NDR-Doku über Prostituierte

Warum „Lovemobil“ kein zweiter Fall Relotius ist

Erst wurde der Film gefeiert, mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet und für den Grimme-Preis nominiert. Nun steht „Lovemobil“ plötzlich für einen Fälschungsskandal und seine Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss am Pranger.

Eine vermeintliche Prostituierte aus dem Film "Lovemobil"
Eine vermeintliche Prostituierte aus dem Film „Lovemobil“ Screenshot: „Lovemobil“

Der vom NDR koproduzierte Film begleitet angebliche Sexarbeiterinnen, die ihre Dienstleistungen in Wohnmobilen an einer niedersächsischen Landstraße anbieten. Doch das ebenfalls zum NDR gehörende Magazin „Strg_f“ hat in dieser Woche aufgedeckt, dass der Film in weiten Strecken auf Szenen basiert, „die nicht authentisch sind“, sondern inszeniert wurden. Manche der Protagonist*innen sind keine Prostituierten und keine Freier sondern: Schauspieler*innen. Kenntlich gemacht wurde das im Film nicht – was offenbar selbst den Mitwirkenden teilweise nicht bewusst war.

Das hat eine Debatte ausgelöst, was im Dokumentarfilm geht – und was nicht. Nur könnte sie allzu schnell versanden, denn in den Texten vieler Medien ist die nahezu alleinige Schuldige schnell gefunden: die „Lovemobil“-Regisseurin Lehrenkrauss.

Hat jemand Relotius gesagt?

Es steht ein Elefant im Raum. Er hört auf den Namen Claas Relotius. Er ist da, auch wenn sich manche Berichte von „taz“ über die „Süddeutsche“ bis zur „Zeit“ bemühen, ihn nicht zu benennen.

Andere sprechen es aus, wie SZ-Autor Willi Winkler, der meint, dass „Lovemobil“ „weit oben auf der Relotius-Skala“ liege und sogar von einer „relotionären Dokumentation“ spricht. Die Parallele zwischen den Verfehlungen Lehrenkrauss und dem „Fälscherskandal“ Relotius beim „Spiegel“ zu ziehen, schreibt die „Welt“, wirke reflexhaft, sei aber zulässig.

Seit 2018 steht der Fall Relotius im Journalismus synonym für Fälschungen, fürs Zurechtbiegen von Geschichten, eigentlich für die Verkommenheit einer Branche. An wem Vorwürfe à la Relotius haften bleiben, der gilt als verbrannt.

Die „authentischere Realität“

Und so zerstörerisch der Vergleich klingt, auf den ersten Blick liegt er auf der Hand. Bei Lehrenkrauss ist es der Glaube an die „authentischere Realität“, bei Relotius waren es die Geschichten, die „larger than life“ sein mussten.

In beiden Fällen brauchte es externe, freie Mitarbeiter, um die Wahrheit ans Licht zu bringen: Juan Moreno, der Relotius‘ Lügen aufdeckte, im Fall von „Lovemobil“ war es die freie Editorin Irem Schwarz, der erste Zweifel kamen.

Man kann über Fehler reden, darüber, warum die Regisseurin die Szenen nicht gekennzeichnet hat, über einen fragwürdigen Begriff von Authentizität und Wahrheit. Doch im Vergleich mit Relotius, gibt es in der Causa Lehrenkrauss, außer der augenscheinlichen Gemeinsamkeit, dass beide den Wahrheitsbegriff großzügig auslegen, nichts zu holen.

Lehrenkrauss, so stellt es nicht nur sie selbst dar, das bestätigt auch ihre Dozentin Sabine Rollberg gegenüber Übermedien, leistete jahrelange Recherchearbeit, während Relotius dutzendfach die Charaktere, die Handlungsstränge, die Dramaturgie am Reißbrett entwarf. Nicht umsonst spricht Juan Moreno in „Tausend Zeilen Lüge“ von einem System Relotius.

Was hätte der NDR sehen müssen?

Noch am Dienstag, dem Tag der Ausstrahlung des „Strg_f“-Films wurde die Nominierung für den Grimme-Preis zurückgezogen. Am Mittwoch gab die Regisseurin Elke Lehrenkrauss den deutschen Dokumentarfilmpreis zurück. Was als kometenhafter Start in der Dokumentarfilmbranche begann, endete durch die Enthüllung des NDR in einem Sturzflug, bei dem keiner der Beteiligten eine gute Figur abgibt.

Auf der Suche nach der Wahrheitsfindung darf der Blick nicht nur Lehrenkrauss gelten. Wenn man „Lovemobil“ mit dem Wissen sieht, dass dort Darsteller Rollen spielen, dann schreit einen das Offensichtliche an: Männer, die sich dabei filmen lassen, wie sie mit Sexarbeiterinnen intim werden – wer bitteschön würde sich dabei filmen lassen?

Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Klar. Doch nicht nur wer schon einmal versucht hat, im Milieu von Sexarbeiter*innen zu recherchieren, muss bei solchen Szenen unbedingt stutzig werden. Hat also die Redaktion des NDR versagt? War die Story nicht zu schön, um wahr zu sein, sondern gerade schön genug, um wahr zu sein?

In der Enthüllungsdoku von „Strg_f“ gibt der betreuende Redakteur Timo Großpietsch, selbst studierter Dokumentarfilmer, keine gute Figur ab. Er gibt das Bild eines überrumpelten Redakteurs ab, der die Verantwortung abschiebt, der ausweicht. Erst auf Nachfrage – „also hat die Redaktion alles richtig gemacht?“ – stellt er selbst die Frage in den Raum, wann er was hätte merken müssen. Eine Antwort bleibt er den Zuschauern des Films schuldig.

In einer Stellungnahme des NDR wird Großpietschs Sprachlosigkeit gleich ein ganzer Koffer journalistischen Handwerkszeugs entgegengesetzt, der dabei helfen soll, solche Situationen gar nicht entstehen zu lassen:

„Dazu gehören unter anderem ein Vier-Augen-Prinzip von Produktion und Redaktion, sorgfältige Abnahmen, Plausibilitäts- und Faktenchecks, stichprobenartige Detailprüfungen von Produktionen. Alle Filme werden im NDR redaktionell – und manchmal auch juristisch – abgenommen. Dabei achtet die Redaktion auf die Dramaturgie der Filme, aber auch auf Faktentreue und Plausibilität des Gezeigten oder Gesagten. Wenn etwas unklar ist, wird nachgefragt.“

Stefan Schwietert, Professor für Dokumentarfilmregie an der Filmuniversität Babelsberg, sieht ein systemisches Problem. „Alles, was der Sender in seinem Statement gesagt hat, ist richtig“, sagt er am Telefon. „Trotzdem würde man sich wünschen, dass der NDR die Frage etwas grundsätzlicher angeht und sich kritischer mit der eigenen Rolle auseinandersetzt.“

Spektakulär gewinnt – auch beim Dokumentarfilm

Seit rund zwei Jahrzehnten gibt es immer weniger Sendeplätze für Dokumentarfilme. In der Branche herrscht ein großer Druck, die begehrten Filmförderungen zu bekommen. Weniger Sendeplätze führen zu mehr Wettbewerb – und da wo Wettbewerb ist, ist auch der Erwartungsdruck nicht weit.

Redaktionen heutzutage, nicht nur die des NDR, erwarten von Dokumentarfilmregisseur*innen vorab ein Exposé oder ein Treatment, wie der Film auszusehen habe. Daran werden die Filmemacher*innen später gemessen. Keiner, so Schwietert, wolle die Katze im Sack kaufen. Das entschuldigt Lehrenkrauss‘ Fehler nicht, ist aber wichtig, um die Gemengelage nachzuvollziehen, in der Filmemacher*innen agieren.

„Der Dokumentarfilm in seiner ergebnisoffenen und rein beobachtenden Form ist durch diesen Wettbewerb an den Rand gedrückt worden“, sagt Sabine Rollberg. Da wo Dokumentarfilme journalistischen Charakters als „zu langweilig und zu langatmig“ gelten, da hat die Stunde der subjektiveren, der poetischen, der künstlerischen Dokumentarfilme geschlagen. Hier reiht sich ohne Frage auch „Lovemobil“ ein. Der Film will Machtstrukturen aufzeigen, marginalisierten Stimmen Raum geben.

Beide Fachleute, Schwietert und Rollberg sehen, dass Lehrenkrauss Fehler gemacht habe, nun werde sie aber als „Sündenbock durch die Republik gehetzt“, sagt Rollberg. Sie sieht die Schuld beim NDR:

„Es ist wie beim Doping: Alle profitieren vom System, aber wenn es auffliegt, will es keiner gewesen sein.“

Irene Klünder, Leiterin des SWR Doku Festivals, hofft in der „Zeit“ trotzdem auf „eine Chance für den Dokumentarfilm, in dem offen die Transparenz und die Frage nach Authentizität diskutiert wird.“ Dafür muss ein Gespräch geführt werden darüber, was Dokumentarfilm darf, was er ist; ein Dialog zwischen Purist*innen und poetischen Dokumentarfilmer*innen, zwischen Journalist*innen und Künstler*innen.

„Wenn wir uns jetzt vom Beispiel ‚Lovemobil‘ etwas entfernen, stellen wir fest, dass wir nicht nur mit Kriterien bewertet werden wollen, die aus dem Journalismus kommen“, formuliert Stefan Schwietert einen Wunsch, der es durch die Aufregung um „Lovemobil“ schwer haben könnte.

23 Kommentare

  1. „Dafür muss ein Gespräch geführt werden darüber, was Dokumentarfilm darf, was er ist“
    Alles wird sowieso neu ausgehandelt und jetzt wollen wir auch darüber sprechen, dass es einfach nur OK ist, wenn wir die richtige Botschaft mit falschen Geschichten hinterleuchten.
    „mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet“
    Dann ist auch der Preis so sicher wie das Amen in der Kirche.

  2. Wir haben ja letztens schon mit Unmut festgestellt, dass das Ersetzten der walisischen durch schottische Otter ebenfalls so ein Symptom für den Sensationsdruck in der (Tier-)Doku war, wo es offenbar gar keine Option war, auf die Otter zu verzichten, nur weil das „Script“ dieselben so halt vorgesehen hat.

  3. Mal eine kritische Nachfrage zu dieser Formulierung:

    <>

    Ich finde hier wird nicht hinreichend deutlich, was die Aussage von Frau Rollberg hier zu suchen hat. Alles was wir über die Beziehung der beiden erfahren, ist, dass sie ‚ihre Dozentin‘ ist, also irgendwann mal hat die eine einen Vortrag gehalten, den die andere gehört hat. Ich habe in meinem Leben schon eine Menge Vorträge von einer Menge Leute gehört, kaum einer davon könnte einschätzen, wie gut ich meinen Job mache.
    Wenn die Beziehung der beiden tatsächlich so oberflächlich ist, wie hier genannt, hat ihre Aussage kein Gewicht und könnte weggelassen werden.
    Alternativ dazu gibt es gute Gründe davon auszugehen, dass Frau Rollberg hier weiß wovon sie spricht, dann sollte man dass entsprechend benennen. Es hilft z.B. schon zu wissen dass sie lt. Wikipedia ‚Professorin für künstlerische Fernsehformate, Film und Fernsehen‘ ist, Dozentin kann sich jeder nennen, zu jedem beliebigen Thema, Professorin ist schon nochmal einen Schritt weiter und ihr Fachgebiet deckt sich mit dem Thema, das ist doch schonmal ein guter Schritt weiter. Aber auch das klärt noch nicht, woher Frau Rollberg Einblick in die Recherchearbeit einer Frau hat, die vor neun Jahren ihren Abschluss gemacht hat, noch dazu nicht an der Universität an der Frau Rollberg lehrt. Ich möchte ihr die Expertise nicht absprechen, ich weiß nicht worauf sie beruht – aber das ist genau der Punkt: warum erzählt der Text mir das nicht? Warum ist man überhaupt auf den Gedanken gekommen mit ihr zu sprechen, Auch Frau Lehrenkrauss wird, wie jeder andere studierte Mensch eine lange Liste von ‚Dozent*innen‘ gehabt haben, warum diese?
    Und wenn es nicht der Erwähnung wert ist, zu beschreiben, woher Frau Rollberg ihr Wissen bezieht, nun dann kann man auch ihre Aussage weglassen, da sie für den Leser absolut nicht zuordenbar ist.

  4. Hmm, offenbar mag die Kommentarfunktion keine französischen Anführungszeichen, ich bezog mich auf folgenden Satz:

    „Lehrenkrauss, so stellt es nicht nur sie selbst dar, das bestätigt auch ihre Dozentin Sabine Rollberg gegenüber Übermedien, leistete jahrelange Recherchearbeit, während Relotius dutzendfach die Charaktere, die Handlungsstränge, die Dramaturgie am Reißbrett entwarf.“

  5. Lehrenkrauss, so stellt es nicht nur sie selbst dar, das bestätigt auch ihre Dozentin Sabine Rollberg gegenüber Übermedien, leistete jahrelange Recherchearbeit, während Relotius dutzendfach die Charaktere, die Handlungsstränge, die Dramaturgie am Reißbrett entwarf.

    Und das wissen wir genau woher? Wäre es nicht richtig zu formulieren Lehrenkrauss behauptet sie recherchiert jahrelang?
    Bei den ersten Vorwürfen haben Relotius und seine Vorgesetzen doch wahrscheinlich auch genau so atgumentiert.
    Und was ist, wenn die Ergebnisse der Recherche dann doch nicht so filmreif sind?

  6. Relotius ist vllt. zu hart, aber das ist schon härter als Joko und Klaas.

    Persönlich hätte ich nichts gegen nachgestellte Szenen, wenn die irgendwie kenntlich sind.

  7. @#3
    Ich finde, der Wikipedia-Artikel über Sabine Rollberg beantwortet die Frage nach ihrer Kompetenz recht deutlich.

  8. Habe ich es eigentlich richtig verstanden:
    (Laien-)Schauspieler spielten unter der Voraussetzung, an einem fiktionalen Film mitzuarbeiten, Freier und Prostituierte und im fertigen „Dokumentar“-Film erscheinen sie so, als wären sie als Personen echte Freier und Prostituierte?
    Ähm wtf?

    „Der Film will Machtstrukturen aufzeigen, marginalisierten Stimmen Raum geben.“ Bullshit.

  9. @Lars:
    Rein vom Grundsatz her passiert bei Aktenzeichen xy genau dasselbe. Nur wissen die Schauspieler da, dass sie Szenen nachstellen und dass das kein Krimi oder sonstiges fiktives Format werden soll, und das Publikum – mit seltenen Ausnahmen – versteht das ebenso.

    Und auch bei anderen Dingen, wo über Menschen berichtet wird, die sehr auf Anonymität wert legen, werden Szenen nachgestellt, Aussagen nachgesprochen, und dergleichen mehr. Ist also prinzipiell legitim, nur muss das irgendwie kommuniziert werden.

  10. @Mycroft:

    Die Regisseurin hat nicht nur nicht kommuniziert, sie hat bewusst Leute hinters Licht geführt. Michael Hanfeld in der FAZ dazu:

    „Dass sie die von ihr eingesetzten Mittel nicht transparent gemacht habe, sagte Lehrenkrauss, sei ein Fehler gewesen, für den sie sich entschuldige.
    Im Interview mit der Deutschen Welle vor rund einem Jahr, in dem sie nach ihrer Herangehensweise gefragt worden war, hatte das anders geklungen. „Zum Schutz unserer Protagonistinnen haben wir nicht an dem Ort, wo sie eigentlich arbeiten, gedreht“, sagte Lehrenkrauss. „Wir sind immer in ein anderes Wohnmobil ,umgezogen‘. Die Freier hatten keine Probleme damit, vor der Kamera zu agieren.“ Auf die Frage: „Und es sind echte Freier, die solche Gespräche vor der Kamera geführt haben?“, hieß es: „Wir hatten sechs Protagonisten. Drei davon sind in dem Film. Wir haben sogar Sexszenen gedreht. Die Freier, die in dem Film sind, sind bekannte Stammkunden. Sie wussten, dass wir mit der Kamera da sind.“

    Hanfeld spricht aber auch noch einen anderen Punkt an und stützt sich dabei auf das Statement von Sabine Rollberg:

    „Redaktionen erwarten von Dokumentarfilmern quasi perfekte Realität nach Drehbuch, wollen von vornherein wissen, wie ein „dokumentarischer“ Film ausgeht. An dem arbeiten Autorinnen wie Lehrenkrauss jahrelang, für Hungerlohn, klauben Geld von der Filmförderung zusammen, weil der Sender den Mini-Etat nicht stemmt. Fällt jemandem der Fehler im System auf?“

    Genau das verleitet einige RegisseurInnen, Fakes zu bauen. Machst du deinen Film nicht so hübsch wie die Redaktion es erwartet, wollen sie ihn nicht haben. Wenn du aber versuchst, mit Hilfe von Tricks der Erwartungshaltung gerecht zu werden, lass dich nicht erwischen.

    Nicht wenige Redakteure hätten gerne Spielfilm-Qualität (bisweilen sogar schon bei Kurz-Reportagen) und machen sich ansonsten einen schlanken Fuß. Allerdings wird die Arbeit von „ehrlichen“ Dokumentaristen erschwert durch das, was Leute wie Lehrenkrauss abliefern, ohne ertappt zu werden. Lehrenkrauss ist mitnichten nur ein Opfer der Verhältnisse.

  11. Wenn ich mir anschaue, welche Szenen unter anderem von Frau Lehrenkrauss in den Film reingeskripted wurden (Quelle: das STRG_F Video), sehe ich ihre Verfehlungen deutlich weitergehend.

    Wir sehen einen (angeblichen) Zuhälter, der einen (angeblichen) Mord an einer Prostituierten schulterzuckend zur Kenntnis nimmt, der sich rassisitisch äußert und den die Verzweiflung einer der (angeblichen) Prostituierten völlig kalt lässt. Wir sehen einen (angeblichen) Freier mit furchtbar aussehenden Zähnen (vgl. „Maske? Welche Maske?“), die im Film auch noch betont ausgeleuchtet werden. Zwei Prostituierte unterhalten sich über ihre ungewaschenen Kunden („These dirty Germen men!“).

    Das hat sich Frau Lehrenkrauss so ausgedacht und das ist offenbar ihre „authenischere Realität“. Ich behaupte mal, dass das ganz bestimmt nicht das Ergebnis von jahrelangen Recherchen ist, sondern dass Frau Lehrenkrauss hier schlicht ihre eigenen, ekelhaften, männerfeindlichen Phantasien auf die Protagonisten projiziert hat.

    Ich empfehle ergänzend die Lektüre eines Statements des Prostituierten-Vereins Doña Carmen (https://www.donacarmen.de/im-falschen-film/). Darin wird der Regisseurin vorgeworfen, im Sinne „abolitionistischer Prostitutionsverächter“ (Abolitionismus musste ich auch erst mal googlen) gearbeitet zu haben, so die Abtteilung Emma/PorNo. Das kann ich nachvollziehen. Da gab es keine ergebnisoffene Recherche, sondern da wollte die Regisseurin ihr krankes Männerbild bestätigen, und als das mit richtigen Interviews nicht geklappt hat, hat sie halt Schauspieler ihre Phantasietexte aufsagen lassen.

    In dem Sinne sehe ich da schon viel Relotius, wenn auch eher von einer Überzeugungstäterin.

    Ich finde es auch angesichts der in der STRG_F-Doku gezeigten Ausschnitte unbegreiflich, dass der Mann vom NDR da nicht sofort Lunte gerochen hat. Noch unbegreiflicher, dass dieses Machwerk auch noch mit Preisen überhäuft wurde. Auch hier wieder Relotius reloaded. Ein Armutszeugnis für alle Beteiligten.

  12. Ernsthaft? Frau Lehrenkrauss hat nach Strich und Faden betrogen. Ihren Darstellern hat sie Fiktion vorgegaukelt und ihren Zuschauern Realität. Sie hat erfundenen Mord filmisch inszeniert und Leuten, die meinten, sie seien Schauspieler, Rassismus und Sexismus in den Mund gelegt – was diese jetzt auszubaden haben, weil sie in ihrer Fiktion als reale Personen präsentiert werden.

    Sie behauptet, eine „authentischere Wirklichkeit“ geschaffen zu haben als die Wirklichkeit. Wo ist da der Unterschied zu den „alternativen Fakten“ der Trump-Regierung? Wo zu Relotius? Dass sie eine Frau ist und ein Anliegen hat? Dass sie Druck verspührte? Dass sie dreinschaut wie ein verscheuchtes Reh, wenn Strg_F ihr Fragen stellt?

    Der Film ist scripted reality auf RTL II-Niveau, nur besser ausgeleuchtet und in politisch korrekterer Variante. Nichts gegen einen gesellschaftskritischen Spielfilm über das Sexgewerbe; nichts gegen eine – auch drastische – Doku über das Milieu. Aber ein Laien-Spielfilm, der sich als Doku ausgibt, ist eine Lüge.

    Warum sagt das Übermedien nicht einfach? Vielleicht, weil in dem Lügenfilm schwarze Flüchtlinge als Opfer dargestellt werden – und das muss man gut finden. Ob real oder nicht. (Dass es auf Kosten der schwarzen Darstellerinnen geht, die sich nun ungefragt als vermeintlich echte Prostituierte auf dem Bildschirm wiederfinden, ist halt Pech.)

  13. Auf Lehrenkrauss‘ Homepage ist der erfundene Mord übrigens immer noch real:

    Along the dark country roads of rural Germany, prostitutes from foreign countries work in old caravans. ln this uncanny world, the murder of one of the women takes place.

    https://www.lehrenkrauss.com/film

    Ich weiß nicht, was mich hier mehr aufregt: Der Betrug der Filmemacherin, oder der Wunsch von Übermedien, das Ganze als das Ergebnis von Druck und Missverständnis und guten Absichten betrachten zu dürfen.

  14. @Mycroft (#09)
    Ja, wenn es vor allem für das Publikum so gekennzeichnet ist, spricht da nichts dagegen. Nachstellen von (echten) Szenen durch Schauspieler wäre in Ordnung, wenn es als solches erkennbar ist.
    Hier aber erscheinen in einer Doku Frauen und Männer, die vom Zuschauer für echte Prostituierte, Zuhälter und Freier gehalten werden müssen, es aber nicht sind. Und die offenbar auch nicht wussten, dass sie dem Zuschauer als „echt“ vorgegaukelt werden. Das ist doch unsäglich.

    Was anderes:
    Eine angegebene Begründung für die Fälscherei soll ja der Druck sein, der auf den Filmern laste: Sie müssten schon vorab das Ergebnis des ungedrehten Films der Redaktion des Auftraggebers vorstellen und somit scripten. Wenn das generell so ist, ist es natürlich schlecht und kann zu keinen ergebnisoffenen Dokus führen, nicht mal überraschende Ereignisse könnten einfließen.
    Aber:
    Wenn die redaktionelle Begleitung tatsächlich so eng ist und so früh einsetzt , warum wird dann die Produktion nicht genauso überwacht? Wie kann es dann überhaupt dazu kommen, dass ein Filmteam völlig konspirativ Fiktion zu Doku umwandelt, ohne dass Redaktion und Sender davon erfahren?

  15. Sorry, bin immer so mitteilungsbedüftig, wenn ich hier lese.

    „Lehrenkrauss leistete jahrelange Recherchearbeit“ Ähm, nein, das behauptet(e) sie (und Relotius behauptete es sicher auch). Ihre Dozentin kann bestenfalls bestätigen, dass sie ihren Studenten Recherchearbeit nahelegt. (Relotius‘ Dozenten werden das auch sagen.)
    „War die Story nicht zu schön, um wahr zu sein, sondern gerade schön genug, um wahr zu sein?“ Dasselbe Problem wie bei R. Auch der lieferte genau das, was die Auftraggeber wollten, was maßgeschneidert zum jeweiligen Medium passte.
    „Der Film will Machtstrukturen aufzeigen, marginalisierten Stimmen Raum geben.“ Dass das Bullshit ist, habe ich oben schon geschrieben. „Gute“ Ziele heiligen keine schlechten Mittel. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Aber auch gerade das „Gute“ ist zweifelhaft: Es handelt sich um eine völlig klischeehafte einseitig negative Darstellung von Prostitution ganz im Sinne von Prostitutionsgegnern, gerade nicht im Sinne von „Marginalisierten“ und erst recht nicht im Sinne von Sexworkern, die mit den Klischees zu kämpfen haben. Da offenbar nicht genügend plakativ Negatives gefunden wurde, wurde gefälscht und hingebogen. Es sind keine „poetischen“ „Fehler“, es ist Betrug.

  16. Ich denke, es geht hier auch um ideologische Abgrenzung. Pegida und AfD schreien bei jeder kleinen journalistischen Fehlleistung „Lügenpresse“ und „Relotius“. Dieses Narrativ darf auf keinen Fall bedient werden, deshalb muss der ultimative Sündenfall Relotius ein singuläres Ereignis bleiben und es werden jede Menge Zeugen aufgefahren, die dem System die Schuld geben und die Filmerin entlasten. Hier soll ganz eindeutig Schadensbegrenzung betrieben werden. Leider sind die Parallelen zum Fall Relotius wie schon beschrieben zu augenfällig um diesen Versuch nicht als ziemlich lächerlich und untauglich erscheinen zu lassen.
    So dämlich wie der Autor des Artikels offenbar annimmt, sind die Übonnenten dann doch nicht.

  17. @Lars, #15

    „Ihre Dozentin kann bestenfalls bestätigen, dass sie ihren Studenten Recherchearbeit nahelegt.“

    Da du, wie ich vermute, keinen direkten Kontakt weder zur Regisseurin noch zur Ex(!)-Dozentin hast, ist das erst einmal nur eine Behauptung. Und nicht Sabine Rollberg hat dir etwas zu beweisen, sondern umgekehrt solltest du schon darlegen können, warum Frau Rollberg hier etwas Falsches sagt. Anderen mangelnde Recherche vorhalten und dann selber – frei von Fakten – Thesen über diese Leute aufstellen, das passt nicht zusammen.

    Sabine Rollberg (die beim WDR zu den toughen Redakteurinnen gehörte) spricht die Regisseurin keineswegs frei von Schuld, aber sie mahnt, die Diskussion nicht allein auf die Rolle der Filmemacherin zu beschränken. Und m.E. gibt es da einige Punkte, die sie nennt, die durchaus bedenkenswert sind:

    https://www.medienkorrespondenz.de/leitartikel/artikel/die-angst-waechst.html

    Außerdem gibt es bei Prostituierten und StreetworkerInnen vermutlich keine einheitliche Meinung, ob es sich um eine „völlig klischeehafte einseitig negative Darstellung“ handelt. Der von Ingo S. angeführte Verein „Doña Carmen“, der auch schon mal mit 25.000 Euro eine Zeitungsanzeige für einen Flatrate-Puff finanziert hat, ist übrigens selbst nicht frei von Kritik.

  18. @fps, #18

    Ich denke, es ist schon berechtigt, zu hinterfragen, wie Fr. Rollberg zu ihren Aussagen über die Recherchen von Fr. Lehrenkrauss kommt. Es macht schon einen Unterschied, ob sie Fr. Lehrenkrauss einfach nur glaubt, oder ob sie konkrete Anhaltspunkte hat, die das bestätigen.

    Davon, dass Fr. Rollberg während der Recherchen und den Dreharbeiten Kontakt mit Fr. Lehrenkrauss hatte, oder sie sogar begleitet hat, war bisher nicht die Rede.

  19. Frau Rollberg ist jetzt möglicherweise nicht ganz unbefangen.

    Aber Relotius hatte es leichter: Wenn der sagt, „Ich habe die und die Leute zu ihren politischen Ansichten befragt und die haben das und das geantwortet“, ist das ja erstmal plausibel, selbst wenn das NICHT die „Erwartungshaltung“ aka Vorurteile der Redaktion bestätigt.

    Wenn Lehrenkrauss mit einem Film zu ihrer Redaktion geht, wo Menschen im Rotlichtkontext interviewt und gefilmt werden, die dan unverpixelt ins Fernsehen kommen sollen, bräuchte man dazu keine Einverständniserklärung oder so? Falls nicht, echt jetzt? Falls doch, hat die Redaktion danach gefragt? Wenn ja, was stand drin und wer hat die unterschrieben? Wenn nein, warum nicht, außer aus der Sorge, dass die Doku wirklich schöner ist als wahr? Theoretisch könnte RL-Freier #378 doch bei einer echten Doku verlangen, dass „seine“ Szene unkenntlich gemacht oder ganz rausgeschnitten wird, wenn er dem nicht zugestimmt hätte?

    Die Frage nach der eigentlichen Recherche müsste man schon Lehrenkrauss stellen. Zumindest bei einigen Szenen haben die Darsteller sich ihre Texte improvisieren dürfen, aber eigentlich müsste sie ja Dateien voller Rohmaterial von Gesprächen mit der echten Rita et alii haben, oder nicht?

  20. Ich stimme dem Tenor einiger Kommentare hier absolut zu: Nur weil Lehrenkrauss in einem einengenden System unter Druck stand, kann sie keine mildernden Umstände geltend machen. Ihren Film, der offensichtlich nur lose auf realen Ereignissen beruht, hätte sie klar kennzeichnen müssen. Gegen einen solchen Film spricht ja nix. Sie hätte auch einzelne reale Protagonisten zu Wort kommen lassen können. Das hätte immer noch ein guter Film werden können, der den Fokus auf ein gesellschaftlich relevantes Thema richtet.

    Nur leider hat sie auch auf mehrfache Nachfrage hin klar gelogen. Da beißt die Maus keinen Faden ab: So jemanden braucht die Dokubranche nicht.

    Eine ganz andere Dikussion sind die Umstände, in der dieses Machwerk entstanden ist. Die Zwänge, denen Filmemacher und -beteiligte ausgesetzt sind, die viel zu große Macht einzelner. Und überhaupt die Finanzierung und Produktion von Fernsehinhalten – allein dieser Zwang Drittmittel einwerben zu müssen. Da liegt einiges im Argen.

    Aber nochmal: Ungünstige, ungerechte und gesellschaftlich schädliche Systeme gebähren Menschen, die sich das zu Nutze machen, davon also profitieren (und diese Systeme dadurch stützen). Sie jetzt zu Opfern zu erklären, nur weil sie es eben auch schwer hatten, ist mir zu billig.

  21. Auch wenn ich den Druck, unter dem Dokumentarfilmemacher stehen, nachvollziehen kann, ist Lehrenkrauss sicher kein Opfer des Systems, sondern in doppelter Hinsicht Teil des Problems:
    Erstens zelebrierte sie nur zu gerne, wie es bei Dona Carmen treffend beschrieben wird, „immer wieder beschworene Stereotype: das Elend in der Sexarbeit, die ständige Hoffnungslosigkeit, das Ausstiegsbedürfnis und die grundsätzliche Ausweglosigkeit von Frauen in der Prostitution.“ Dieses Bild von der Prostitutionsszene zu zeichnen, war und ist Lehrenkrauss, nach dem was man von ihr in Interviews lesen kann, ein Herzensanliegen. Es steht ihr frei, gegen Prostitution zu sein – aber einen angeblichen Dokumentarfilm von vornherein danach zu stricken und zu inszenieren, folgt genau demselben verlogenen Muster, das nun als „systemisches Problem“ dargestellt wird, was zumindest halb suggeriert, die Regisseurin wäre lediglich Spielball der Kräfte.
    Zweitens (und banaler) erweist jede Filmemacherin, die tatsächliche Authentizität und ergebnisoffene Arbeit opfert, um dem Druck „des Systems“ nachzugeben, dem Dokumentargenre einen Bärendienst und wird dadurch nicht Opfer, sondern Teil des Systems. Dass es offenbar nicht allzu großen Druckes bedarf, damit Lehrenkrauss eine stigmatisierende Hochglanz-Fake-Realität abliefert damit die gewünschte wohlfeile Message stimmt, setzt dem Ganzen nur das übelriechende Sahnehäubchen auf.

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