Zum Start von „Bild Live“

Das kommt dabei raus, wenn „Bild“ Fernsehen macht

Am Sonntag geht der neue „Bild“-Fernsehsender auf Sendung. Aber wie der funktionieren wird – und was an ihm zu fürchten ist – konnte man schon in den vergangenen Monaten im Internet sehen. Mats Schönauer und Moritz Tschermak haben in ihrem vor kurzem erschienen Buch über „Bild“ anschaulich dokumentiert, wie problematisch es ist, wenn in Breaking News-Situation ein Live-Programm von einer Redaktion mit der Skrupellosigkeit von „Bild“ betrieben wird.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags veröffentlichen wir zum Start von „Bild live“ in leicht gekürzter Form das Kapitel aus dem Buch, das sich mit dem „Bild“-Fernsehen befasst.


BILD BREAKING NEWS

Wer es bisher nicht mitbekommen hat: Gestern gab es in Trier eine vermeintliche Amokfahrt eines vermeintlich psychisch Gestörten, der dabei vermeintlich eine alte Frau und ein Baby umgebracht hat.

Er nutze bewusst das Wort „vermeintlich“, schreibt der rechte Verschwörungserzähler Hagen Grell am 2. Dezember 2020 in seinem Telegramkanal, einen Tag, nachdem ein Mann in der Innenstadt von Trier fünf Menschen totgefahren und weitere verletzt hat. Grell traut der offiziellen Version des Vorfalls nicht. Es gebe schließlich einen Augenzeugen, „der 5 Meter vom Tatort entfernt lebt und eine bizarr andere Geschichte vom Tathergang erzählt“.

Als Beweis präsentiert Grell seinen Followern ein knapp dreiminütiges Video mit dessen Aussagen. Das gleiche Video verbreitet am selben Tag auch der Telegramkanal „Gerechtigkeit für das Vaterland“ und schreibt dazu: „FALSE FLAG IN TRIER“ – bei der Amokfahrt solle es sich also um ein Täuschungsmanöver handeln, eine verdeckte Operation der Regierung oder der Geheimdienste, alles nur ein großer Fake. Schlagersänger Michael Wendler und Koch Attila Hildmann springen bei dem Thema ebenfalls auf und verbreiten in ihren Telegramkanälen die Posts von Hagel Grell und „Gerechtigkeit für das Vaterland“.

Fast 300.000 Mal werden die Behauptungen des Augenzeugen, der „eine bizarr andere Geschichte vom Tathergang erzählt“, aufgerufen. Das Video stammt von: „Bild-TV“.

Knapp eine Stunde nach der Amokfahrt in Trier ist die „Bild“-Redaktion live auf Sendung. Das Moderationsduo spricht von einem inzwischen festgenommenen Mann, der mit seinem Wagen in eine Menschenmenge gefahren sein soll. Über viereinhalb Stunden wird die „BREAKING-NEWS“-Sondersendung, die bei Bild.de zu sehen ist, dauern.

Bereits nach einer Viertelstunde sagt der Moderator: „Und wir haben jetzt einen Augenzeugen in der Leitung, der diese Amokfahrt, diese Tat ganz offenbar aus nächster Nähe miterlebt hat.“ Dieser „Augenzeuge“ sagt zu Beginn allerdings erst mal, dass er gar nichts gesehen habe, schließlich habe er „einen kurzen Mittagsschlaf gehalten, und meine japanische Verlobte, die gerade zu Besuch hier ist in Trier, hat mich aus dem Schlaf gezerrt und gerissen und gesagt: ‚Manfred, Manfred, komm mal schnell ans Fenster, da ist irgendwas passiert‘“.

Dennoch darf Manfred bei „Bild-TV“ anschließend das erzählen, was in den verschwörerischen Telegramkanälen für die „FALSE-FLAG“-Aufregung sorgt: „Halb schlaftrunken“ am Fenster angekommen, sehe er plötzlich, „wie ein Mensch nach dem anderen einfach umkippt“. Deswegen sei er überrascht, jetzt von einer Amokfahrt zu hören, „weil man hat von diesem Auto nichts gesehen oder zumindest nichts mehr gesehen“. Die Menschen seien „unabhängig von irgendeinem Kraftfahrzeug auf der Stelle umgefallen, als wären die ohnmächtig geworden“. Sein erster Gedanke sei gewesen: „Das ist vielleicht eine Vergiftung, Giftgase oder irgendwas in der Art.“

Anstatt das Interview abzubrechen oder kritisch nachzufragen oder klarzustellen, dass das alles nicht zu dem passt, was man bisher über den Vorfall weiß, bestärkt ihn der „Bild“-Moderator: „Das sind ganz beeindruckende und erschütternde Schilderungen von Ihnen.“ Später in der Sendung lässt die Redaktion den „Augenzeugen“ noch einmal zu Wort kommen. Er nutzt die Chance, um eine „Stellungnahme“ vorzutragen, in der es unter anderem darum geht, dass irgendwelche Männer ja auch „mit einer Axt ihre Frauen zerstückeln“.

Das kommt dabei raus, wenn „Bild“ Fernsehen macht.

TV-Revoluzzer Reichelt

Bereits im September 2016 ruft Julian Reichelt, damals nur für Bild.de verantwortlich, im Gespräch mit dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ eine Bewegtbild-„Revolution“ aus: „Man kann es Angriff aufs Fernsehen nennen. Man kann es Revolution nennen. Ich nenne es Revolution.“

Drei Jahre später, im Oktober 2019, wird dieser Umsturzplan konkreter. Reichelt, inzwischen „Bild“-Gesamtchef, erzählt im Interview mit dem „Spiegel“ von seinem großen Vorhaben im TV-Markt: Er und seine Redaktion wollen „exklusive News zeigen und emotionale Geschichten erzählen“, antwortet er auf die Frage, was „Bild-TV“ bieten könne, was Sender wie RTL, ntv, Sat.1 oder die Öffentlich-Rechtlichen nicht längst schon zeigen. Die meisten Fernsehsender, so Reichelt, „machen das, was wir uns vorstellen, eben nicht“.

Als Beispiel nennt er die „Bild“-Berichterstattung kurz zuvor aus dem brennenden Amazonasgebiet. Dazu habe es zwar auch Beiträge bei anderen Sendern gegeben, aber nicht mit Teams, „die im brennenden Regenwald stehen und mit Menschen reden, um die herum alles gerodet wird“, sondern nur „aus dem Hotelzimmer“. (Anders als Reichelt behauptet, standen Reporter von mehreren TV-Sendern im brennenden Regenwald und redeten mit Menschen, um die herum alles gerodet wurde, zu sehen etwa in Das Erste, beim ZDF und bei RTL.)

Eine weitere angebliche Lücke, die „Bild-TV“ laut Reichelt schließen will: „Wo findet die Realität, die wir auf der Seite 2 von ‚Bild‘ abbilden, im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Flaschen sammeln müssen.“ (Tatsächlich laufen im Fernsehen häufig Reportagen über Menschen, die Flaschen sammeln müssen, um über die Runden zu kommen, etwa im ZDF, im RBB, im NDR, bei ARD-alpha, bei Arte oder bei Sat.1.)

Zum Start liege der inhaltliche Fokus von „Bild-TV“ auf „News, auch harten News, Sport, Entertainment“, sagt Reichelt im Februar 2021 im Interview mit dem Medienjournalisten Daniel Bouhs. Im Programm solle es um all das gehen, „was Menschen in ihrem Leben am meisten betrifft“.

Genauso wie in der „Bild“-Zeitung und bei Bild.de sollen auch bei „Bild-TV“ Geschichten mit „pointierten Formulierungen“ präsentiert und Gefühle ausgelöst werden, so Reichelt: „Wir erzählen sie über Emotionen, wir erzählen sie über Menschen, wir erzählen sie auch mal zugespitzt, wir erzählen sie in vielleicht einfacheren und kürzeren Worten.“ Die Schlagzeile werde auch bei „Bild-TV“ ein Stilelement von „Bild“ bleiben, sagt Reichelt. Sein ambitioniertes Ziel für 2021: „Ich möchte, dass ‚Bild‘ Ende des Jahres von den Menschen, von vielen Menschen als ihr täglicher Newssender wahrgenommen wird.“

Axel Springers Traum

Sollte das gelingen, wird ein nie realisierter Traum von Axel Springer Wirklichkeit. Der Verleger versuchte schon früh, auch Zugriff aufs Fernsehen zu bekommen, schreibt Wolfgang Michal im „Freitag“: „Axel Cäsar Springer wollte zeitlebens ins Fernseh-Geschäft. Für einen einzigen Sender, sagte Europas mächtigster Verleger 1961, würde er alle seine Blätter verkaufen.“ Springer habe es immer wieder probiert:

Mal versuchte er, eine Sendelizenz in Liechtenstein zu ergattern, um von dort aus in die Bundesrepublik senden zu können, mal forderte er die Auslieferung des ZDF an die Verleger. Er mobilisierte seine Lobbyisten in den Parlamenten, trieb die Gründung der „Fernsehgesellschaft Berliner Tageszeitungen“ voran und wollte die NDR-Tochter „Studio Hamburg“ kapern.

Nichts davon funktionierte. Ähnlich erfolglos ist der Verlag 2005, 20 Jahre nach Springers Tod, als er versucht, ProSiebenSat.1 komplett zu übernehmen. Die Pläne scheitern am Bundeskartellamt. Nun soll es also mit einem eigenen „Bild“-Sender klappen. Springer soll zum Start etwa 22 Millionen Euro investieren.

Von den anfangs angekündigten 18 Stunden Live-Fernsehen pro Tag ist allerdings längst nicht mehr die Rede. Im Interview mit dem Branchenmagazin „Horizont“ spricht „Bild“-Geschäftsführer Lars Moll im Dezember 2020 nur noch von „bis zu acht, zehn Stunden am Tag“. Einige „Bild-TV“-Sendungen werden jedoch bereits nach wenigen Monaten ersatzlos gestrichen. Laut Reichelt seien das sowieso nur „Trainings und Transformationsübungen“ gewesen, durch den Wegfall wolle man „zusätzliche Freiräume“ schaffen.

Die Live-Berichterstattung, so der „Bild“-Chef, sei nach wie vor der zentrale Aspekt bei „Bild-TV“: Wenn irgendwo irgendwas Dramatisches, Aufsehenerregendes, Spektakuläres passiere, wolle der Sender mit dabei sein. Dann könnten die vielen Reporter in ganz Deutschland losgeschickt, Live-Schalten organisiert, Pressekonferenzen besucht, Experten-Interviews geführt werden. Der große „Bild“-Apparat, das volle Programm.

„Bild“ in empathisch

Die drastisch sinkende Auflage der Printausgabe treibt auch „Bild“ dazu, nach neuen Geldquellen zu suchen. Im Fernsehgeschäft locken attraktive Werbetöpfe. Selbst wenn „Bild-TV“ nur einen kleinen Teil des gesamten TV-Werbebudgets erobern könnte, wären das enorme Einnahmen. Reichelt sagt im „Spiegel“: „Fernsehen ist ein Verdrängungsmarkt, aber mit 4,5 Milliarden Euro ein extrem großer.“ Der Einstieg der US-amerikanischen Beteiligungsgesellschaft Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) beim Springer-Verlag im Jahr 2019 dürfte die TV-Pläne zusätzlich vorangetrieben haben. KKR investierte zuvor schon kräftig in den deutschen TV-Markt.

Neben den lukrativen Einnahmemöglichkeiten sieht Julian Reichelt in „Bild-TV“ aber auch eine Chance, Nähe und Transparenz herzustellen und damit das Image von „Bild“ zu verbessern. Dass die Zuschauer bei „Bild-TV“ sehen können, wer die Menschen sind, die das Programm machen, schaffe laut Reichelt „eine vollkommen neue Nähe auch zu unserem Publikum. Und ich glaube, die Nähe tut uns gut.“ Er könne sich vorstellen, dass „Bild“ sich durch „Bild-TV“ verändern wird: Die Redaktion sei nun in der Lage, „Geschichten anders und, allein dadurch, dass man unsere Kollegen sieht, empathischer“ zu erzählen.

Wo genau diese ungewöhnliche „Bild“-Empathie in Zukunft zu erleben sein soll und in welcher Größenordnung das alles stattfinden wird, stehe noch nicht fest, sagt Reichelt 2019 im „Spiegel“: „Das Minimalszenario heißt Internetfernsehen. Oder die große Version, also Kabel und Satellit mit einer technischen Abdeckung von 90 Prozent der Haushalte.“

Im April 2021 verkündet der Springer-Verlag, dass es die „große Version“ werden soll: Noch vor der Bundestagswahl soll ein eigener „Bild“-Fernsehsender starten, mit „Live-Programm von täglich bis zu sechs Stunden“. Unabhängig vom Ausspielweg wolle er aber „kein klassisches lineares TV machen, sondern eines mit der Optik und Anmutung des Youtube-Zeitalters und den technologischen Mitteln von 5G“. Wenn Smartphones mit einer ordentlichen Kamera und einer guten Verbindung den Qualitätsansprüchen genügen, bietet das völlig neue Möglichkeiten, gerade was die Schnelligkeit der Berichterstattung angeht. Das Warten auf einen Übertragungswagen oder ein Kamerateam ist dann nicht mehr nötig. Es komme nicht darauf an, „das perfekt polierte Erlebnis des Bildes“ zu liefern, so Reichelt, bei „Bild-TV“ dürfe es auch mal wackeln und etwas skurril sein.

Problematisch bis katastrophal wird es, wenn es Breaking News gibt. Dann entsteht der Zwang, Sendeminuten zu füllen, auch wenn es noch gar kein Material gibt, mit dem man etwas füllen könnte. In solchen Situationen schaltet die Redaktion dann dankend zu einem „Augenzeugen“, der gerade noch geschlafen hat und etwas von „Giftgas“ und zerstückelten Frauen erzählt. Oder die „Bild“-Moderatoren verbreiten gleich selbst allerlei Gerüchte, die sie irgendwo aufgeschnappt haben – und sich später als falsch herausstellen.

Falsche Geiselnahme, falsche Schießerei, falsches Video

Am 2. November 2020 schießt ein Mann in der Wiener Innenstadt auf mehrere Menschen und tötet vier von ihnen. Der Täter, den die Polizei noch am selben Abend erschießt, soll Sympathisant der Terrororganisation „Islamischer Staat“ gewesen sein. Die österreichische Regierung geht daher von einem islamistischen Terroranschlag aus.

„Bild-TV“ berichtet über vier Stunden live. Nach gut einer halben Stunde verbreitet die Moderatorin das erste falsche Gerücht. Sie fragt einen zugeschalteten Terrorexperten:

Jetzt in diesem Moment erreichen uns auch Nachrichten, dass es an einem dritten Ort in Wien zu einer Geiselnahme gekommen sein soll. Wie passt das jetzt in diesen Amoklauf oder diesen Terrorangriff herein? Erst die Schüsse, jetzt also auch eine Geiselnahme.

Der Terrorexperte antwortet: Diese Geiselnahme „in einem Schnellrestaurant“ sei „mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit“ mit den Schüssen in der Wiener Innenstadt in einen Zusammenhang zu setzen. Aus seiner Sicht gebe es „einen unmittelbaren Konnex“.

Es hat keine Geiselnahme in einem Schnellrestaurant gegeben.

Kurze Zeit später sagt derselbe Terrorexperte:

Aktuell habe ich gerade gehört, dass in der U-Bahn-Linie U3 es zu einer Schießerei gekommen sein soll.

Eine Schießerei im U-Bahn-Netz hat nie stattgefunden.

„Bild“-Vizechefredakteur Paul Ronzheimer spricht nun von „einer Geiselnahme in einem Hotel“.

Auch diese Geiselnahme hat es nicht gegeben.

Der Terrorexperte ist wieder dran. Er erzählt von „Schüssen im Stadtpark“ und sagt, „dass sich einer der Täter selbst in die Luft gesprengt haben soll“.

Weder das eine noch das andere stimmt.

Eine „Bild“-Reporterin, die zufällig an diesem Abend in der Innenstadt Wiens unterwegs war, wird zugeschaltet. Sie wiederholt noch einmal:

Es ist klar, dass es eine Geiselnahme gab. Es ist klar, dass es Schüsse beziehungsweise eine Gewalttat in einer U-Bahn gekommen ist. Und mehr wissen wir ehrlicherweise noch nicht. Also noch nicht, was ich dir als Fakten nennen kann. Das sind die Sachen, die wir ganz genau wissen.

Nichts davon ist richtig.

Spekulieren über Tote

Nun ist ein anderer Terrorexperte zugeschaltet. Die Moderatorin fragt ihn:

Manche Medienberichte aus Österreich sprechen von bis zu zehn Tätern. Ist das, kann man das als normal überhaupt bezeichnen in so einer Situation, aber zehn Täter, für was spricht das?

Es gab keine zehn Täter.

Der Terrorexperte spekuliert über mögliche Tote:

Ich gehe eher davon aus, dass wahrscheinlich eher so zehn Tote, ein Dutzend Tote mindestens zu beklagen sein werden.

Es wurden vier Menschen vom Attentäter getötet, und dazu der Attentäter durch die Polizei.

Die „Bild“-Redaktion spielt ein Video ein, auf dem mehrere Menschen vor Polizisten auf Motorrädern weglaufen, manche greifen die Polizisten auch an.

Dieses Video zeigt nicht eine Szene aus Wien, sondern eine aus Barcelona.

Eine weitere Reporterin wird zugeschaltet:

Was wir gesehen haben, das ist ja ein ähnliches Szenario, was wir hier in Wien zumindest bisher sehen können, wie der Anschlag auf Charlie Hebdo. Wenn Sie sich daran erinnern: Da war auch ein Kommando, das eben losgestürmt ist und dann geschossen hat und versucht hat, dann zu entkommen. Und dass es damals auch eine Geiselnahme ja auch gegeben hat. Gleichzeitig auch immer wieder mehrere parallele Terroranschläge. So was Ähnliches als Muster scheint hier heute Abend in der österreichischen Hauptstadt abzulaufen.

In Wien gab es kein „Kommando“. Es gab keine Terroristen, die geflüchtet sind. Es gab keine Geiselnahme. Und es gab auch keine „parallelen Terroranschläge“.

Ein „Bild“-Chefreporter beschreibt ein Video aus Wien, auf dem zu sehen ist, wie der Attentäter auf einen Passanten schießt: Das Verhalten des Täters zeige „ein Stück weit“, „dass es dort offenbar eine Ausbildung gegeben hat, denn das ist das typische Vorgehen, was Dschihadisten in ihrer Ausbildung in arabischen Ländern bekommen“.

Der Täter soll zwar den Plan gehabt haben, sich dem sogenannten „Islamischen Staat“ in Syrien anzuschließen. Er ist allerdings in der Türkei daran gehindert und wieder nach Österreich geschickt worden. Eine „Ausbildung in arabischen Ländern“ hat er nicht bekommen.

Der frühere RTL-Chefredakteur Hans Mahr, der inzwischen als Berater für „Bild-TV“ tätig ist, steht im Studio und erzählt:

Eine Frau, die ich persönlich kenne, hat mir berichtet: Sie war in einem Lokal […], da wurden die Leute alle in den ersten Stock raufbefördert und dort evakuiert. Von dort haben sie zuschauen können, wie vier der Terroristen, wir haben vorher den Film gesehen, vier der Terroristen entwaffnet wurden und festgenommen wurden.

Die Personen sind nicht „vier der Terroristen“.

„Schüsse, Blut, Menschen rennen um ihr Leben“

Hans Mahr erzählt, er habe „nicht nur Gerüchte, sondern fast schon Mitteilungen, dass es bis zu sieben Tote sein könnten, die dieses Attentat gefordert haben kann“.

Es wurden nicht sieben Menschen getötet. Und noch einmal Mahr:

Man darf auch nicht vergessen: Das Erstaunliche bei diesem Attentat war, dass es so viele Täter, so viele, die miteinander verbunden waren, hier in Aktion getreten sind. Bei all den anderen Anschlägen waren es ein, zwei, drei Täter. Diesmal sprechen wir von Minimum sechs Tätern, manche Berichte sogar von zehn.

Auch das stimmt nicht.

Zwischen all diesen Falschmeldungen sagt eine der Reporterinnen:

Wir müssen da im Moment extrem aufpassen, weil natürlich in diesen angespannten Situationen sich alle möglichen Gerüchte verbreiten. Also alles muss auch vorsichtig berichtet werden und dann auch verifiziert werden.

Während die „Bild“-Mitarbeiter selbst „alle möglichen Gerüchte“ über den Sender jagen, müssen sie natürlich auch etwas zeigen. Die Redaktion spielt in Dauerschleife verschiedene Videos aus Wien ein, der Großteil scheint aus den Sozialen Netzwerken zu stammen. Eines zeigt eine Szene vor einem Restaurant: Eine Person liegt in einer Blutlache.

Anfangs ist diese Stelle noch verpixelt, später nimmt die „Bild“-Redaktion diese Verpixelung raus. Auch in dem Video, das zeigt, wie der Attentäter auf einen Passanten schießt, ist das Opfer erst unkenntlich gemacht. Später ist die Unkenntlichmachung verschwunden.

Die Wiener Polizei bittet bei Twitter eindringlich darum, keine Videoaufnahmen zu verbreiten, weil dies unter anderem die Einsatzkräfte gefährden könne. Dennoch steht nach Veröffentlichung des Polizei-Tweets auf der Bild.de-Startseite: „Schüsse, Blut, Menschen rennen um ihr Leben – ERSTE VIDEOS AUS DER TERROR-NACHT VON WIEN!“

Ein Anschlag „aus einem Hobby heraus“

Die „Bild-TV“-Sendung zum Anschlag in der österreichischen Hauptstadt ist kein einmaliger Ausrutscher. Das wilde Rumraten, das Streuen von falschen Gerüchten, das Gefährden von Polizeieinsätzen kommt in Breaking-News-Situationen häufiger vor. Auch während des rassistischen und antisemitischen Anschlags in Halle.

Ein Rechtsextremist versucht dort im Oktober 2019 vergeblich, in eine Synagoge einzudringen. Auf der Straße davor erschießt er ein erstes Opfer, später in einem Döner-Imbiss ein zweites. Zufällig ist ein „Sport-Bild“-Mitarbeiter in der Nähe der Tatorte. „Bild-TV“ schaltet direkt zu ihm. Er erzählt, dass das Sondereinsatzkommando (SEK) gerade eingetroffen sei, und verrät auch gleich, wohin das SEK nun unterwegs ist und was es momentan macht.

Später nennt der Reporter den Namen einer Straße, in der die Einsatzkräfte angeblich gerade Häuser durchsuchen. Bei einem Interview mit einer Anwohnerin hält er die Kamera extra so, dass man die Frau nicht sehen kann – sie möchte anonym bleiben, „ja, aus Angst“, wie der Reporter erklärt. Nach dem Gespräch verrät er, wo und in welcher Straße die Frau arbeitet.

Ein „Bild“-Chefreporter erzählt, dass es einer „aktuellen Information“ zufolge einen Toten in der Synagoge gebe. Das ist falsch.

Außerdem vermutet er, dass ein Täter sich vielleicht noch im Nahbereich der Synagoge aufhalte, sich vielleicht in einem Haus verschanze und vielleicht sogar Geiseln in einer Wohnung genommen habe. Der Täter ist da schon längst geflüchtet, niemand hat sich verschanzt, eine Geiselnahme gibt es nicht.

Im „Bild-TV“-Studio steht ein Redakteur, den der Moderator als „Waffenkenner“ vorstellt. Er begutachtet Videoaufnahmen, auf denen der Täter mit seinen Waffen zu sehen ist, spekuliert, ob es sich um einen Waffensammler handelt, und hat eine Theorie: Der Anschlag könnte doch „aus einem Hobby heraus entstanden“ sein.

„… oder eben Schutzgelderpressung“

Vier Monate später, im Februar 2020, erschießt ein Mann im hessischen Hanau neun Menschen in beziehungsweise vor zwei Bars, später tötet er auch seine Mutter. „Bild-TV“ ist in der Nacht wieder mit einem Liveprogramm dabei. Mehrere „Bild“-Reporter und der Moderator spekulieren über die möglichen Hintergründe der Tat. Ein Reporter, der in Hanau vor Ort ist, sagt:

Ich habe aus relativ gut unterrichteten Quellen in Hanau hier erfahren – aber ich muss dazu sagen: Das sind nur Spekulationen –, dass es sich bei dem Täterumfeld um Russen handeln könnte.

Der Moderator will wissen, ob „vielleicht das Umfeld dieser Shisha-Bar Schrägstrich Sportsbar auf irgendwelche Motive oder Hintergründe dieser Tat hindeuten“ könnte. „Bild“-Chefreporter Frank Schneider, der auch zu den Anschlägen in Halle und in Wien Gerüchte verbreitet hat, die sich als falsch herausstellten, ist dieses Mal ebenfalls dabei. Er bringt die organisierte Kriminalität ins Spiel:

Wenn jetzt möglicherweise diese Bars von Menschen betrieben werden, die Streit mit anderen haben, oder es geht da um Vormacht, worum auch immer, oder eben Schutzgelderpressung. Es kann ja auch sein, dass die Betreiber der Bars schlicht und ergreifend kein Schutzgeld bezahlen wollten. Das wäre dann natürlich, wie gesagt, eine Qualität, die hat es in Deutschland so noch nicht gegeben. Aber das wären jetzt alles reine Spekulationen.

Florian von Heintze, Stellvertreter des Chefredakteurs, steht im „Bild-TV“-Studio und sagt: „Es verdichten sich allerdings dann doch wohl die Hinweise darauf, dass es eher im kriminellen Milieu sich abspielt das Ganze.“ Chefreporter Schneider sieht es ähnlich – und die Schuld möglicherweise auch bei den Angegriffenen. Auf die Frage des Moderators, „in welchem Milieu“ sich die Tat abgespielt haben könnte, antwortet er:

Das Milieu kann eigentlich nur sein, dass es möglicherweise um Delikte geht im Drogenmilieu oder es geht um Schutzgelderpressung. Was genau die Hintergründe sind, kann man natürlich momentan noch nicht sagen, weil man nicht weiß, was in diesen Bars genau passiert, welche Kundschaft dort verkehrt, was es für Vorfälle vielleicht in jüngster Vergangenheit gab. Das muss man jetzt im Einzelnen klären.

Am Ende stellt sich raus: Der Täter ist kein Russe, sondern Deutscher, er ist auch kein Schutzgelderpresser und kommt auch nicht aus dem Drogenmilieu. Das Bundeskriminalamt hält seine Tat für rassistisch motiviert.

Die Spekulationen erinnern an die Schlagzeilen zu einer Mordserie in den Jahren 2000 bis 2006, bei der alle neun Opfer einen Migrationshintergrund hatten. Die Morde wurden in der Berichterstattung lange als „Döner-Morde“ bezeichnet, auch von der „Bild“-Zeitung. Im April 2006 schreibt sie, es gebe vier heiße Spuren zu den Fällen: „Drogenmafia, organisierte Kriminalität, Schutzgelderpressung, Geldwäsche.“ Den Opfern wurden kriminelle Geschäfte unterstellt, die Morde als mögliche Reaktionen türkischer Krimineller beschrieben.

Nichts davon war richtig. Wie sich später herausstellte, wurde die Mordserie von den Neonazis des sogenannten „NSU“ verübt.

„Bild“ als „Werkzeug des Täters“

Neben den vorurteilsbeladenen, falschen Spekulationen zu Tätern und Opfern oder dem Verraten des Polizeivorgehens steckt eine weitere große Gefahr in der Notwendigkeit, das oft mehrstündige Liveprogramm von „Bild-TV“ irgendwie zu bebildern.

Am 15. März 2019, nur kurz nach den ersten Meldungen über Schüsse im neuseeländischen Christchurch, steht auf der Bild.de-Startseite: „Terror-Angriff auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) – 17 MINUTEN MORD-FELDZUG – Killer filmte, wie er Männer, Frauen, Kinder erschießt“. Mit dem Hinweis „M I T V I DEO“ wirbt die Redaktion um Klicks.

Bild.de zeigt eine zusammengeschnittene Version der Aufnahmen, die der rechtsterroristische Täter auf seiner Facebookseite live streamte. Jene Videosequenzen, in denen Menschen erschossen werden, sind rausgeschnitten. Stattdessen sind Standbilder mit Leichen und Blut zu sehen, auch ein Opfer, das direkt vor dem Täter steht, kurz bevor es erschossen wird. Schüsse sind zu hören.

Auf die Frage, welche Rolle Vorbilder für Amokläufer oder Terroristen spielen, sagt die Kriminologin Britta Bannenberg:

Alle Täter haben sich an anderen orientiert, besonders an den Amokläufern der Columbine Highschool. Die Tat war medial besonders inszeniert – einer der Täter hatte eine Homepage, über die er seinen Hass verbreitet hat. Außerdem ist ein Video eines Teils dieser Tat ins Internet gelangt. Das ist Nachahmungsmaterial für Pubertierende, die Vorbilder suchen: Sie sehen die Klamotten der Täter, sehen, wie sie herumstolzieren.

In ihrem Sammelband „Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus“ schreiben die Wissenschaftler Frank J. Robertz und Robert Kahr:

Schulamokläufer und Terroristen sichern sich durch das kalkulierte Ausüben von Gewalt einen Platz in den Schlagzeilen der Weltpresse. Sie folgen damit einer bewährten Kommunikationsstrategie, die ebenso menschenverachtend wie durchschaubar ist. Dieses Kalkül der Täter geht insbesondere dann auf, wenn Medien die destruktiven Botschaften der Täter ungefiltert weitertragen. Sie verbreiten auf diese Weise Angst in der Gesellschaft, belasten die Opfer und liefern im schlimmsten Fall eine Inspiration für Nachahmer.

„Bild“-Chef Julian Reichelt sagt zu den Aufnahmen aus Christchurch hingegen: „Wir zeigen diese Bilder ganz bewusst. Wir glauben, dass wir diese Bilder zeigen müssen.“ Journalismus sei dazu da, „Bilder der Propaganda und Selbstdarstellung zu entreißen und sie einzuordnen“.

Allerdings findet in dem Video, das bei Bild.de zu sehen ist, so gut wie keine Einordnung statt; die Redaktion blendet lediglich ein paar Sätze ein, die beschreiben, was man gerade sieht. Ansonsten reicht sie die „Propaganda und Selbstdarstellung“ lediglich weiter.

Der Täter von Christchurch habe das mediale Echo einkalkuliert, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. „Bild“ betreibe „Attentatspornografie“. Zu einem ähnlichen Urteil kommt der Deutsche Presserat: Bild.de bekommt für die Berichterstattung eine Rüge – die Redaktion habe sich „zum Werkzeug des Täters gemacht“.

Die Aufnahmen aus Christchurch liefen nicht bei „Bild-TV“; das Projekt existierte in der Form damals noch nicht. Die Redaktion nutzt aber heute für den Sender immer wieder nicht verifizierte Videos, auf die sie im Internet stößt. Und sie bietet seit Jahren Amokläufern und Terroristen eine Plattform für deren Inszenierung: 2009 druckt die „Bild“-Zeitung ein großes Foto des Amokläufers von Winnenden. Sie hat dafür extra den Kopf des Täters auf den Körper eines Mannes in schwarzer Kampfuniform montiert, eine Waffe ist auf die Leserschaft gerichtet. Das Foto im Blatt ist fast einen halben Meter hoch.

2014 schreibt Bild.de über die „massive Propagandaschlacht im Internet“ des sogenannten „Islamischen Staats“. Dort „vermarkten die Terroristen regelrecht ihren Kampf!“. Gleichzeitig baut die „Bild“-Redaktion wiederholt aus exakt diesen Propagandafotos und -videos ganze Artikel und zeigt in zahlreichen Beiträgen die „barbarischen“, „widerwärtigen“, „perversen“ und „niederträchtigen“ Szenen.

2016 ist der Amokläufer von München mehrere Tage lang Dauergast auf der Bild.de-Startseite. Die Fotos, die ihn zeigen, sind nicht verpixelt. Dabei warnt der Psychologe Jens Hoffmann schon seit Jahren genau davor: „Zeigt nicht das Gesicht des Täters, nennt nicht den Namen. Er soll nicht zur ‚Berühmtheit‘ werden, sondern dem Vergessen anheimfallen. Das kann Nachahmer abschrecken.“

2018 veröffentlicht Bild.de Fotos, auf denen ein Amokläufer aus Florida mit seinen Waffen posiert. Die Redaktion zeigt ihn genau so, wie er gesehen werden will.

Nur wenige Wochen später titelt Bild.de: „SCHARIA-GERICHT IM KINDERZIMMER – Bruder (20) rammt seiner Schwester (17) Messer in die Brust – Schwer verletzt – Familie dreht Video von der Tat“. Dazu der Hinweis „MIT VIDEO“, allerdings nur für zahlende „Bild-plus“-Kunden. Auf den Aufnahmen sieht und hört man, wie das Mädchen seine Brüder anfleht, einen Krankenwagen zu rufen, wie einer der Brüder in die Kamera sagt, dass er den Anblick, wie seine Schwester stirbt, genieße. Die Familie wollte all das offenbar dokumentieren. „Bild“ hilft ihr beim Verbreiten.

Das Video verschwindet erst von Bild.de, als sich die zuständige Staatsanwaltschaft bei der Redaktion meldet.

5 Kommentare

  1. Das Beispiel von Wien zeigt eindrucksvoll, was uns erwartet, wenn die Dreckschleuder Bild live berichtet. München 2016 war auch ohne Bild schon der Horror, wenn man – wie eine unserer Töchter – mittendrin steckt und vor lauter Gerüchten nicht mehr weiß, wohin man noch flüchten kann. Damals waren 5 Terrorkommandos auch an 16 Orten gleichzeitig.

    Bild-TV braucht man so dringend wie ein Loch im Kopf.
    Ich gehe jetzt den Kotzsmiley suchen.

    (Oben bei ZDF, RBB, NDR etc. funktionieren die Webarchive-Links nicht.)

  2. Wie gut, laut Springer, oder wie schlecht, laut Schönauer/Tschermak, Bild TV wird, kann ich mir ab morgen anschauen. Ich kann es auch sein lassen. Aber niemand kann mich zwingen, dafür zu zahlen. Das ist wie mit Übermedien. Hier zahle ich freiwillig. Das wünsche ich mir ebenso für ARD, ZDF und Deutschlandradio. Die sehe und höre ich vorwiegend. Auch da würde ich ein Abo-Modell bevorzugen.

  3. Ich habe heute in den journalistischen Dilettantenstadl BILD TV reingeschaut, es ist ein Albtraum. Stammelnde Moderatoren, ungelenke Reporter/innen, und natürlich die ganze Skala technischer Pannen, die wir schon lange von BILD TV kennen. Es scheint weiterhin so zu sein, dass sich Claus Strunz hauptsächlich für Claus Strunz interessiert und alle anderen dilettieren dürfen wie sie wollen, von journalistischer Distanz und Professionalität ist weit und breit nichts zusehen. Oder wie die Reporterin vor dem HSV-Stadion so schön sagte: „Wir (!) brauchen hier neue Spieler.“ Aua.

  4. #2 Am Thema vorbei. Es geht hier um Bild Liveband nicht um die Finanzierung des ÖRR, da finden sie selbst auf Übermedien mehrerer Artikel in denen sie sich artikulieren können und nicht völlig aus dem Diskurs fallen.

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