Ambitioniertes ARD-Projekt

Sophie Scholl als Insta-Freundin: Das heikle Spiel mit einer historischen Figur

Screenshots: Instagram/@ichbinsophiescholl

Es ist ein gigantisches Projekt, das BR und SWR da für die ARD stemmen. Am 100. Geburtstag von Sophie Scholl tritt diese leibhaftig in unser Leben. Auf Instagram. Tag für Tag erscheinen dort Posts und Stories, in denen uns die spät berufene Widerstandskämpferin ihr Leben erzählt.

Die echte Sophie Scholl wurde am 22. Februar 1943 vom NS-Regime hingerichtet. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und vielen weiteren Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“. Unter @ichbinsophiescholl erwecken Schauspielerinnen und Schauspieler sie, ihre Familie und Freunde zum Leben. Die Einstellungen sind nah, häufig wirkt es, als würden die Schauspieler:innen selbst filmen. Mit einem Smartphone, das 1942 selbstverständlich noch nicht erfunden war. Fiktion eben.

Das Projekt ist enorm ambitioniert und wirklich innovativ. Sein Ziel ist es, die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt zu holen. Die User:innen sollen „emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben.“

Das Projekt nutzt dafür alle Möglichkeiten der Plattform Instagram. Grundlage sind die Aufzeichnungen und Tagebücher von Sophie Scholl ab 1937. Die Geschichte wird fragmentiert und soll über einen Zeitraum von zehn Monaten erzählt werden, mehrdimensional, über Feedposts, über Stories und Bewegtbild. Interaktion mit Nutzer:innen ist wesentlicher Bestandteil. Die können „Sophie Scholl“ zum Beispiel Fragen stellen – oder sie per Abstimmung in Liebesdingen beraten.

Gerichtet ist das Projekt vor allem an junge Frauen, sagt Redaktionsleiter Ulrich Hermann vom SWR. Junge Frauen, die er sich als sogenannte Persona im Vorfeld ausgedacht hat, basierend auf seinem privaten Umfeld. Das heißt, es werden mögliche Nutzerinnen imaginiert, und auf dieser Grundlage entstehen dann Storyboard und Nutzungsszenarien.

Problematische Rolle

Darüber, welche Rolle Sophie Scholl in der Erzählung über den deutschen Widerstand spielt und warum das durchaus problematisch ist, hat sich der Autor Max Czollek bereits ausführlich auf Twitter geäußert – und in einem Artikel für die WOZ.

Hier soll es deshalb darum gehen, welche Fallstricke durch das gewählte Medium auftreten. Und in der Art und Weise, wie hier Sophie Scholl „gespielt“ wird.

„Ungefilterter Blick“

„Wir möchten eine ehrliche und intime Perspektive auf ihren Alltag, ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken ermöglichen, mit denen sich auch unsere Nutzer:innen identifizieren können. So bekommen wir einen ungefilterten Blick in die komplexe, vielseitige (Innen-)Welt von Sophie. Es handelt sich um eine fiktionale Interpretation einer historischen Figur.“

Das schreibt #teamsoffer – der Hashtag, unter dem die Redaktion auf Instagram kommuniziert – unter einen der Kommentare, die sich kritisch mit den Inhalten des Accounts auseinandersetzen. Schon dieser Antwort liegen mehrere Fehlannahmen zugrunde. Der größte Widerspruch: Einen ungefilterten Blick zu bekommen in eine fiktionalisierte Figur. Über die Plattform Instagram, die quasi von Filtern lebt.

Auf diesem Account sind mindestens vier am Werk: Der erste Filter ist die Quelle selbst. Denn Sophie Scholl hat ihren Alltag nicht minutiös dokumentiert, sondern das niedergeschrieben, was sie beschäftigte. Sie zensierte sich dabei auch selbst: Als sie in ihrem Tagebuch im August 1942 von Alexander „Schurik“ Schmorell schwärmte, dem Studienfreund ihres Bruders Hans und Mitgründer der Weißen Rose, schrieb sie: „Eben habe ich eine Seite aus dem Heft gerissen, weil sie von Schurik handelte“.1)Robert Zoske schreibt in seiner Sophie-Scholl-Biographie: „Als ob nicht alles schon kompliziert genug wäre, verliebte sich Sophie in diesen Tagen in den ‚Russen‘ Alexander Schmorell. Die Gefühle müssen so heftig gewesen sein, dass sie am 9. August 1942 ihrem Tagebuch anvertraute: ‚Eben habe ich eine Seite aus dem Heft gerissen, weil sie von Schurik handelte.‘ Dass sie damit nicht ihre Gefühle für ihn tilgen, sondern nur anders einordnen wollte, zeigen die nächsten Sätze: ‚Warum aber soll ich ihn aus meinem Herzen reißen? Ich will Gott bitten, daß er ihm den rechten Platz darin anweise. Darum soll er auch in dem Heft stehen, jetzt wieder.'“ (Sophie Scholl: Es reut mich nichts: Porträt einer Widerständigen. Robert Zoske. S.233) Auch Sophie Scholl hat uns also in ihren Aufzeichnungen nur eine gefilterte Wahrheit ihres Lebens hinterlassen.

Der zweite Filter ist die Umsetzung. Was erzählen wir? Was lassen wir weg? Für welche Zielgruppe erzählen wir? Hier werden redaktionelle und dramaturgische Entscheidungen getroffen. Der dritte Filter sind die Schauspieler:innen. Denn sie interpretieren ihre Rolle nur, sie sind ja nicht diese Personen. Und zu guter Letzt ist das Medium selbst ein Filter. Denn es liefert den Rahmen für die Erzählung, sei es das Hochformat, das Quadrat – oder eben die Art, wie wir dieses Medium nutzen. Stichwort: Selfiemodus. Was wir bei „Ich bin Sophie Scholl“ bekommen, ist nicht Sophie Scholl. Es ist ein Produkt. Ein sehr gut gemachtes Produkt wohlgemerkt. Aber es ist alles andere als ungefiltert.

Ein weiterer Filter in diesem Produkt ist das Community Management. Es verstärkt positive Kommentare, bedankt sich artig für jeden Zuspruch – und ist bei Kritik zurückhaltender. Es hat noch eine weitere wichtige Aufgabe: Es soll die Figur Sophie Scholl auch in den Kommentaren transportieren.

Was weiß Sophie Scholl?

Zeichnung: instagram/@ichbinsophiescholl

Es ist ein Post vom 18. Mai 2021, der mich das erste Mal dazu bringt, selbst etwas in die Kommentare zu schreiben. Zu sehen ist die Zeichnung eines Liebespaars. Er auf einem Stuhl, sie rittlings auf ihm, innig umschlungen. Dazu der Text: Liebe machen statt Krieg. Darunter eine Caption, in der Sophie Scholl ihre Zerrissenheit beschreibt zwischen dieser süßen Annäherung und ihrer Ablehnung der Berufstätigkeit ihres Freundes Fritz, dem Berufssoldaten bei der Wehrmacht, der gerade auf Heimaturlaub ist: vom Krieg, den Deutschland im Mai 1942 fast überall in Europa führt. Ein Krieg, über den wir im Account nichts erfahren.

Was wir auch nicht erfahren: Ist die Zeichnung ein Original von Sophie Scholl? Ist der Text darunter ein Zitat aus einem ihrer Briefe? Erst auf Nachfrage gibt es die Antwort von #teamsoffer in den Kommentaren: Die Zeichnung ist von einer Künstlerin. Der Text sei sinngemäß: „Die Briefe bilden zusammen mit Zitaten und Sophies Tagebüchern in [Ab]Sprache mit Historiker:innen die Basis für unsere Captions. Die Zeichnungen sind von der Künstlerin Édith Carron, inspiriert von Originalzeichnungen.“ Um zu dieser Information zu gelangen, müssen sich User:innen durch viele Kommentare scrollen.

Auf die Frage, warum das nicht schon im Post selbst kenntlich gemacht wird, sondern erst in den Kommentaren, gibt es von der Redaktion die Antwort: Zu viele Informationen im Post würden stören.

Mit der Redaktion direkt sprechen kann ich nicht. Meine Fragen werden per Mail beantwortet. Aber in einem moderierten Webinar der Friedrich-Naumann-Stiftung wird das Projekt vorgestellt. Mit dabei sind Redaktionsleiter Ulrich Hermann, Dr. Maren Gottschalk, Scholl-Biografin und historische Beraterin des Projekts, Schauspielerin Maria Dragus (Inge Scholl) und FDP-Politikerin Linda Teuteberg.

Auf die Frage nach den fehlenden Quellenangaben in den Posts selbst gibt Historikerin Maren Gottschalk zu verstehen, dass Fußnoten junge Follower:innen eher abschrecken würden: „Das finde ich, ist gerade das Besondere, dass wir sagen, wir machen keine Fußnoten. Denn in dem Moment, wo unten im Kommentar erscheint jetzt: „Das kommt daher und das kommt daher und so weiter“ wäre das für die jungen Leute schon wieder komplett out“. Das hätten die Schüler:innen gesagt, mit denen sie in Online-Projekten zuletzt viel über das Format gesprochen hätte.

Das Argument steht auf tönernen Füßen. Beste Gegenbeweise: Die Kanäle von Rezo oder der Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim, die mit ihren Videos auf Youtube Millionen erreichen – und dabei stets zahlreiche Quellen verlinkten. Auch die vielen Nachfragen im Account zeigen: Es fehlt. Würde es nicht fehlen, würde nicht so oft danach gefragt.

Inhalte ohne Kontext

Es stellt sich auch die Frage, was passiert, wenn solche Posts viral gehen. Inhalte, gerade Bilder, werden oft nicht geteilt, sondern einfach gescreenshottet und ohne jeden Kontext weiterverbreitet. Am Ende bliebe dabei eine Zeichnung, die vermeintlich von Sophie Scholl stammt mit dem Spruch „Liebe machen statt Krieg“, der ebenfalls vermeintlich aus dem Tagebuch der Sophie Scholl kommt. Um herauszufinden, dass dem nicht so ist, würde es einiger Recherche bedürfen. Und selbst wenn der Post mit Caption geteilt wird: Für die Antworten müsste ich bislang die ganzen Kommentare durchsuchen. Je nach Post sind das hunderte.

Das Problem liegt in der Plattform selbst: Das Netzwerk lebt von dieser Fragmentierung. Deshalb ist es wichtig, sich nicht nur mit der Produktion, sondern auch der Re-Produktion der Inhalte zu beschäftigen. Und der damit einhergehenden Dekontextualisierung.

Redaktionsleiter Ulrich Hermann schreibt den Begriff vor allem alten Filmkritikern zu, die das Projekt nicht verstanden hätten:

„Ich finde, wenn man das an den historischen Tatsachen orientiert – was wir tun, zweifelsfrei, das steht über allem –, dann glaube ich, ist das legitim das zu tun. Wir erleben hier eine neue Art der Erzählung, der neuen Kommunikation. Das führt immer dazu, dass dann alte Kritiker, sag ich mal, dann eben sagen: Ja, ihr entkontextualisiert. (…) Aber letztlich ist mir das schnuppe (…).“

Dabei kommt ein Großteil der Kritik von jungen Historiker:innen und Pädagog:innen, die die Plattform selbst aktiv nutzen. Man braucht nur mal auf die Profile derer klicken, die da kritisieren. Sie liefern in den Kommentaren den Kontext, der fehlt. Oder der benötigt wird, um das Gesagte, Gezeigte, Gezeichnete überhaupt in die Zeit einordnen zu können. Unbezahlte Bildungsarbeit quasi. Etwas, das eigentlich Aufgabe des Community Managements wäre.

Oh, und falls Sie „Liebe machen statt Krieg“ an irgendwas erinnert: „Make love not war“ findet in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Ablehnung des Vietnamkriegs Eingang in die Popkultur. Das ist eine Vermischung, die auch die Historikerin Sandra Franz im Gespräch mit dem Deutschlandfunk kritisch sieht.

Sophie Scholl hat dagegen nachweislich vor allem wegen religiöser Zweifel mit ihrer Leiblichkeit und Lust gehadert2) Dazu gilt eigentlich das gesamte Kapitel 5 bei Zoske, ab Seite 80, exemplarisch schon: „Sophie wollte eigentlich eine Beziehung ohne körperliche Liebe. Sie fasste diesen Wunsch später in der Frage zusammen, ob Fritz nicht glaube, Verstand und Spiritualität könnten die Sexualität besiegen.“ (Zoske, S. 84) – aber Religion auf Instagram? Wie unsexy. Deshalb bleibt auch das bislang einfach unerwähnt.

Das Narrativ der Großelterngeneration

Ich fühle mich also das erste Mal genötigt, Kontext einzustreuen und verweise darauf, dass zeitgleich zum Liebesakt zwischen Sophie und ihrem Franz überall in Europa Millionen Jüdinnen und Juden deportiert, in Lager gepfercht und vergast werden. Was folgt, sind entrüstete Antworten von Nutzer:innen: Das hätte Sophie doch damals – also im Frühjahr 1942 – gar nicht wissen können!

Und da ist es. Das Narrativ der Großelterngeneration, das sich danach massenhaft im Account verbreitet. Sie, die historische Sophie, habe ja nichts gewusst. Dieses Narrativ ist längst widerlegt, wie auch die Historikerin Sandra Franz im Gespräch mit dem DLF ausführt. Sophie Scholl hat 1938 in Ulm gelebt, während dort die Novemberpogrome stattfanden, über die auch in der Presse berichtet wurde.3)Die Art und Weise der Berichterstattung war von nationalsozialistischer Propaganda gefärbt. Das Framing: An den Juden habe sich der „berechtigte Volkszorn“ entladen. Als Ursache wurde das Attentat von Herschel Grynszpan auf einen NS-Dipolmaten in Paris am 7.11.1938 angeführt.

Auch im Account selbst gab es bereits einen Hinweis darauf, dass auch die Insta-„Sophie Scholl“ etwas mitbekommen hat: einen Insta-Post über die Bücherverbrennung. Bereits in den ersten Stories hält „Sophie“ verbotene Bücher in die Kamera. Und vor wenigen Tagen gab es eine Konversation mit ihrem Fritz, der sie fragte: „Bist du dir darüber im Klaren, dass es dir den Kopf kosten kann?“ – „Ja, ich bin mir darüber im Klaren“, antwortete sie ernst.4) Die Konversation stammt laut Zoske aus einer Erinnerung von Fritz Hartnagel nach dem Krieg, der sich an diesen Austausch zu erinnern glaubt: „Außerdem bat sie ihn wohl, so erinnerte er sich nach Kriegsende, um die Beschaffung eines Bezugsscheins beim Militär für einen Vervielfältigungsapparat. Sicher war er sich darüber, dass er sie gefragt habe, ob sie sich im Klaren darüber sei, dass sie das Geplante „den Kopf kosten“ könne. Sie habe geantwortet: „Ja, darüber bin ich mir im Klaren“. (Zoske, S. 220)

Was in den Kommentaren passiert, ist alarmierend. Die Behauptung, Sophie habe von nichts gewusst, wird vom Community-Management zunächst nicht kommentiert oder eingeordnet. Es sind Nutzer:innen, die dies tun. Alleine unter meinem Kommentar sammeln sich über hundert Antworten. Viele verteidigen die historische Person Sophie Scholl. Eine Nutzerin nennt sie eine „Galionsfigur des Widerstands“. Ohne Sophie Scholl irgendetwas wegnehmen zu wollen – eine Galionsfigur des Widerstands war sie sicher nicht. Sie hat die Weiße Rose weder gegründet noch war sie maßgeblich an ihrem Aufbau beteiligt. Sie kam durch freundschaftliche und familiäre Beziehungen in den Kreis. Das soll ihre Entschlossenheit und radikale Konsequenz im Kampf gegen den NS nicht schmälern. Aber Vorreiter:innen, Galionsfiguren, das waren andere.

(An der Stelle könnte man sich im Übrigen auch fragen, warum ihr Bruder Hans nicht ähnliche Aufmerksamkeit und Anerkennung in der Erzählung der deutschen Widerstandsgeschichte erhält. Historiker:innen sind sich inzwischen einig, dass Hans Scholl bi- oder homosexuell war. Bereits am 14. Dezember 1937 wurde Hans Scholl nach einer Strafanzeige nach §175 verhaftet, auch als Schwulen-Paragraf bekannt. Demnach standen sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Das Gesetz war, in modifizierter Form, bis zum 11. Juni 1994 in Kraft. Schon deshalb konnte Hans Scholls Geschichte in der Bundesrepublik nicht richtig gewürdigt werden.)

Störende Einwände

Was in den Kommentaren unter meinem Einwand auch schnell klar wird: Viele Nutzer:innen können nicht unterscheiden, dass Kritik am Projekt und das Einstreuen von Kontext, nicht automatisch Kritik an der historischen Person Sophie Scholl ist. Sie verteidigen ihre Sophie, ihre Heldin und beschweren sich über die Kritik. Man wolle doch hier einfach nur das Leben dieser beeindruckenden Frau verfolgen! Fakten und historische Kontexte werden da anscheinend als störend empfunden.

Unter dem Post, in dem es um die Vorgeschichte von Sophie Scholl beim Bund Deutscher Mädel (BDM) geht, ist gar zu lesen: „Jeder macht mal Fehler“ oder „Wir verzeihen dir“.

Das Gefühl macht sich breit, dass damit vor allem den eigenen Großeltern verziehen werden soll. Viele kommentieren, man könne sich durch diese Darstellung Sophie Scholl so gut als Freundin vorstellen. Ein Effekt, der durchaus von den Macher:innen gewünscht ist. Dabei war die historische Sophie Scholl eher das, was wir heute eine Außenseiterin nennen würden. Sie stand am Ende auch außerhalb des NS-Systems – und damit außerhalb der vielbeschworenen, nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Eine Entscheidung, die sie ganz bewusst getroffen hat. Aus Überzeugung.

"Muss man sich alles sagen, wenn man sich liebt?" - Ja / Nein
Screenshot: instagram/@ichbinsophiescholl

Es ist hoch fraglich, ob all diese Nutzer:innen, die sich mit ihr identifizieren wollen, tatsächlich gerne die Freund:innen der historischen Sophie gewesen wären. Denn – machen wir uns nichts vor – die allermeisten von uns wären eben nicht Sophie Scholl oder die Mitglieder der Weißen Rose gewesen. Die allermeisten von uns wären Teil des Systems gewesen, das für ihren Mord mit verantwortlich ist. Und das nimmt mich nicht aus.

Wären wir Sophies Freund:innen gewesen? Sicher nicht.

Ein Rollenspiel

Von der Verharmlosung der Rolle ihres Freundes Fritz, der als Offizier bei der Wehrmacht in Russland an der Front kämpft, will ich gar nicht erst anfangen. Auch diese Kommentare werden zunächst nicht moderiert. Immerhin ist das Problem inzwischen erkannt. In einer Mail der Redaktion heißt es auf Nachfrage, dass in Zukunft „bei Zitaten und kritischen Posts mit fixierten Quellenangaben“ gearbeitet werden soll. Das heißt, die Kommentare zu kritischen Stellen sowie Hinweise auf Quellen seitens der Redaktion können digital direkt an den Post angeheftet werden, so dass sie als erste zu sehen sind. Das hat den Vorteil, dass nicht hunderte Kommentare durchgescrollt werden müssen, um Antworten zu finden.

Der Hauptverantwortliche des Projektes, Ulrich Hermann, sieht in dieser Art der Rezeption und Kommentierung keine Gefahr, sondern bloß ein Spiel. Beispielhaft zitiert er die Kommentierenden, die das Projekt so nutzen, wie es intendiert ist: als Rollenspiel. Und natürlich gibt es die auch. Aber eben nicht nur. Bei der Masse an Kommentaren wäre es auch für das beste Community-Management der Welt schwer, das alles zu handhaben.

Immerhin: Es werden weitere Community-Mangager:innen gesucht, also Menschen, die sich um die Fragen der Nutzer:innen kümmern und in der Interaktion „Sophie Scholl“ spielen. Welche Ausbildung die haben? Auf schriftliche Nachfrage heißt es aus der Redaktion, es sei ein „großes Team im Hintergrund aus Menschen mit unterschiedlichen Expertisen: historischer Expertise, journalistischer Expertise, psychologischer Expertise, diskriminierungssensibler Expertise, künstlerischer Expertise usw.“

Was das konkret heißt, wird aus dieser Antwort nicht ersichtlich. Aber immerhin: Es tut sich inzwischen was in den Kommentaren der Redaktion. Die liefert jetzt vermehrt Kontexte und Quellen. Außerdem soll es eine Landingpage geben, auf der Zusatzinformationen bereitgestellt werden – außerhalb von Instagram.

Am Konzept der Posts hingegen soll nichts geändert werden. Keine Quellenangaben, keine Hinweise auf die Urheberschaft. Wir wissen also nie, ob wir es mit der „echten“ Sophie Scholl zu tun haben oder ob ihr Worte sinngemäß in den Mund gelegt werden. Zumindest nicht, solange wir nicht konkret nachfragen.

Ein falsches Bild der Zeit

Voraussetzung dafür, Teil des Community-Management-Teams zu werden, ist laut Redaktionsleiter Hermann, das Quellenmaterial zu kennen. Genau das reicht aber nicht. Denn es braucht auch Kenntnis der Kontexte und historischen Hintergründe, um im Sinne Sophie Scholls mit Nutzer:innen zu interagieren. Wie wichtig das ist, zeigt sich an einem Post vom 24. Mai: „Sophie Scholl“ beschwert sich darüber, dass ihr Bruder sie übermäßig beschützt. Sie habe während ihrer Ausbildung schon zehn Säuglinge gleichzeitig betreut – „da war ich 19!“, empört sie sich.

Eine Erzieherin in Ausbildung antwortet auf diesen Post „10 Säuglinge??? Und wir als Team waren schon mit 35 Krippenkindern und einem Säugling gut bedient …“ Die Verwunderung der Kommentarschreiberin ist durchaus berechtigt. Und in der Antwort wäre Platz gewesen für Erläuterungen. Stattdessen schreibt „Sophie Scholl“ aka das Community-Management: „Solch kleine Menschen darf man in ihren Bedürfnissen nicht unterschätzen! Sie bedürfen viel Liebe, denn Kinder können so roh sein! Herzchen.“

Das ist natürlich sehr rührig, wäre da nicht die Tatsache, dass wir das Jahr 1942 schreiben, Sophie ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin im NS-System gemacht hat und da alles andere als bedürfnisorientierte Kinderpflege auf dem Lehrplan stand. Oder unter Bedürfnisorientierung etwas ganz anderes verstanden wurde: Schreien lassen, nicht verwöhnen, nicht unnötig hochheben und die Kinder möglichst viel sich selbst überlassen, das war die Devise. Auch die Ergänzung der Redaktion, Sophie Scholl hätte sich mit Reformpädagogik beschäftigt, ist kein Beleg dafür, dass das auch zur Anwendung kam.

Die Diskussion unter dem Kommentar ist spannend, unter anderem schaltet sich eine Kommentatorin ein, die ein Blog über Säuglingsgeschichte schreibt und sich bestens mit der Thematik der NS-Erziehung auskennt. Am Ende dieser Diskussion steht die Erkenntnis: „Ein sehr interessantes Thema, hatte noch nie davon gehört“. Wohlgemerkt von einer Erzieherin in Ausbildung. Vor diesem Hintergrund ist die Antwort von „Sophie Scholl“ grob fahrlässig. Sie vermittelt schlicht ein falsches Bild der Zeit.

Abwehrhaltung gegenüber Kritik

Ist das Projekt also gescheitert? Auf keinen Fall. Dem Account gelingt es, Aufmerksamkeit zu generieren, Nachfragen, Diskussionen und Interesse für die Zeit. Aber es zeigt sich hier eben auch, wie wenig Wissen vorausgesetzt werden kann – selbst beim Community-Management. Es gibt Menschen, die haben sich ein ganzes Studium lang mit dem Nationalsozialismus beschäftigt – und kennen doch nur einen Teil davon. Ich selbst recherchiere seit sieben Jahren zu dem Thema – und habe immer noch oft das Gefühl, gerade erst am Anfang zu sein. Es gibt noch so viel mehr zu wissen und zu lernen über die Zeit. Und oft fangen wir erst an, über Kontexte nachzudenken, wenn uns jemand eine Frage stellt.

Die Kritik am Projekt ist nicht nur legitim. Sie hilft auch an entsprechenden Stellen nachzujustieren. Der öffentliche Umgang mit der Kritik ist jedoch fragwürdig. Statt Wertschätzung hätte man diese Kritik lieber aus der Welt. Sie ist störend und lästig, scheint es. Dabei ist es gerade diese ehrenamtliche Arbeit in den Kommentaren, die aktuell Kontexte liefert, die das Community-Management bislang wenig geliefert hat – oder erst, wenn bereits entsprechende Diskussionen im Gang waren. Die eigentliche Herausforderung in sozialen Netzwerken ist nicht das Senden, sondern das Kommunizieren. Und die erfährt in den Redaktionen nach wie vor viel zu wenig Aufmerksamkeit und Wertschätzung.

Immerhin wird nachgebessert. Und es ist auch völlig in Ordnung, dass sich so etwas erst entwickeln muss, wenn sich in so kurzer Zeit fast eine Millionen Nutzer:innen auf einem Account versammeln. Die Kommentare dieser Nutzer:innen bereiten mir trotzdem Bauchschmerzen. Denn sie zeigen deutlich, wie wenig Wissen über den Nationalsozialismus eigentlich in der breiten Masse vorhanden ist. Wie wenig hier vorausgesetzt werden kann. Wie viele die Kontexte, an denen sich hier orientiert wird, überhaupt nicht kennen.

Das ist erschreckend. Noch erschreckender ist nur, wie sich in diesem Unwissen auch noch Narrative breit machen, die den Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit und seinen Auswirkungen nicht begreifen und sogar noch verklären. Ob sich das auflösen lässt, indem man langsam aber sicher miterlebt, wie die geliebte Heldin in die Fänge der Nazis gelangt – ich habe da so meine Zweifel.

Besonders riskant finde ich es allerdings, hier auch noch Sophie Scholl spielen zu wollen. In der spontanen, täglichen Interaktion mit den Nutzer:innen ist bei mir bisher vor allem ein Eindruck entstanden: Sophie Scholl, die ich als kritisch, differenziert denkend und diskursfreudig wahrnehme, wird hier allzu oft zum naiven Insta-Mäuschen. Auf die Frage, ob die „armen verheizten Soldaten sich nicht viele Gedanken machen würden, über Freunde, Familie, Frieden und Überleben“ antwortet „Sophie Scholl“ kryptisch: „Fritz hat auf jeden Fall noch andere Sorgen“. Dabei wäre eine kontextualisierte Antwort so einfach gewesen: Genau deshalb streiten wir oft über das, was er da tut. Auch das würde sich auf Nachfrage mit Briefen belegen lassen 5) Fritz Hartnagel war enttäuscht, dass er nicht direkt in den Krieg ziehen konnte, sondern im Schwarzwald festsaß. „Wir warten stündlich, daß es auch hier bei uns zum Knallen kommt. Wenn wir’s auch nicht hoffen wollen, so freuen wir uns natürlich insgeheim darauf. Es macht sehr viel Spaß, wenn man seine Kriegsschulkentnisse und Friedenstheorien in die Praxis umsetzen kann.“

Sophie in der Antwort: „Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für’s Vaterland.“
Zoske schreibt dazu im Folgesatz: „Damit war – nach der Sexualität – der zweite von nun an dauerhafte Problemkreis zwischen ihnen vorgegeben.“ (S.106f.)
. Die „Sophie“-Antwort hingegen ist nichts anderes als eine Worthülse.


Offenlegung: Ich arbeite seit über zehn Jahren im Bereich Social Media und habe ungezählte Arbeitsstunden ins Community-Management gesteckt. Außerdem bin ich Betroffene: Mein Großvater Theo Hespers wurde als Hochverräter von den Nazis ermordet. Erst lange nach seinem Tod wurde sein Handeln auch in Deutschland als Widerstand gegen das NS-Regime anerkannt. Ich schreibe seit sieben Jahren ein Blog über sein Leben, produziere einen Podcast dazu und habe jüngst ein Buch zur ganzen Geschichte veröffentlicht. Diese Arbeit hat mich auch an Schulen geführt, mit jungen Menschen und Lehrerinnen und Lehrern in Kontakt gebracht. Mein Eindruck: In Sachen Erinnerungsarbeit und Erzählungen über den Nationalsozialismus ist noch eine Menge Arbeit zu tun.

Fußnoten

Fußnoten
1 Robert Zoske schreibt in seiner Sophie-Scholl-Biographie: „Als ob nicht alles schon kompliziert genug wäre, verliebte sich Sophie in diesen Tagen in den ‚Russen‘ Alexander Schmorell. Die Gefühle müssen so heftig gewesen sein, dass sie am 9. August 1942 ihrem Tagebuch anvertraute: ‚Eben habe ich eine Seite aus dem Heft gerissen, weil sie von Schurik handelte.‘ Dass sie damit nicht ihre Gefühle für ihn tilgen, sondern nur anders einordnen wollte, zeigen die nächsten Sätze: ‚Warum aber soll ich ihn aus meinem Herzen reißen? Ich will Gott bitten, daß er ihm den rechten Platz darin anweise. Darum soll er auch in dem Heft stehen, jetzt wieder.'“ (Sophie Scholl: Es reut mich nichts: Porträt einer Widerständigen. Robert Zoske. S.233)
2 Dazu gilt eigentlich das gesamte Kapitel 5 bei Zoske, ab Seite 80, exemplarisch schon: „Sophie wollte eigentlich eine Beziehung ohne körperliche Liebe. Sie fasste diesen Wunsch später in der Frage zusammen, ob Fritz nicht glaube, Verstand und Spiritualität könnten die Sexualität besiegen.“ (Zoske, S. 84)
3 Die Art und Weise der Berichterstattung war von nationalsozialistischer Propaganda gefärbt. Das Framing: An den Juden habe sich der „berechtigte Volkszorn“ entladen. Als Ursache wurde das Attentat von Herschel Grynszpan auf einen NS-Dipolmaten in Paris am 7.11.1938 angeführt.
4 Die Konversation stammt laut Zoske aus einer Erinnerung von Fritz Hartnagel nach dem Krieg, der sich an diesen Austausch zu erinnern glaubt: „Außerdem bat sie ihn wohl, so erinnerte er sich nach Kriegsende, um die Beschaffung eines Bezugsscheins beim Militär für einen Vervielfältigungsapparat. Sicher war er sich darüber, dass er sie gefragt habe, ob sie sich im Klaren darüber sei, dass sie das Geplante „den Kopf kosten“ könne. Sie habe geantwortet: „Ja, darüber bin ich mir im Klaren“. (Zoske, S. 220)
5 Fritz Hartnagel war enttäuscht, dass er nicht direkt in den Krieg ziehen konnte, sondern im Schwarzwald festsaß. „Wir warten stündlich, daß es auch hier bei uns zum Knallen kommt. Wenn wir’s auch nicht hoffen wollen, so freuen wir uns natürlich insgeheim darauf. Es macht sehr viel Spaß, wenn man seine Kriegsschulkentnisse und Friedenstheorien in die Praxis umsetzen kann.“

Sophie in der Antwort: „Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für’s Vaterland.“
Zoske schreibt dazu im Folgesatz: „Damit war – nach der Sexualität – der zweite von nun an dauerhafte Problemkreis zwischen ihnen vorgegeben.“ (S.106f.)

6 Kommentare

  1. Solche an die Jugend anbiedernden Projekte finde ich immer schwierig, um nicht zu sagen ätzend. Denn letztlich begnügen sich die Macher damit, das Niveau so weit abzusenken, dass möglichst viele einen Zugang zum Thema finden. Der Verzicht auf eigentlich selbverständliche Quellenangaben ist da nur einer von vielen Belegen. Letztlich wird auf diese Weise das ganze Projekt zu Unsinn.

    Auch solche Äußerungen von Redaktionsleiter Ulrich Hermann, dem Kritik „Schnuppe“ ist, ist erstmal arrogant. Sie zeigen aber auch, wie wenig ernst die Macher das Ganze eigentlich nehmen – und zwar sowohl die Vermittlung geschichtlicher Tatsachen als auch die Zielgruppe.

    Ich habe den Eindruck, es lief hier wie ich es schon oft beobachtet habe: Eine im ersten Moment ganz witzig klingende Idee wird schludrig umgesetzt. Und wenn Kritik kommt, moderiert man sie halt weg oder kanzelt auch mal einen Kritiker ab.

  2. Für mich ein super recherchierte Artikel, durch den ich selbst noch vieles lernen konnte,. Von Theo Hespers und den Projekten um ihn erfahre ich zum ersten Mal. Interessant, werde ich mir mal anschauen und – hören.

  3. Wenn es „off-character“ für sie war, Schwärmereien über einen Mann im Tagebuch zu lassen, wären solche Zeichnungen das wohl erst recht. Hinzu kommt der unhistorische Spruch.
    Das ist sehr weit von dem weg, was man für einen historischen Roman akzeptieren würde, erst recht für eine Doku. Und das Projekt soll ja im Graubereich dazwischen liegen, wenn ich es richtig verstehe. (Und zwar ungeachtet von der Frage, ob man in der Zeit überhaupt hätte Sex haben sollen. Oder Rauchen, Alkohol und Fleisch.)

    Andererseits muss ich die Macher auch verteidigen – egal, wie man heute auf die damalige Kindererziehung sieht, eine damalige junge Frau, die sich über die Bevormundung ihres älteren Bruders ärgert, wird auf die 10 Säuglinge verweisen, die ihr jemand anvertraut hat.

    Aber am dämlichsten ist der Spruch, sie habe von „nichts gewusst“. Wogegen hat sie dann Widerstand geleistet?

  4. Sehr gut und informativ – aber müssen Wortungetüme wie „gescreenshottet“ wirklich sein?

  5. @5 Anderer Max
    Danke für den Link, eine gute Ergänzung.

    Ich halte dieses Projekt, also #ichbinsophiescholl für ganz ganz schrecklich, nach dem was ich hier im Artikel gelesen habe. Bin selbst nicht bei Instagram.

    Ganz allgemein habe ich Probleme damit, wenn historische Personen und Geschehnisse z.B. in Spielfilmen mehr oder weniger dokumentarisch nachgestellt werden. Ich habe mir beispielsweise nie „Der Untergang“ angesehen und werde das auch nicht tun. Weil ich dort immer nur Dinge sehen werde, die Filmschaffende sich so zurecht projizieren. Um daraus irgendwie Kunst zu machen. Ich habe mit großem Interesse „Im Toten Winkel“ gesehen, das Interview mit Traudl Junge, auf dem „Der Untergang“ wohl weitgehend beruht. Ein Augenzeuginnenbericht. Bei dem man selbst entscheiden kann, was man der Frau Junge so glaubt. Warum muss man das dann unbedingt noch inszenieren?

    Im taz-Artikel werden die drei großen deutschen Sophie-Scholl-Filme erwähnt, die wohl auch alle auf einem falschen, idealisierten Bild basieren und damit historisch weitgehend unsinnig sein dürften. Und trotzdem dieses falsche Bild in die Köpfe vieler Menschen gebracht haben. Geschichtsklitterung.

    Aber nun auf Instagram eine angebliche Sophie Scholl zu präsentieren, die anscheinend auch gerade so ist, wie die Macher sich das wünschen, das finde ich regelrecht ekelhaft. Einmal, weil wir Deutschen ja immer groß waren, unsere angeblichen Helden hochzustilisieren (und könnten wir nicht bitte mal damit aufhören?), zum Anderen aber auch, weil diese Menschen instrumentalisiert und damit posthum missbraucht werden.

    Außerdem: Für wie blöd halten die Macher eigentlich ihr Publikum?

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