„Wahlarena“ im Ersten

„Politisches oder sonstiges Engagement sind generell kein Ausschlussfaktor“

„Wahlarena“ aus Lübeck am 6.9.2021 Screenshot: Das Erste

Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, war am Montagabend zu Gast in Lübeck bei einem so genannten Bürgertalk. Sie machte den Auftakt in der traditionellen „Wahlarena“, laut NDR einem „verlässlichen Fernseh-Highlight vor den Bundestagswahlen“. Am heutigen Dienstag und nächste Woche stellen sich dort ebenfalls die Kanzlerkandidaten der Union und der SPD Fragen von Bürgerinnen und Bürgern.

Wer die Leute sind, die die Spitzenkandidaten da befragen, ob sie womöglich einer Partei angehören oder was sie beruflich machen, bleibt aber oft unklar. Wie am Montag, als sich ein Vertreter der AfD und ein Mitarbeiter eines Energiekonzerns einmischten – ohne das offenzulegen.

Es sei gelungen, sagte Moderatorin Ellen Ehni zu Beginn der Sendung, „zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap, hier 65 Menschen in echt, in Präsenz zu versammeln“. Stellvertretend für „viele Wählerinnen und Wähler“ sollten Sie Baerbock „mit Fragen löchern“.

Im Verlauf des Abends meldeten sich unter anderem zwei Männer zu Wort, die sich jeweils mit ihrem Namen vorstellten, einer von ihnen gab auch einen Beruf an: „Chirurg im Ruhestand“. Der andere sagte nur, er komme aus der Lausitz, mehr war über die beiden in der Sendung nicht zu erfahren.

Lübecker AfD-Chirurg (3.v.l.) fragt Annalena Baerbock Screenshot: Das Erste

TwitterNutzer aber erkannten sie: Bei dem Chirurg handelt es sich um ein Mitglied der AfD-Bürgerschaftsfraktion in Lübeck, bei dem anderen offenbar um einen Mitarbeiter des zweitgrößten deutschen Stromerzeugers LEAG in Cottbus, der früher eine Ausbildungsstätte von Vattenfall geleitet hat.

Wenig überraschend stellte er, wie auch der AfD-Abgeordnete, kritische Fragen zur Energiewende. Abschließend fragte er Baerbock zum Beispiel: „Sind Sie bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wenn es zu flächendeckenden Versorgungsengpässen in Deutschland kommt?“ Die Machbarkeit eines früheren Kohleausstiegs schien er zu bezweifeln.

Offene Fragen

Ein Bürgertalk, in dem auch aktive Parteipolitiker sitzen und Mitarbeiter großer Konzerne – wäre es nicht relevant fürs Publikum, zu wissen, wer diese Leute sind und welchen Hintergrund sie haben?

Die „Tagesschau“ erklärt in einem FAQ zur Sendung, „ein Teil des Publikums“ sei vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap ausgewählt worden. „Zudem konnten sich Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihren Fragen bewerben.“ Die Redaktion habe dann Einsendungen „aus unterschiedlichen Regionen oder Altersgruppen berücksichtigt und sich an den zentralen Themen des Wahlkampfs orientiert“.

Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer genau von Infratest dimap ausgewählt wurden und wie viele von der Redaktion, sagt der NDR auf Nachfrage von Übermedien nicht. Die Pressestelle schreibt:

„Die Redaktion der Wahlarena von WDR und NDR hat mit Unterstützung von Infratest dimap entlang der Themen, die in diesem Wahlkampf eine Rolle spielen, aus den zahlreichen Einsendungen eine breite Themenpalette ausgewählt.“

Worin die Unterstützung von Infratest dimap besteht: unklar. Auch nach welchen konkreten Kriterien die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auserkoren wurden, lässt der NDR offen. Die Pressestelle schickt lediglich das, was auch in den „Tagesschau“-FAQ steht: Die „Auswahl-Redaktion“ habe „auch Einsendungen etwa aus unterschiedlichen Regionen oder Altersgruppen berücksichtigt“.

Hintergrund war Redaktion bekannt

Zu den beiden Männern im Publikum, die von Twitter-Nutzern entdeckt wurden, schreibt der NDR:

„Wir wählen interessante Fragen aus. Politisches oder sonstiges Engagement sind generell kein Ausschlussfaktor, solange sie nicht über die kommunale Ebene hinausgehen.“

Der letzte Satz findet sich in der NDR-Antwort sogar zweimal.

Der „Background“ des Herrn aus der Lübecker AfD-Fraktion sei der Redaktion bekannt gewesen; er habe sich mit einer aktuellen Frage beworben. „Die Frager*innen stellen sich in der Sendung selber vor. Wie umfangreich sie das tun, obliegt in der Livesituation letztlich ihnen.“

Der andere Gast sei „nicht wegen seines Arbeitgebers in die Sendung eingeladen“ worden, „sondern wegen des Themas ‚Kohle'“. Er sei in der Ausbildung tätig und nicht Teil der Konzernleitung. „Er ist ein betroffener Bürger aus der Region.“

Auf die Frage, inwiefern es die Redaktion sinnvoll findet, in einem Bürgertalk auch Vertreter und Vertreterinnen von Konzernen oder politischen Parteien einzuladen, schreibt der NDR:

„Ein persönlicher Bezug zum Thema wird von der Redaktion begrüßt. Es verleiht einer Frage Nachdruck, wenn etwa ein Pfleger über die Probleme in seinem Alltag berichtet, und er daraus eine Frage formuliert.“

Was im konkreten Fall natürlich nicht zutrifft. Vom persönlichen Bezug der beiden Männer zum Thema, ihrem Antrieb und Hintergrund haben die anderen Zuschauer ja nichts erfahren.

11 Kommentare

  1. …und jetzt bei Scholz eine Grüne Bezirksvertreterin aus Köln-Ehrenfeld. Scheint eher Teil des Konzepts zu sein.

  2. Also gut, es wäre schön, den relevanten Hintergrund eines Fragenstellers/einer Fragenstellerin zu kennen. Einfach rein aus persönlichem Interesse. Nur frage ich mich, ob wir das wirklich immer wollen und können: Wenn eine grauharige Frau nach den Rentenplänen fragt, ist es dann offensichtlich genug, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgt? Wenn ein Mittvierziger nach dem Bildungskonzept fragt, muss er dann sagen, dass er Kinder hat? Und wenn jemand Steuererhöhungen befürwortet, um die Klimakrise finanzieren zu können, ist er dann offensichtlich genug Masochist oder Sozialist oder beides?

    Für mich ist viel wichtiger, ob Leute mit einer Agenda (oder die einfach politische GegnerInnen sind) die Diskussion dominieren, oder ob insgesamt doch eine große Bandbreite von Sichtweisen und Anliegen zur Sprache kam. Ob das bei dieser Sendung so war oder nicht, kann ich nicht beurteilen, weil ich Talk-Sendungen und ganz speziell Talk-Sendungen zur Wahl meide wie der Teufel das Weihwasser. Wenn dem aber so gewesen wäre, bin ich sicher, würde dieser Artikel eher davon handeln, statt von einem AFD-Lokalpolitiker und einem Angestellten eines Energiekonzerns.

  3. Wenn die Fragesteller in einer solchen Sendung einigermaßen repräsentativ für die Zusammensetzung der Bevölkerung sind, dann müsste es bei 65 Teilnehmern etwa 7 Personen geben, die der AfD nahestehen. Berücksichtigt man den Anteil der Nicht-Wähler, wären es immer noch etwa 5.
    Alle Kanzlerkandidaten müssen also damit leben, dass ihnen in solchen Sendungen kritische Fragen von politischen Gegnern gestellt werden. Hier wird also etwas skandalisiert, was völlig normal ist. Ich freue mich auf den nächsten Artikel von Boris Rosenkranz, der dann wieder wie gewohnt relevant oder witzig daherkommen sollte.

  4. Spannend finde ich aber auch, dass die Behauptung des LEAG-Mitarbeiters hinsichtlich eines Stromausfalls am 14. August schlichtweg falsch zu sein scheint. Ich habe nun umfangreich danach gesucht und konnte für dieses Datum kein entsprechendes Ereignis auffinden.

    Womöglich meinte er hingegen den Samstag, 24. Juli 2021, an dem es zu einer 33minütigen Netztrennung zwischen Frankreich und Spanien kam. Grund dafür war laut ENTSO-E das Versagen einer Hochspannungsleitung wegen eines Waldbrands – nicht die Erzeugung Erneuerbarer Energien. Deutschlands Strom-Import oder -Export war davon nicht betroffen und es gab keinen Stromausfall.

  5. Wenn die Frage gut ist und mich die Antwort interessiert, ist es mir egal, wer sie stellt und warum.

  6. @ #7: Sehe ich ähnlich. Die des AfD-Abgeordneten qualifiziert sich m. E. eher nicht dafür. Das ist so eine ähnliche Frage, wie „Herr Scholz, Links-Koalition? Wenn ja, warum hassen Sie Deutschland so sehr?“

    Bin aber auch bei SN, wenn er sagt: Warum nicht einfach offen legen, wer die Frage stellt. Tut ja keinem weh.

  7. @ Oliver #5 Darüber bin ich auch gestolpert. Die Schilderung des Mannes (Abschalten ganzer Industrien u. ä.) klang so dramatisch, dass ich mich wunderte, warum ich davon nichts mitbekommen hatte. Eine klitzekleine Google-Recherche verschaffte Klarheit: Es gab am angegebenen Tag tatsächlich einen massiven Stromausfall – allerdings in den USA. In Deutschland war damals nichts passiert.
    Nachdem Baerbock ausschweifend antwortete und dabei die Sache mit dem angeblichen Stromausfall umschiffen musste, kam der Mann noch einmal darauf zu sprechen. Erstaunlich ist, dass in der Zwischenzeit niemandem in der Redaktion die doch bemerkenswerte Aussage aufgefallen war, sie kurz gegengecheckt hat und das Moderatorenduo angesichts der offenbaren Falschbehauptung entsprechend briefte.
    Jetzt, wo man den beruflichen Background des Mannes (Fachmann in der Energieversorgung, übrigens ist er auch ein lokaler CDU-Funktionär) kennt, kann man übrigens davon ausgehen, dass er die erfundene Geschichte vom Stromausfall bewusst in dieser Sendung platziert hat und nicht etwas verwechselt hat.

  8. > der AfD-Abgeordnete

    Abgeordneter er gerade nicht. Die Lübecker Bürgerschaft ist kein Parlament, sondern eine Gemeindevertretung, also ist er Mitglied eines kommunalen Selbstverwaltungsorgans. Dieses spielt (womöglich auch aufgrund der lübschen staatlichen Vergangenheit) auch gern mal Parlament und erträumt sich, von der Lokalpresse ermuntert, Dinge wie eine „Große Koalition“ oder eine „Opposition“ (wer die „Regierung“ dazu sein soll, weiß immer niemand) oder auch mal „Untersuchungsausschüsse“, es ist aber keines und hat das alles nicht. Kann man gut oder schlecht finden, ist aber so.

  9. @ Frank Reichelt #7: Die Fragen waren erstens, nicht gut, da es nicht um das Sachthema an sich ging, sondern (meine Meinung) darum, eine Person, deren politische Einstellung man nicht teilt, blöd dastehen zu lassen. Das nervt mich extrem, egal, wer da gerade mit einer vermeintlich neutral formulierten Frage („Mir geht es wirklich nur um das Thema!“) in die Enge getrieben wird. Und zweitens, wie die Kommentare hier im Strang nahelegen, beruhte eine der Fragen auf einer offensichtlichen Falschbehauptung. Und meines Erachtens hat beides damit zu tun, dass sich die beiden Fragesteller über das in meinen Augen im Rahmen einer Bürgerbefragung normale Maß hinaus beim politischen Gegner engagieren.

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