankert in Deutschland. Nicht wenige Deutsche haben begeistert mitgemacht, als es darum ging, Jüdinnen und Juden zu enteignen, sie in Judenhäuser umzusiedeln, um sich ihren Besitz unter den Nagel zu reißen und sich an ihnen zu bereichern. Auch die Industrie hat ihren Teil dazu beigetragen, nicht zuletzt durch Zwangsarbeit unter Bedingungen, die den Tod der Menschen zwangsläufig zur Folge hatte.

Nicht Hitler allein hat den Jüdinnen und Juden „das Leben schwer gemacht“. Es waren die Bürgerinnen und Bürger.

Dürftige Umschreibung

Die Umschreibung „das Leben schwer machen“ ist ohnehin eine sehr dürftige Beschreibung dafür, dass in den Presseorganen des nationalsozialistischen Staates gezielt Hass auf eine Bevölkerungsgruppe geschürt wurde, die damit mehr und mehr entmenschlicht wurde und individuellen Angriffen schutzlos ausgeliefert war. Die Normalisierung des Judenhasses war allgegenwärtig. Mit der „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“, die am 19. September 1941 in Kraft trat, waren alle Jüdinnen und Juden zum Tragen des sogenannten „Judensterns“ verpflichtet. Deutsche jüdischen Glaubens wurden gedemütigt, ermordet und ohne jeglichen Prozess weggesperrt.

Das ist nicht „das Leben schwer machen“. Das ist Verfolgung mit dem Ziel der Vernichtung.

Konnte Sophie Scholl das 1942 wissen? Ja, ich denke schon. Jeder in Deutschland, der es wissen wollte, konnte es wissen. In den Widerstandsgruppen zirkulierten Schriften, die genau darüber aufklärten. In einem Augenzeugenbericht in der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“ von Dezember 1938 heißt es:

„Die ganze Welt ist tief erregt über das, was in Deutschland geschieht. Das Wort ‚Pogrom‘ ist in aller Mund. Man glaubt, damit die Ausschreitungen als besonders barbarisch zu kennzeichnen. Aber man erkennt nicht, dass das, was da geschehen ist, schlimmer ist als ein Pogrom.“

Der Kameradschaftskreis hatte weitreichende Verbindungen ins nationalsozialistische Deutschland und zu anderen Widerstandskämpfern im europäischen Exil. Unter anderem zu Eberhard Koebel, dem Gründer der Jungenschaft dj.1.11, deren Ulmer Gruppe auch Hans Scholl angehörte. Und so ist möglicherweise auch Sophie Scholl damit in Berührung gekommen oder hat in Diskussionen vom Inhalt erfahren. In einem Artikel dieser Ausgabe werden sehr dezidiert die Vorgänge des 9. November 1938 beschrieben. Und es gab weitere Zeitschriften dieser Art.

„Schlimme Ausschreitungen“

Immerhin wird im folgenden Slide etwas genauer gesagt, was mit „das Leben schwer machen“ gemeint ist. Statt von „Pogrom“ ist von „schlimmen Ausschreitungen“ die Rede. Auf Nachfrage dazu kommentiert #TeamSoffer – das Kennzeichen, dass hier die Redaktion antwortet und nicht die impersonierte Sophie Scholl – das Wort „Pogrom“ sei 1942 noch nicht geläufig gewesen. Zahlreiche Quellen belegen allerdings das Gegenteil, worauf eine Nutzerin hinweist.

Im darauffolgenden Slide heißt es dann:

„Aus Deutschland werden Jüdinnen und Juden mit eigenen Zügen in den Osten gebracht. Mitnehmen dürfen sie kaum etwas. Was dort mit ihnen geschieht, werden wir erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben.“

Die fiktive „Sophie Scholl“ weist auf etwas hin, das in der Zukunft liegt. Eine Zukunft, die sie selbst nicht erleben wird. Gut, das weiß sie zu dem Zeitpunkt nicht. Ebensowenig, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Das war aber immerhin ein gängiges Gerücht in Widerstandskreisen. Dass danach aber eine umfassende Aufarbeitung stattfinden würde, können weder die reale noch die fiktivste Sophie Scholl wissen.

Klar, jetzt kann man argumentieren, dass das ganze Ausmaß der industriellen Vernichtung erst nach dem Krieg bekannt wurde. Und möglicherweise trifft das auch auf Sophie Scholl zu. Es gibt aber nicht wenige Belege, die vermuten lassen, dass die Scholls über einiges an Wissen verfügten. Ich finde allein in der Scholl-Biografie der Historikerin Maren Gottschalk gleich mehrere Textstellen, die belegen, dass die Familie Scholl ziemlich genaue Vorstellungen davon hatte, was da vor sich geht. Bereits im Sommer 1940 erzählt eine ehemalige Arbeitskollegin von Mutter Lina Scholl, dass in einem Heim in Grafeneck behinderte Menschen systematisch ermordet werden.1)Maren Gottschalk, „Wie schwer ein Menschenleben wiegt“, S.176). Es handelt sich hier um die erste dezidierte Vernichtungsanstalt, in der Menschen innerhalb des „Deutschen Reiches“ industriell ermordet wurde – hier wurden u.a. die spätere Vernichtung der Juden erprobt, umgesetzt von der „normalen“ ärztlichen und pflegerischen Belegschaft. Methoden: Vergasung. Auf lokaler und regionaler Ebene war das Morden in Grafeneck öffentlich geworden. Es gab Proteste von Angehörigen, Anstalten und Kirchen. Das Ziel, circa 10.000 Patienten zu ermorden, wurde erreicht.

In einem Bericht von Sophies Schwester Inge, die in der Instagram-Soap eine Rolle als eifersüchtiges, hausbackenenes Gegenstück zur Protagonistin erhält, heißt es: „Verbrennung von Geisteskranken […] Juden werden in KZ’s vergast. Dunkle Tage. Hans hüllt sich in Schweigen, als ich ihm davon erzähle.“ Laut Quellenangabe ist der Bericht von November 1941.

Die Familie Scholl erfuhr schon im August 1941 Details über die Ermordung von Juden hinter der Ostfront.

Nahrung für ein längst widerlegtes Narrativ

Vor diesem Hintergrund Sophie Scholl die Worte in den Mund zu legen, „werden wir erst erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben“, grenzt meiner Meinung nach an Geschichtsrevisionismus. Und es wiederholt exakt das, wovor Historiker:innen warnen, die in großer Zahl das Projekt genau wegen solcher Aussagen kritisieren: Nämlich, dass ein längst widerlegtes Narrativ neue Nahrung erhält. Das Narrativ, unsere Vorfahren hätten von nichts gewusst. Es ist einfach nicht wahr.2) vgl. dazu auch Bernward Dörner: „Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte“, Berlin 2007, sowie Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945“, München 2006 Und es lässt sich auch in der Geschichte von Sophie Scholl belegen.

Im nächsten Slide schreibt „Sophie“:

Fritz hat mir geschrieben, dass sein Kommandeur von der Ermordung aller Jüdinnen und Juden Russlands redet und es gutheißt. Gott, steh uns bei!

Im Brief von Fritz Hartnagel, auf den sie hier anspielt mit Datum vom 26. Juni 1942, geht es nicht nur um „Gerede“, wie man hier mutmaßen könnte. Das sind keine Gerüchte, die Sophie Scholl von der Front hört. Im Original heißt es:

„Es ist erschreckend mit welcher zynischen Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Rußland erzählt hat und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist. Ich saß mit klopfendem Herzen daneben.“

Sophie Scholl wird unwissend geschrieben

An den hier aufgeführten Quellen gibt es einen berechtigten Kritikpunkt: Die meisten dieser Quellen beziehen sich nicht direkt auf Sophie Scholl, sondern auf Familienmitglieder. Der verantwortliche Redaktionsleiter Ulrich Herrmann schreibt richtigerweise: „Fakt ist, dass wir in den Tagebüchern, Briefen, Handschriften Sophie Scholls so gut wie keine persönlichen Äußerungen zum Thema Verfolgung, Deportationen und Holocaust finden.“

Ich möchte dem entgegenhalten, dass Sophie Scholl dennoch nicht im luftleeren Raum existiert hat. Natürlich muss sie nicht notwendigerweise wissen, was ihre Geschwister wissen. Aber sie deshalb so unwissend zu schreiben, halte ich für ebenso falsch.

Immerhin: In die Wochenzusammenfassung, die man sich inzwischen auch in der ARD Mediathek ansehen kann, sind die problematischen Slides nicht mit aufgenommen worden. Sie sind nach 24 Stunden sang- und klanglos vom Account verschwunden.

Späte Reaktion

Eingeordnet werden konnten sie im Übrigen nicht. Denn Stories können nicht kommentiert werden. Deshalb haben sich einige Nutzer:innen die Mühe gemacht, die Kontexte unter den Post einer tanzenden Sophie zu schreiben. Eine Reaktion von #TeamSoffer darauf gibt es auch vier Tage danach nicht. Erst auf wiederholte Nachfrage nach einer Stellungnahme der Redaktion per Mail kommentiert #TeamSoffer am Dienstagabend und reagiert erstmalig auf die Kritik der Nutzer:innen. Laut Aussage der Redaktion war das erhöhte Kommentaraufkommen der Grund dafür, dass sich die Beantwortung der Kommentare hinausgezögert hätte. Besonders viele User:innen hätten um Einordnung per Direktnachricht gebeten, heißt es. Das habe man priorisiert. (Auch priorisiert hat man das Liken und Beantworten positiver Kommentare in den Posts der vergangenen drei Tage.)

Auf die Kritik zum Slide mit der Umschreibung „das Leben schwer machen“ antwortet die Social-Media-Redaktion, sie hätte zur Einleitung des Themas gedient. Die Kritik an der Wortwahl könne man nachvollziehen, aber man hätte die Nutzer:innen auf „möglicherweise triggernden Content zum Holocaust vorbereiten“ wollen. Relativierende Äußerungen zur Shoa als Triggerwarnung zu verkaufen – darauf muss man erst mal kommen.

Geradezu perfide ist der Hinweis darauf, man traue den Nutzer:innen des Accounts zu, sich selbst tiefergehend zu informieren. In dieser Form entbindet sich die Redaktion im Prinzip von ihrer Aufgabe, redlich zu recherchieren und zu arbeiten, weil die Community ja immer die Möglichkeit und selbstverständlich das Können hat, sich selbst fortzubilden. Dabei ist es grundsätzlich gut, Nutzer:innen ernst zu nehmen und ihnen auch etwas zuzutrauen. Gleichzeitig richtet sich das Format aber ja explizit an Menschen, die wenig historische Vorbildung haben.

Bilder aus Arbeitslager

Eine Ahnung davon, was mit den Menschen in den Lagern passiert, hat übrigens auch die fiktive Insta-Sophie-Scholl schon. Ende Juni hatte sie gepostet: „Aus den Lagern kommt man nicht mehr raus. Nicht lebend und nicht tot.“ Das hatte eine bemerkenswerte Vorgeschichte.

Damals geht es bei „Ich bin Sophie Scholl“ um die fiktive Freundin Irma, die vor den heftigen Bombenangriffen aus Köln geflüchtet ist. Es werden Fotos der zerstörten Domstadt gespostet, die Irma angeblich mitgebracht haben soll: „Unglaublich schrecklich! Andere Worte finde ich gerade nicht!“ steht im Post darunter.

Gut, dass aufmerksame Nutzer:innen doch noch Worte finden. Denn auf dem letzten Bild des Slides sind zwei Männer zu sehen, die mit freiem Oberkörper und in gestreiften Hosen Schutt wegschleppen. Unter den vielen Lobhudeleien unter dem Account „Tolle Arbeit!“ oder „Fantastisches Projekt“, auf die der Account begeistert eingeht, gibt es nur wenige kritische Nachfragen. Erst nach langem Scrollen wird man fündig: „Sieht man auf dem letzten Bild Menschen aus dem Arbeitslager?? Wenn ja, wie in aller Welt könnt ihr das einfach unkommentiert und unkritisch posten und stehen lassen?“

#TeamSoffer bleibt die Antwort bis heute schuldig. Es sind Nutzer:innen, die diese Einordnung übernehmen. So etwa der Account „nichtsophiescholl“, der das Ereignis erstmals beim Namen nennt. Denn es handelt sich um den „1000-Bomber-Angriff“ auf Köln, der schon am 30. und 31. Mai 1942 stattfand. Als eine der ersten deutschen Städte greift Köln bei den Aufräumarbeiten auf Zwangsarbeiter zurück, die sich neben den Trümmern auch um die Leichenbergung und Entschärfung von Blindgängern kümmern mussten. Der Zugang zu Luftschutzkellern und Bunkern war diesen Arbeitern übrigens verwehrt, während sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Zu diesen Bildern gehört auch, dass die betroffene Kölner Bevölkerung großzügig entschädigt wurde – und zwar mit beschlagnahmten Besitztümern von Jüdinnen und Juden. Ebensowenig erfährt man, was den Angriffen auf deutsche Städte vorausging. Nämlich ein fast zweijähriges Bombardement britischer Städte und Industrieanlagen seitens der Nazis.

Nur wer den Nerv hat, sich durch alle Kommentare zu scrollen, bekommt nach und nach Einblick in die zahlreichen Kontexte, die zu diesen Bildern gehören. Von #TeamSoffer erfährt man dazu nichts. Es gibt auch kein Wort des Dankes für diejenigen, die sich die Mühe machen, Quellen zusammenzusuchen und eben doch noch etwas mehr Kontext zu liefern. Stattdessen müssen sich viele der Kommentierenden gegen Fans verteidigen, die zunehmend persönlich werden. Die Kritik nerve, man wolle hier das Leben von Sophie Scholl verfolgen. Die Inhalte der Kommentierenden hätten nichts mit der Geschichte der Widerstandskämpferin zu tun.

Immerhin gibt es am nächsten Tag einen Post, der die Bilder vom Vortag einordnet. Und die fiktive Sophie Scholl kommentierte die Bilder mit den Worten:

„Auf einem Foto waren Menschen aus Lagern zu sehen. Die werden gezwungen, aus den Trümmern Leichen und Verletzte wegzuschaffen. Wer weiß, wozu sie im Lager noch gezwungen werden … Aus den Lagern kommt man nicht mehr raus. Nicht lebend und nicht tot.“

Nutzer:innen erledigen Arbeit der Redaktion

Redaktion und Community Management – das im Übrigen nicht der SWR selbst macht, sondern VICE Media als externer Dienstleister – haben gegenüber den Anfangszeiten des Projektes einiges verbessert. So gibt es inzwischen in den Kommentaren mitunter einordnende Ergänzungen von #TeamSoffer. Auch Quellen werden hier genannt, etwa Textstellen in den verschiedenen Biografien über Sophie Scholl. Eine Form von Kontext, die wiederholt nachgefragt wurde.

In seltenen Fällen bedankt sich auch das Community-Management – also #TeamSoffer – bei denen, die unermüdlich Kontext liefern und so die Zeit miterzählen, in der sich Sophie Scholl bewegt.

Wenn Nutzer:innen historische Falschaussagen in die Kommentare gießen, schaltet sich #TeamSoffer allerdings nur selten ein, um das zu korrigieren. Mitunter wird Wehrmachtsverherrlichung erst gar nicht erkannt – oder schlicht ignoriert. Auch hier treten Nutzer:innen an die Stelle der Redaktion. Laut Redaktionsleiter Ulrich Hermann ist das übrigens erwünscht. Er schreibt auf Nachfragte: „Bei Instagram gibt es ein zusätzliches Add-On: Der Diskurs über das, was wir tun, ist besonders erwünscht.“ Die Wertschätzung seitens des Community Managements für dieses „Add-On“ lässt allerdings zu wünschen übrig. Es ist in den unüberschaubaren Welten der Instagram-Kommentarspalten auch kaum auffindbar.

In meinen Augen ist das, was hier gemacht wird, weniger Community Management als vielmehr PR oder Produktmanagement. Es geht darum, das Produkt gut aussehen zu lassen. Ein Unterhaltungsprodukt mit dem Ziel, eine Interaktion zwischen einer nahbaren, weil emotional erlebbaren „Sophie Scholl“ und den Nutzer:innen entstehen zu lassen. Auch auf den Seiten des SWR wurden keine Kontexte zur Zeit ergänzt, die das Projekt in irgendeiner Form in eine zeitliche Ebene der Ereignisse auf Basis der erzählten Story einbetten. Auch das hatten Kritiker:innen als Lösung vorgeschlagen, um der Daily Soap um eine Widerstandskämpferin an einigen Stellen mehr Substanz zu verleihen.

Zweifelhaftes Reenactment

All das belegt überdeutlich, wo die Schwierigkeiten liegen, wenn man eine historische Figur als „interactives Reenactment“ inszeniert. Wir können die Kontexte nicht darstellen. Wir erleben nur einen winzigen Ausschnitt dieser Zeit. Kein Davor und kein Danach. Wir erleben eine nahezu naive Inszenierung einer jungen Studentin.

Dabei hat sich die echte Sophie Scholl in ihren Briefen vor allem dadurch auszeichnet, dass sie eine gute Beobachterin ihrer Zeit ist, komplex, tiefgründig, scharfsinnig bis hin zur Gnadenlosigkeit sich selbst und anderen gegenüber in ihren Konklusionen. Und im Prinzip ist es letzteres, was sie ihren Weg konsequent zu Ende gehen lässt. Sie analysiert. Sie hadert. Sie urteilt. Und nach den Ergebnissen dieses Urteils handelt sie auch. Die echte Sophie Scholl denkt nicht nur in aller Konsequenz zu Ende – sie handelt auch danach. Bis zuletzt.

Fußnoten

Fußnoten
1 Maren Gottschalk, „Wie schwer ein Menschenleben wiegt“, S.176). Es handelt sich hier um die erste dezidierte Vernichtungsanstalt, in der Menschen innerhalb des „Deutschen Reiches“ industriell ermordet wurde – hier wurden u.a. die spätere Vernichtung der Juden erprobt, umgesetzt von der „normalen“ ärztlichen und pflegerischen Belegschaft. Methoden: Vergasung. Auf lokaler und regionaler Ebene war das Morden in Grafeneck öffentlich geworden. Es gab Proteste von Angehörigen, Anstalten und Kirchen. Das Ziel, circa 10.000 Patienten zu ermorden, wurde erreicht.
2 vgl. dazu auch Bernward Dörner: „Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte“, Berlin 2007, sowie Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945“, München 2006

27 Kommentare

  1. Danke für die Kritik. Ich halte dieses Projekt für fatal, weil es so sehr auf Identifikation setzt, dass die zur Erkenntnis nötige Distanz verlorengeht.

    Die jungen Rezipienten sollen sich in eine Person hineinversetzen, die in Wahrheit weit von ihrer Erfahrungswelt und ihren Denkweisen entfernt ist – das geht, wenn man sich die Differenzen bewusst macht; das scheitert, wenn man sie soweit wie möglich zukleistert. Schon die Formel von den „Jüdinnen und Juden“ ist ein Anachronismus: Das ist Gendersprache und wäre in den 40ern keinem noch so kritischen Geist in den Sinn gekommen.

    „Was dort mit ihnen geschieht, werden wir erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben.“

    Es ist unglaublich, wie lange diese Behauptung sich hält. In Wahrheit gab es ab 1941 Radioansprachen (zum Beispiel von Robert Ley), in denen ganz offen von der „Vernichtung der Juden“ gesprochen wurde. Und Viktor Klemperer erwähnt in seinen Tagebüchern schon 1942 sogar den Begriff „Auschwitz“ . Mit einer ziemlich zutreffenden Vorstellung, was dort passiert.

    Das Vernichtungswerk hatte tausende Täter und zigtausende Mitwisser. Sowas lässt sich nicht geheimhalten.

  2. Wer was wann gewusst hat, ist eigentlich nur eine Nebenfrage – sollte von allen möglichen Menschen der Nazizeit nicht ausgerechnet Sophie Scholl gewusst haben, was in den Flugblättern steht, die sie verteilte? Wogegen genau hat sie sonst überhaupt rebelliert?
    In Flugblatt #2 werden explizit 300.000 bestialisch ermordeten Juden in Polen genannt. (Jaaa, das ist tatsächlich auch verharmlosend, aber trotzdem…)

    „Wir bitten Sie, diese Schrift in möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und weiterzuverteilen!“ ist das alte „Bitte Retweet für Reichweite.“ So unterschiedlich waren die Zeiten also nicht.
    Dieses unnötig Betuliche macht die Sache kaputt, nicht die Idee als solche.

  3. zu #1: Sicher war Gendern damals nicht üblich, aber es war auch nicht vollkommen undenkbar, dass zumindest die beiden Geschlechter m und w addressiert wurden. Selbst Goebbels spricht in seiner Sportpalastrede von „Rüstungsarbeitern und -arbeiterinnen“.

  4. Wenn im Flugblatt von 300.000 toten Juden die Rede ist, sollte das heißen, dass Jüdinnen am Leben gelassen wurden? Oder das zusätzlich zu den 300.000 männlichen Juden auch noch 300.000 weibliche ermordet wurden, die aber von der Weißen Rose unsichtbar gemacht wurden, weil…?
    Oder könnte das einfach ein Beleg dafür sein, wie die Mitglieder dieser Gruppe über genau diese Menschen geschrieben haben, die im obigen Zitat genannt wurden?

  5. > Ebensowenig erfährt man, was den Angriffen auf deutsche Städte vorausging. Nämlich ein fast zweijähriges Bombardement britischer Städte und Industrieanlagen seitens der Nazis.

    „… seitens der Deutschen.“

    In einer Wehrpflichtarmee muss übrigens man nicht das richtige Parteibuch sondern das falsche Geschlecht haben, um beim Töten (und Sterben) dabei zu sein.

  6. Vielen Dank für den Artikel! Ich hatte mich auf das Projekt zunächst wirklich gefreut und war wegen der durchgehenden Banalität und der Inszenierung als beinahe #lifestyle Account schnell irritiert. Über Kommentare anderer User:innen habe ich dann immer mehr mitbekommen, dass ganz erhebliche Teile der Erzählung fiktiv sind.. und Sophie Scholl dadurch auch ganz anders rüberkommt, gefällig und Instagram-tauglich halt.
    Der Widerstand spielt kaum eine Rolle, außer es geht um (fiktive) DetektivGeschichten mit verschlüsselten Botschaften in Büchern und Reiseroutenplanungen mit Knöpfen!??

    Ich mein‘ das wäre grds schon sehr ärgerlich (und würde Sophie Scholl nicht gerecht), weil das „Versprechen“ Sophie begleiten zu können und eine andere Facette von ihr kennenzulernen, nicht eingelöst wird (und dabei geht es mir nicht darum, dass überhaupt fiktive Anteile dabei sind, sondern deren immens hoher Anteil und dass Sophie einen ganz Eindruck vermittelt, als man ihn in Biografien bekommt – wie ich mir mittlerweile auch selbst erlesen habe).

    Aber im Vergleich zu Erzählungen, die die Zeit als solche betreffen wie das hier thematisierte Q&A, ist das ja beinahe schon „harmlos“ und vernachlässigbar.
    Ich empfinde bei solchen Teilen der Geschichte Fremdscham und Gefühl, als ob ich mich selbst (neu) mitschuldig machen würde.

    Und sehr ärgerlich finde ich vor allem, dass sich die Macher:innen penetrant weigern, sich dieser Kritik zu stellen. Die wird nämlich fast immer damit abgetan, dass das Projekt als Ganzes abgelehnt würde… dass die idR sehr differenziert vorgetragenen Kritikpunkte – wie hier – eigtl nie das Gesamtprojekt als solches betreffen, sondern meines Wissens immer die Art der Umsetzung bzw bestimmte Aspekte davon betreffen, wird überhört. Oder Kritik wird – wie auch hier erwähnt – damit abgetan, dass man den User:innen nix zutraue, wenn man Kontext… erbittet – wahrscheinlich weil die selber alle Schwachstellen/Relativierungen/Lücken/fiktiven Stellen erkennen und eigenständig weiter recherchieren können, wenn sie es interessiert. Also so müsste es ja sein, wenn man so argumentiert.
    In der Praxis sieht man (und weiß das auch wenn man sich ja ab und an auf Insta bewegt), dass ein Großteil der User:innen alles dort erfrägt. Das genaue Rezept zum Honigbrot zB oder zum 100. Mal – wo sich denn gerade Werner und Elisabeth Scholl befänden..
    Luna Wedler sagte zB vor kurzem in einen Interview für das Schwäbische Tagblatt, dass „Kritik am Projekt häufig von Leuten (kommt), die sich noch nie mit Instagram beschäftigt haben. Soziale Medien sind nicht nur dummes Zeug, es kommt darauf an, wie man es nutzt. Instagram ist das perfekte Format, jüngere Leute darauf aufmerksam zu machen und Sophie Scholl nicht nur als Heldin, sondern als junge Frau zu zeigen.“

    Ich sehe das so:
    Ja, Instagram ist nicht nur dummes Zeug. Und man kann den User:innen durchaus etwas zutrauen. Tiefer gehenden Content als Honigbrot und Reiseplanungen z. B.

  7. zu #4: Meine Anmerkung bezog sich ausschließlich auf die Aussage „Das ist Gendersprache und wäre in den 40ern keinem noch so kritischen Geist in den Sinn gekommen.“ Ist in dieser Absolutheit mMn nicht korrekt, auch wenn ich im von mir zitierten Kontext weder von Gendern im heutigen Sinn noch von einem kritischen Geist sprechen würde. Es ist einfach nur ein Beleg dafür, dass die explizite Erwähnung von männlicher UND weiblicher Form in einem Satz für die damalige Zeit nicht vollkommen ausgeschlossen war.

  8. Goebbels hat das wohl gemacht, weil a) die Rüstungsarbeiterinnen auch zuhörten und er b) mehr Frauen in der Rüstungsindustrie wollte (um Männer zur Front schicken zu können).
    Welches von diesen Motiven würde auf Sophie Scholl bzgl. der Juden zutreffen?
    Bzw würde sie wenn, dann nicht eher sowas sagen wie: „Jüdische Männer, Frauen und Kinder!“, um bei ihrem imaginierten zeitgenössischen Publikum mehr Mitleid zu erzeugen?
    Das ist nur eine Kleinigkeit, aber Teil des Problems:
    Es fühlt sich naiv und auch ein bisschen anbiedernd an, wenn einer Frau, die vor hundert Jahren geboren wurde, moderne Sprache in den Mund gelegt wird.

  9. Ich finde es einigermaßen unfassbar, wie schnell hier „Gendersprache“ als scheinbares Problem dieses Projekts ausgemacht wurde.

    In ihrer finalen Verhörung hat die reale Sophie Scholl es wohl auch nicht lassen können, diesen Nazis (das ist hier historisch korrekt, oder? Keine Keule?) ihr links-grünes virtue signaling um die Ohren zu hauen:

    „In München haben wir neuerdings etwa 1200 Flugblätter mit der Überschrift „Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ in der Zeit vom 6.-15.2. vervielfältigt, die Briefumschläge bezw. Wurfsendungen mit Anschriften versehen und versandfertig gemacht.“

    https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61044/verhoerprotokoll-sophie-scholl?p=all

    Andererseits steht ja die bpb auch immer mal wieder im Verdacht von wortwörtlich Sozialisten oder so unterwandert zu sein, vielleicht hat ein:e Mitarbeiter:in auch Sophies Worte verändert, weil sie ihr nicht politisch korrekt und links genug waren?

    Ja, weder Sarkasmus noch überhaupt drauf einzugehen ist hilfreich, aber ich wurde hier gerade etwas getriggert. Gendert einfach selbst nicht, lasst den anderen ihre Freiheit es zu tun und wendet euch mal wirklich wichtigen Themen zu.

  10. Wenn man _zu_ einer Gruppe spricht, verwendet man beide Formen. Wie in dem Flugblatt. Wenn man das auch dann tut, wenn man _über_ eine Gruppe spricht, ist das Gendersprache.
    Das ist nicht der einzige Anachronismus. Andere waren bspw. „Liebe machen statt Krieg.“ Wenn jemand von den Machern gerne „urst“ sagt, würde soe das sie ja auch nicht sagen lassen. Hoffentlich.

    Das ist mindestens handwerklich schlecht, aber wenn das im Zusammenhang mit Verharmlosung vorkommt, ist das ein Zeichen, dass die Macher das nicht ernst nehmen.

  11. Also ich bin ja nun wahrlich kein Gegner des Genderns, aber hier haben KK und Mycroft einfach recht. Die historische Sophie Scholl hätte in so einem Zusammenhang hundertprozentig nicht von „Jüdinnen und Juden“, sondern von „Juden“ gesprochen oder geschrieben. (Genauso wie ich hier „hundertprozentig“ schreibe und nicht „safe“.) Will man Sophie Scholl halbwegs historisch korrekt darstellen, sollte man das auch sprachlich tun. (Was ja nicht schwer ist, weil die Sprache damals unserer doch extrem ähnlich ist – bei einem Projekt zu, sagen wir, Thomas Müntzer wäre das schon wesentlich schwieriger…) Das nicht zu tun, zeugt von einer gewissen Wurschtigkeit.

    Es sei denn, das Projekt erhebt gar nicht den Anspruch historischer Genauigkeit, sondern möchte eine Sophie Scholl zeigen, „wie sie heute wäre“. Damit würde man aber nur die Illusion bedienen, dass Personen außerhalb ihres historischen und gesellschaftlichen Kontextes denkbar seien.

  12. Ich finde den Aspekt der zeitgemäßen Sprache zwar durchaus interessant, verstehe aber die Kritik nicht so ganz, dass Sophie Scholl so nicht geschrieben hätte. Sie hätte überhaupt nicht auf Instagram gepostet. Die ganze Grundannahme dieses Projekts ist anachronistisch, da finde ich die hundertprozentige sprachliche Korrektheit eher zweitrangig. Niemand hat damals auf Social Media gepostet, und selbst wenn das möglich gewesen wäre, hatte niemand auch nur den Hauch einer Kritik an irgendetwas geäußert, was das Regime und seine Mitläufer trieben, denn sonst hätte nach einer halben Stunde die Gestapo vor der Tür gestanden. Wenn Sophie Scholl in diesem Projekt also Insta-Posts abgesetzt, dann ist es von vornherein nicht authentisch und von modernem Verhalten durchsetzt.

  13. @Earendil (#11):

    „Damit würde man aber nur die Illusion bedienen, dass Personen außerhalb ihres historischen und gesellschaftlichen Kontextes denkbar seien.“

    Das ist, finde ich, das Kernproblem. Die Leute identifizieren sich mit einer fiktionalisierten Figur, die so redet, schreibt und denkt wie sie – und gleichzeitig wird ihnen der Eindruck vermittelt, es handele sich um eine historische Persönlichkeit. Das geht mit Ansage schief.

    Am schrägsten fand ich diese Zeichnung von Fake-Sophie, die ein Pärchen beim Sex zeigt, versehen mit der Parole: „Liebe machen, nicht Krieg“. Diesen Slogan haben amerikanische Hippies in den 60ern erfunden („Make love, not war“). Einer katholisch geprägten Deutschen der 40er wäre weder der Vögeln-für-Frieden-Gedanke in den Sinn gekommen, noch hätte sie den Anglizismus „Liebe machen“ verwendet.

    Wer so mit Geschichte umgeht, vermittelt weder eine Vorstellung von der echten Sophie Scholl, noch ein Gefühl für die Epoche.

    @Jan (#9):

    „Andererseits steht ja die bpb auch immer mal wieder im Verdacht von wortwörtlich Sozialisten oder so unterwandert zu sein, vielleicht hat ein:e Mitarbeiter:in auch Sophies Worte verändert, weil sie ihr nicht politisch korrekt und links genug waren?“

    Sorry, aber als rechter Pappkamerad stehe ich nicht zur Verfügung.

  14. @#12:
    Wenn man ein heutiges Medium verwenden will, um heutigen Menschen die damalige Zeit und insbesondere eine damalige Frau nahezubringen, dann ist das einfach eine künstlerische/journalistische/pädagogische Herausforderung. Eine gewisse Abstraktionsfähigkeit beim Publikum mal vorausgesetzt.

    Wenn „Insta“ jetzt aber ein Argument sein soll – ist das nicht ein Argument gegen das Projekt als solches? Dann kann man sich auch einfach Wissen bei Tante Wiki anlesen.

  15. zu #14: Ich habe nicht gesagt, dass die Idee an sich schlecht ist, eine historische Person basierend auf ihrer Vita, aber dennoch fiktiv, modernes Social Media nutzen zu lassen, um sie so einem jüngeren Publikum näherzubringen. Das ist schon etwas anderes, als sich Wissen einfach anzulesen.
    Meine Argumentation zielte darauf ab, dass, wenn man sich auf diese Grundidee einlässt, man dann doch von vorneherein einen gewissen Anteil fehlender Authenzitität akzeptiert. Man akzeptiert, dass man dieser Person ein Kommunikationsmittel an die Hand gibt, dass ihr nicht zur Verfügung stand. Man akzeptiert, dass sie darüber Dinge kritisiert, die man damals nicht öffentlich hätte kritisieren können. Wo dann die Grenze liegt zwischen dem, was man bei der Darstellung dieser Person noch als authentisch akzeptiert oder nicht, entscheidet jede:r selbst, aber für mich wäre es dann auch kein allzu großes Problem, wenn die Sprache nicht immer hunderprozentig passt / gelungen ist. Wichtiger finde ich tatsächlich, dass die Person von ihrem Wesen und ihrer Denkweise her und in ihrem historischen Kontext möglichst korrekt dargestellt wird. Die Aspekte, die in den beiden Beiträgen bei Übermedien kritisiert werden, finde ich da für mich persönlich wesentlich relevanter, als wenn die Ausdruckweise mal ins heute Übliche abrutscht. Da kann ich ein paar Augen zudrücken. Das mache ich doch sowieso zig-fach, wenn ich mich auf ein solches Projekt einlassen. Und ich weiß ohnehin nicht so genau, welche Ausdrücke und Sprechweise damals üblich war. Das fällt mir im Zweifel gar nicht auf, wenn da etwas sprachlich nicht hunderprozentig passt. Und damit meine ich jetzt nicht Slogans wie „Make Love not War“ oder Wörter wie „urst“, die man mit eindeutig einer späteren Friedensbewegung aus den USA bzw. der DDR-Jugendsprache zuordnen kann. Und eine Genderstern wäre auch mir komisch vorgekommen. Die Verwendung von „Jüdinnen und Juden“ jetzt nicht unbedingt.

  16. „wenn man sich auf diese Grundidee einlässt, man dann doch von vorneherein einen gewissen Anteil fehlender Authenzitität akzeptiert.“ Einen gewissen Anteil, ja. Eigentlich nur das, was sich aus diesem speziellen Format zwangsläufig ergibt. Schon die „share für Reichweite“-Formulierung könnte man durch einen authentischen, belegten Satz ersetzen. Man würde die Gemeinsamkeiten _und_ Unterschiede zu heute erfahren.
    „Man akzeptiert, dass man dieser Person ein Kommunikationsmittel an die Hand gibt, dass ihr nicht zur Verfügung stand.“ Ja, aber das kann kein Blanko-Freibrief sein. Bzw., diese Freiheiten gehen ja noch weiter als nur anachronistische Formulierungen.
    „Man akzeptiert, dass sie darüber Dinge kritisiert, die man damals nicht öffentlich hätte kritisieren können.“ Und spätestens DA ist doch die Grenze, wo die Imitation aufhört, Sinn zu ergeben. Scholl HAT öffentlich Dinge kritisiert und ist exakt dafür enthauptet worden. Die Idee der Insta-Imitation kann doch nur sein, dass die künstliche Sophie sich alles traut zu sagen, wass die echte Scholl wusste oder dachte, und nicht, dass sie genau die Dinge verharmlost, wegen denen sie Flugblätter verteilt hat. _Oder_ die Idee ist, dass das Publikum tatsächlich ein Haufen Nazispitzel sei, aber der Account hieße dann nicht Sophie Scholl, sondern SS-21.
    Wenn es nur die Sprache wäre, aber der Rest ungefähr passen würde, würde ich Ihnen Recht geben, aber offenbar stimmt das Gesamtpaket nicht.

  17. „Scholl HAT öffentlich Dinge kritisiert.“ Richtig, aber zusammen mit anderen anonym unter dem Pseudonym „Weiße Rose“, nicht öffentlich unter ihrem eigenen Namen. Das ist ja wohl nicht dasselbe wie ein Social-Media-Kanal unter eigenem Namen. Da hätte sie das alles so nicht geschrieben, wäre das damals überhaupt möglich gewesen.

    „Die Idee der Insta-Imitation kann doch nur sein, dass die künstliche Sophie sich alles traut zu sagen, wass die echte Scholl wusste oder dachte, und nicht, dass sie genau die Dinge verharmlost, wegen denen sie Flugblätter verteilt hat.“ Aber wohl an ein heutiges Publikum gerichtet, um diesem die historische Person näherzubringen. Mir jetzt noch vorstellen zu sollen, ihre fiktiven Posts richteten sich an ein zeitgenössisches Publikum, verlangt mir dann doch zu viel Fantasie ab. Und da ich diese nicht habe, stört mich eben auch nicht, wenn die Sprache nicht immer korrekt sitzt.

    Irgendwie verzetteln wir uns hier. Ich bin nicht auf Social Media aktiv, kenne das Projekt nur durch die Kritik bei Übermedien und es ist mir auch nicht sooo wichtig. Fand die Diskussion um ihre Sprache (neben anderen hier in den Kommentaren genannten Aspekten und den Beiträgen selbst) recht interessant, habe dazu aber eigentlich nichts weiter Sinnvolles beizutragen. Danke für den Meinungsaustausch.

  18. Die notwendigen Zugeständnisse an das Format (Instagram) entschuldigen aber nicht die darüber hinausgehenden Fehler und Schludrigkeiten. Von Marginalien wie gegenderter Sprache über Anachronismen wie „Liebe machen, nicht Krieg“ (auch inhaltlich bei der historischen Sophie Scholl undenkbar, wie KK schon schrieb) bis zu der im Artikel kritisierten Zumutung, ausgerechnet Scholl quasi als Kronzeugin des ollen „wir haben ja nichts gewusst“ zu präsentieren, hat das alles nichts mit Instagram zu tun.

  19. Die Diskussion zu ihrer BdS-Zeit gab’s ja schon.
    Aber ja, dieselben Menschen, die sie unnötig modernisieren, werden diese Aspekte bestimmt ganz toll einordnen. Hurra für Gendern und urst.

    Persönlich nervt mich die Idee, dass Scholl nichts gewusst haben soll, am allermeisten. Selbst als Versuch, dem Rest von Deutschland eine Ausrede zu geben, ist das sinnlos.

  20. Hauptsache, man hat noch mal „gendern“ gesagt? Das Wort kommt im Text übrigens 0 Mal vor. Kommentar #1 hat das „Thema“ erst angerissen.

    Es gibt so viel an der Darstellung der historischen Person Sophie Scholl zu kritisieren, und das Problem soll jetzt sein, dass sie ja niemals „Jüdinnen und Juden“ gesagt habe (n würde)?
    Noch mal: Ernsthaft? Hat irgendwer den Text hier oben überhaupt gelesen? Ist das hier neuerdings ein CXU / AfD Stammtisch?

  21. @#21: Kommentar #1 hat auch noch andere Dinge angerissen. Und denen mehr Text eingeräumt als der von ihm als „anachronistisch“ empfundenen Formulierung.

    Dass dann viele der weiteren Beitragenden größtenteils bzw ausschließlich auf diesen Teil des Kommentars anspringen, lässt sich meiner unmaßgeblichen Meinung nach nur sehr eingeschränkt (wenn überhaupt) #1 anlasten.

  22. #Anderer Max
    Sie packen jetzt ernsthaft gegenüber Leuten mit denen Sie hier schon jahrelang diskutieren die AfD-Keule raus?
    Die große Überschrift der Artikel von Frau Hespers ist doch der problematische Transport einer historischen Person in die heutige Zeit. Dazu gehört auch, dass man Sophie Scholl, vielleicht unabsichtlich, Worte in den Mund legt, die sie so vermutlich nicht gesagt hätte. Dazu gehört eben als ein Beispiel das gendern.
    Wobei ich persönlich glaube, sie könnte das durchaus so gesagt haben um den von den Nazis entmenschtlichen“Juden“ so die Persönlichkeit und Individualität zurückzugeben, soviel empathische Reflexion traue ich ihr zu.
    Aber man darf es zur Diskussion stellen ohne gleich in die Nähe der AfD gerückt zu werden.
    Kein schöner Move von Ihnen, um einen Ausdruck zu verwenden den Sophie Scholl bestimmt nicht kannte.

  23. Die von #1 als nicht authentisch kritisierte Sprache war ein Aspekt von mehreren. Dass ich und andere den aufgegriffen haben, liegt wohl daran, dass das Thema bei einigen auf Interesse gestoßen ist. Deshalb jetzt die ganze Diskussion darauf reduzieren zu wollen und sich darüber aufzuregen, ist schon ein bisschen seltsam. Ich verstehe auch nicht, warum man hier den sprachlichen Aspekt nicht hätte kritisieren dürfen, wenn es eine:n stört, und warum man dann gleich als Anhänger irgendeiner Partei oder als Gegner des Genderns kategorisiert wird. Und selbst wenn man Gendern tatsächlich blöd findet, so what? Darf man doch, und darf man im Zweifel auch sagen. Finde das schon interessant, wie manche hier meinen vorgeben zu müssen, was hier diskutiert werden sollte und was nicht, und was relevant ist und was nicht.

  24. „Das Wort kommt im Text übrigens 0 Mal vor.“ Joah. Haben ja auch nur exakt 0 Personen das Gegenteil behauptet.
    Es gibt andere Kritikpunkte an dem Projekt, die schon an anderer Stelle kritisiert wurden, auch von meiner Wenigkeit, das Gendern ist also nicht der einzige Kritikpunkt oder auch nur der einzige Anachronismus. (Und Sie müssten sich daran erinnern, weil Sie gleich darunter gepostet hatten.) Aber ja, ich sage gerne Gendern. Mit G wie gerngeschehen. Wenn Sie wollen, ist das einfach ein Logik-Bug, der die Immersion zerstört; Ihnen sind andere Dinge wichtiger, schön für Sie.
    Ich habe mehrmals darauf hingewiesen, dass Sophie Scholl tatsächlich „etwas gewusst“ haben „musste“ (300.000 ungegenderte Juden); augendscheinlich ist das ihre ganze Motivation gewesen.
    Ich stelle weiterhin fest, dass den Machern dieses Projektes es für wichtiger halten, dass Juden gegendert werden, ich wiederhole: „gegendert!“, als irgendwie darauf einzugehen, woher oder seit wann sie vom Massenmord wusste, und wie leicht oder schwer man damals genderell an diese Infos gekommen ist.

  25. @Anderer Max (#19):

    „Zur „Diskussion“: Weil da ‚Jüdinnen und Juden‘ steht … Ernsthaft? Also, ernsthaft? Und ‚Liebe machen‘? Ernsthaft?“

    Ja, ernsthaft – wobei ich „Jüdinnen und Juden“ nur als Beispiel für das gewählt hatte, was Earendil später treffend als „gewisse Wurschtigkeit“ bezeichnete.

    „Liebe machen, nicht Krieg!“ ist problematischer, weil der Satz einer anderen Epoche und einem anderen Weltbild entstammt. Das ist, als würde man Pfarrer Niemöller sagen lassen: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Indifferent gegenüber der realen Person und ihren Motiven.

    Scholl wollte ihr Ideal eines humanistisch geprägten christlichen Abendlands verteidigen. Mit Gott und Goethe gegen Hitler und den Krieg. Mit kantischer Pflichtethik gegen die Ignoranz der Massen. Das ist nicht gerade Instagrammable: Mit der Weißen Rose und ihrem Denken kann man locker ein Semester Geschichts-LK bestreiten – eklatante Widersprüche zur heutigen Alltagsmoral inklusive.

    Vermutlich wollten die Macher das Potenzial der Marke „Sophie Scholl“ nutzen, um der Zielgruppe auf unterhaltsame Weise den Charakter der NS-Herrschaft zu vermitteln. Nur geht das halt nicht zusammen: Historische Erkenntnis ist ohne kritische Distanz nicht zu haben. Setzt man auf Identifikation und Betroffenheit, bekommt man Kitsch und Kulturindustrie – bekannt seit den Nazitainment-Shows von Guido Knopp vor 20 Jahren.

  26. Ich stelle das mal einfach in den Raum:
    Es ist keine schlechte Idee, eine inklusive Sprache auch retroaktiv zum Zwecke der Zielgruppenerschließung auf eine historische Person anzuwenden, sofern die Aussagen, die man der historischen Person in den Mund legt, zutreffen.
    Das Problem ist doch, dass das was die Aktions-Sophie-Scholl sagt so niemals von der Person Sophie Scholl gesagt worden wäre. Und nicht wie sie es sagt.
    Mich stört einfach nur der Fokus auf das „gendern“ und dass das nun das große Problem sein soll.

    „Vor diesem Hintergrund Sophie Scholl die Worte in den Mund zu legen, „werden wir erst erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben“, grenzt meiner Meinung nach an Geschichtsrevisionismus.“
    Für mich lesen sich einige der Kommentare, als sei die Ansprache „Jüdinnen und Juden“ der Geschichtsrevisionismus, nicht die Tatsache, dass der Großteil der Deutschen Bevölkerung seit spätestens Mitte ’41 recht genau wusste, was in den Vernichtungslagern geschieht.

    @ #23: Nein, so drastisch war das nicht intendiert. Aber ich wundere mich schon, dass ich der einzige hier zu sein scheine, der ein Ungleichgewicht zwischen Inhalt des Textes und Inhalt der Kommentare feststellt und dem es sauer aufstößt.
    Mich erinnert das an die „Wer hat uns verraten …“ Debatte, die die CXU / FDP gerade nutzen, um die FFF Bewegung in einen (rechten,) antidemokratischen Kontext zu stellen.
    Mit der ursächlichen Kritik der FFF Leute an den neoliberalen Umtrieben der SPD hat das nichts zu tun.
    Falls sich jemand von mir „in die AfD-Ecke gedrängt“ fühlte … war so nicht gemeint und auch nicht formuliert. Was ich meinte mit dem „Stammtisch“ war das Abschweifen vom eigentlichen Thema hin zu einem marginalen Randaspekt des Themas.

    Und ja, es wurde auch im ersten Part der Diskussion nicht ausschließlich über das „gendern“ diskutiert, was ich auch nicht behauptet hatte. Ich war einfach 2 Tage zu spät dran und hätte es einfach stecken lassen sollen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.