Live-Berichterstattung

Nach Wien und Trier: Meiden Sie diese Sender!

Ehrlich gesagt: Ich kann es nicht mehr sehen. Ich müsste es auch nicht mehr sehen, weil ich ohnehin weiß, was passiert: immer dasselbe. Jedes Mal. Und jedes Mal wird darüber diskutiert, dass das so nicht geht. Dass das kein Journalismus ist, sondern gefährlich, abstoßend. Und dann passiert es wieder.


Immer, wenn etwas geschieht wie am Dienstag in Trier, dauert es nicht lange, bis die ersten Fernsehsender live auf Sendung gehen. Irgendwer findet sich ja schon, der nur darauf wartet, sein Gesicht in eine Kamera zu halten. Die Körper der Toten sind noch nicht kalt, aber irgendwelche Experten haben schon vermeintliche Antworten. Die dann eilig von Live-Sendern verbreitet werden.

„Bild Live“ über Trier: „Was lesen Sie in den Gesichtern?“ Screenshot: Bild

Bisher waren es „Welt“ (ehemals N24) und n-tv, die bei jeder Großlage in Dauerschleife zugetextete Bilder sendeten und betonten, sie wollten nicht spekulieren, um es dann doch zu tun. Und als wäre das nicht schon genug Gelaber, mischt seit ein paar Monaten auch noch „Bild“ in diesem Markt mit. Der Chefredakteur ist ganz stolz auf sein Live-Programm. Warum, weiß nur er.

Schnell sind sie bei „Bild“, das muss man sagen. Nur ist das eben kein Wert in so einer komplexen Situation. Die mutmaßliche Amokfahrt in Trier, bei der fünf Menschen starben und weitere verletzt wurden, ereignete sich am frühen Nachmittag, wenig später standen Moderatorin und Moderator im Studio. Zu einer Zeit, in der alles noch komplett unübersichtlich war und die Polizei bat, keine Bilder zu verbreiten, die etwas mit der Tat zu tun haben – wie immer bei solchen Vorfällen.

Aber da sendete „Bild“ längst Internet-Videos vom Chaos in der Innenstadt und der Festnahme des mutmaßlichen Täters.

Medien wie „Bild“ fühlen sich nicht angesprochen von so einer Bitte der Polizei; die richtet sich doch nur ans Internet, an Twitter und so. Es ist diese eklige Bigotterie, die einen beim Zusehen fast platzen lässt: Wenn die „Bild“-Moderatorin erwähnt, es gebe ja so viele Gerüchte in sozialen Medien – während sie durch eine (Internet-)Sendung führt, die selbst eine Gerüchteschleuder ist und Bilder und Videos aus dem Netz dankbar abgreift. Bei anderen Live-Sendern ist das in der Regel ganz ähnlich.

Ausgeschlafener Augenzeuge

Es begann damit, dass „Bild“ verbreitete, es handle sich bei dem mutmaßlichen Tatfahrzeug um ein schwarzes Auto, obwohl es ein silbernes war. Naja, geschenkt. „Bild“ behauptete aber auch, es handle sich „möglicherweise“ um eine Frau, eine Täterin („sehr ungewöhnlich“), obwohl es ein Mann gewesen sein soll. Und es erreichte seinen Höhepunkt, als „Bild“ einen „Augenzeugen“ live zuschaltete, der erst mal erzählte, er habe während der Tat geschlafen.

„Augenzeuge“, kurz nachdem er aufwachte Screenshot: Bild / Pixel: Ü

„Bild“ hielt das trotzdem nicht davon ab, den Mann, der in der Trierer Innenstadt wohnt, minutenlang reden zu lassen. Aus seinem Fenster wollte er Menschen gesehen haben, die umgefallen seien: einfach so, „der Reihe nach“. Was vielleicht mit „Giftgasen oder irgendwas in der Art“ zu tun habe. Ja, Giftgase, Sie lesen richtig. Es sei ein „Horrorszenario“ wie in einem „schlechten Hollywoodfilm“, sagte der Mann, was sie bei „Bild“ hervorragend fanden: „Das sind ganz beeindruckende und erschütternde Schilderungen von Ihnen.“

Schon hier hätten sie bei „Bild“ mal die Latten an ihrem Zaun zählen können. Stattdessen aber durfte der ausgeschlafene Augenzeuge später noch mal ran, und dieses Mal hatte er ein „Statement“ vorbereitet: Man müsse sich fragen, sagte er, was dazu geführt habe, „dass ein kerngesunder Mann im besten Alter, wahrscheinlich noch nicht mal vorbestraft, plötzlich, aus heiterem Himmel, mit seinem Auto Leute anfährt“. Die naheliegende Frage wäre gewesen, ob der Mann den mutmaßlichen Täter persönlich kenne. Fragte aber keiner.

Erst, als der „Augenzeuge“ in seinem Redeschwall bei irgendwelchen Männern angekommen war, die mit der Axt ihre Frauen zerstückeln würden – das gebe es ja immer wieder! –, bat ihn der „Bild“-Moderator großäugig und nervös vom Sender: „Da kommen wir an der Stelle ins Spekulieren im Moment rein, dafür ist es zu früh.“ Aber danke für „Ihre Eindrücke dort aus dem Fenster“.

Die Sendung lief schon eine Weile, da teilte der Moderator mit, er wolle nun mal sagen, „was wir wissen, sodass wir an dieser Stelle nicht mehr spekulieren müssen“. Leider hat ihm niemand gesagt, dass man das gar nicht muss: spekulieren. Niemand muss einen „Augenzeugen“ einfach so live auf den Sender lassen; niemand muss Angaben, die noch nicht wasserdicht sind, in die Welt rufen – und es hilft auch nicht, zu sagen, dass sie noch nicht wasserdicht sind.

Das muss man alles nicht. Aber „Bild“ und andere machen es.

Wäre es alles nicht so traurig, unprofessionell und verantwortungslos, man könnte darüber lachen. Aber dann kommt auch schon der nächste „Terrorexperte“, „Profiler“ oder „Bild“-Redakteur um die Ecke, um die Lage zu deuten. Fast immer sind das Männer. Und natürlich wollen auch sie nicht spekulieren, oh nein – aber wo Sie halt gerade schon da sind, naja, sagen Sie doch mal kurz.

Bedächtig, aber nicht aus Betroffenheit

Und dann wird alles durchgekaut: Ob das vielleicht ein „islamistischer Anschlag“ gewesen sein könnte. Ob Trier bekannt ist für Islamismus. Was so passiert „im Kopf solcher Täter“. Was der Auslöser sein könnte. Und immer so weiter. Immer dieselben Fragen. Immer versehen mit dem Hinweis, man wisse natürlich noch nicht viel, aber mal so ganz allgemein, mal im Konjunktiv.

Zwischendurch werden Tweets vorgelesen, um Zeit zu überbrücken; es wird zu ahnungslosen Reportern geschaltet, die irgendwo an Absperrungen stehen und beschreiben sollen, was sie in den Gesichtern der Menschen „lesen“. Und die Moderatoren sprechen langsam, bedächtig, aber nicht aus Betroffenheit, sondern um Strecke zu machen, was irgendwann mal Roboter übernehmen werden. Sind sie gut programmiert, wäre das vermutlich ein Fortschritt.


Dass ich ein wenig übellaunig klinge, mag daran liegen, dass ich es bin. Ich weiß nicht mehr, wie viele Anschläge, Amoktaten, Großlagen ich schon verfolgt habe. Und wie oft die immer gleichen Diskussionen im Anschluss.

Aber es ändert sich nichts, im Gegenteil: Der Terroranschlag in Wien vor einem Monat war schon ein neuer Tiefpunkt mit all seinen Falschinformationen und Tötungsvideos, die über Sender gingen. Und es ist immer noch Luft nach unten: Auch heute, jede Wette, fände sich ein Reporter, der ins Auto zweier Geiselnehmer steigen würde wie damals Udo Röbel. Nur würde er oder sie dieses Erlebnis nicht per Telefon in die Redaktion weitergeben, sondern live streamen, vielleicht bei „Bild“. Da werden wir noch alle staunen.

Leute wie Springer-Chef Mathias Döpfner werden derweil nicht müde, das Internet zu beweinen, die Härte in digitalen Netzwerken, die Schnelligkeit, mit der Gerüchte und Falschinformationen verbreitet werden. Ganze Medienkongresse befassen sich immer wieder damit. Ist auch okay, kann man alles kritisieren. Es ist bloß wohlfeil, es in dieser Position zu tun. In einer Branche, deren Einzelteile nicht besser sind. Und dann noch damit werben, wie wichtig Journalismus sei, der prüfe, sortiere, einordne – bitte kaufen Sie unser Abo!

Es wird nicht aufhören, solange die Verantwortlichen in den Medienhäusern solche Sendungen wollen, solange es die Branche still hinnimmt und es Menschen gibt – Psychologen, Profiler, Bürger –, die jederzeit bereit sind zum Interview. Solange es das alles gibt, bleibt nur eins: Diese Sender zu meiden, wenn etwas Schlimmes passiert. Und sie weiter zu kritisieren.

11 Kommentare

  1. Eure Kritik an „BILD“ ist richtig und wichtig, aber was habt ihr eigentlich erreicht?
    Springer steht wunderbar da, wird den Übergang von Print zu Digital von allen Verlagen am besten bewältigen, weil die das frühzeitig erkannt haben.
    BildPlus hat mittlerweile über 500.000 Abonnenten, wenn man den Zahlen glauben darf.
    Sie haben die Lizenz für BILD-TV bekommen und alle kommen in die Sendungen: Politiker, Sportler, Journalisten, Wirtschaftsbosse usw.
    Warum? It´s the Reichweite, stupid!
    Das Format ist ein Erfolg, unabhängig von der Qualität, weil es flexibler ist als die öffentlich-rechtlichen.
    Die Idee mit dem nachgebauten Oval Office war gut, das erkenne ich neidlos an, auch da hat sich alles was Rang und Namen hat interviewen lassen.
    Natürlich nimmt Elon Musk den Axel-Springer-Award an und lässt sich feiern. Schauspieler und andere Prominente besuchen immer gern das Redaktionsgebäude und posieren mit Döpfner und meinem Namensvetter.
    Florian Gathmann hat im Interview mit euch kein Problem damit, BILD-Leute Kollegen zu nennen und grenzt sich damit nicht ab.
    Beim Bild-Blog ist nichts mehr los, jeden Tag ein paar Links zu anderen Artikeln, das war es.
    Euer Kampf gegen „BILD“ wirkt schon ein wenig altbacken und gegen Windmühlen, denn wie Sie selbst richtig schreiben, es ändert sich nichts, im Gegenteil.

    Anmerkung:
    Udo Röbel ist in Köln ins Auto der Geiselnehmer gestiegen, insofern ist die Formulierung „wie damals in Gladbeck“ missverständlich.

  2. @1 Frank Reichelt: Stimmt, „in Gladbeck“ war missverständlich. Danke für den Hinweis! Hab’s korrigiert.

  3. @1: Mindestens genauso furchtbar sind die Stimmen, die dann immer (auch sich selbst für die Erkenntnis) loben, wie pfiffig doch das Geschäftsmodell sei. Ja, mega pfiffig Warnungen der Polizei zu ignorieren und Menschen in Gefahr bringen um Kohle zu machen. Das macht das widerliche, unmoralische Verhalten schon auch wieder ein bisschen wett, diese drollige Pfiffigkeit. Ein Nordkoreanischer Diktator ist übrigens auch pfiffig. Macht er echt ganz schlau. Und drüber schreiben bringt auch nichts. Ändert ja eh nichts. Bleiben wir alle zu Hause und halten den Mund.

  4. „Es ist diese eklige Bigotterie, die einen beim Zusehen fast platzen lässt: Wenn die „Bild“-Moderatorin erwähnt, es gebe ja so viele Gerüchte in sozialen Medien – während sie durch eine (Internet-)Sendung führt, die selbst eine Gerüchteschleuder ist und Bilder und Videos aus dem Netz dankbar abgreift.“

    Ist das wirklich Bigotterie oder schlicht Zynismus? Gerüchte sind für BILD-Leute ja nichts Schlechtes, jedenfalls nicht grundsätzlich.

    „Solange es das alles gibt, bleibt nur eins: Diese Sender zu meiden, wenn etwas Schlimmes passiert.“

    Nicht nur, wenn etwas Schlimmes passiert, sondern immer. Zumindest für BILD sollte das generell gelten. Es wäre schön, wenn sich da mal sowas wie zivilgesellschaftliche Abstands- und Hygieneregeln einbürgern würden: Mit BILD redet man nicht, Punkt.

    Übrigens: Im Teaser zum Artikel bitte „Was“ gegen „Wann“ eintauschen.

  5. @7 Und wenn jetzt noch die ganzen Medienkritiker aufhören die Scheisse anzuschauen, haben die gar keine Zuschauer mehr.

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