Wochenschau (89)

Handschrift ist die beste Verteidigung

Wann haben Sie das letzte Mal etwas mit einem anderen Schreibutensil geschrieben als mit ihrem Handy oder ihrem Laptop? Wann haben Sie das letzte Mal einen Brief oder zumindest eine Notiz mit der Hand verfasst? Oder mit einer Schreibmaschine?

Abgesehen von gelegentlichen Notizen oder hingekritzelten To-Do-Listen war meine letzte gewissenhaft mit einem Stift geschriebene Nachricht, soweit ich mich erinnere, eine Geburtstagskarte.

Wahrscheinlich fällt es mir deshalb umso mehr auf, wenn ich heute irgendwo handschriftliche Äußerungen sehe. Vor allem in abfotografierter Form im Netz. Ich frage mich dann immer: Wozu? Welche Botschaft steckt in digitalisierten Handschriften? Welcher Mehrwert steckt in derart verfassten Nachrichten – vor allem wenn sie von PolitikerInnen stammen?

Promotion und Contra

Vergangenen Freitag äußerte sich Bundesfamilienministerin Franziska Giffey auf ihrer Homepage und in sozialen Medien mit einer persönlichen Erklärung zur scheinbar endlosen Auseinandersetzung um ihre Dissertation, die unter Plagiatsverdacht steht:

„Ich bin nicht gewillt, meine Dissertation und das damit verbundene nun neu aufgerollte Verfahren weiter zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zu machen. Um weiteren Schaden von meiner Familie, meiner politischen Arbeit und meiner Partei abzuwenden, erkläre ich, den mir am 16. Februar 2010 von der Freien Universität Berlin mit der Gesamtnote ‚magna cum laude‘ (‚eine besonders anzuerkennende Leistung‘ – ‚sehr gut‘) verliehenen Titel ‚Dr. rer. pol.‘ ab sofort und auch zukünftig nicht mehr zu führen.“

Allerdings kann man diesen Titel nicht einfach nach persönlicher Laune ablegen. Und der Plagiats-Vorwurf muss gemäß der Prüfungsordnung durch die zuständige Kommission der FU Berlin überprüft werden.

Doch unabhängig von der Frage, welche Fehler sich Giffey vorwerfen lassen muss, finde ich interessant, dass sie einen Auszug aus dieser öffentlichen Erklärung handschriftlich festhielt und ein Foto davon ins Netz stellte: „Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.“

Diese handschriftlichen und mit einer Signatur untermauerten Sätze waren offenbar Ausdruck des Wunsches, dass sich mit dieser „Analogisierung“ für den Leser so etwas wie der Eindruck von Ehrlichkeit, Authentizität oder Wahrhaftigkeit vermitteln möge.

Durch Giffeys selbstgeschriebene Social-Media-Kachel wurde mir wieder Marshall McLuhans Diktum bewusst, dass man nicht nur auf den Inhalt achten, sondern sich immer auch die Frage nach dem Medium stellen sollte, da sich hier die eigentliche Botschaft verbirgt, sprich: the medium is the message.

Jemand, der für sein fragwürdiges Schreibverhalten kritisiert wird, versucht, sich durch das demonstrative, in Schönschrift verfasste und unterschriebene Lossprechen vom möglicherweise unverdienten Prädikat freizuschreiben. Sie will sich buchstäblich die Angelegenheit, aber in erster Linie sich selbst schönschreiben.

So gesehen sagt die Handschrift als Botschaft mehr darüber aus, wer Franziska Giffey ist und was sie als Mensch auszeichnet, als der eigentliche Inhalt ihrer Zeilen. Denn anhand dieser in Szene gesetzten Schrift lässt sich annehmen, dass Giffey eine Person ist, die einzelne Sätze von öffentlichen Erklärungen in handschriftlicher Form verfasst. Die Intention dahinter: In der unpersönlichen Sphäre des Digitalen wird diesem angeblich von Titeln unabhängigen Ich so etwas wie Menschlichkeit verliehen; durch eine Handschrift also, die den Menschen hinter der Schrift erahnen lassen soll, der vorgibt, mehr zu sein als das, was er durch sein Schreiben und die Schrift vermitteln kann.

Oder: Wenn vom Geschriebenen nichts mehr übrig bleibt, dann bleibt zumindest noch die Schönschrift – und dahinter irgendwo das Ich, das sich nicht beschreiben lässt.

Typisch Akademikerin! – könnte man ironischerweise behaupten. Oder wie würden Sie versuchen – mal angenommen, Sie wären in einer ähnlichen Situation – aus solch einer Sache möglichst glaubwürdig rauszukommen? Mit welchem Stift oder mit welcher Schriftart würden Sie in die Gegenoffensive gehen, um Ihre Integrität zu retten?

Immerhin blieb Giffey ihrem persönlichen Stil treu, als sie sich am Sonntag bedankte – wieder handschriftlich.

Handschriftlich, aber kompatibel für Instagram

In der Medientheorie gibt es für ein derartiges Auftauchen von historisch älteren medialen Formen in neueren – also beispielsweise der Handschrift im Digitalen – einen Begriff: die sogenannte Remediation. In ihrem Buch „Remediation: Understanding New Media“ beschreiben David Bolter und Richard Grusin das Phänomen, dass neue Medien, die entstehen, immer auch ältere Formen aufnehmen und darstellen: Die vorherigen medialen Möglichkeiten werden bewahrt, aber auch transformiert.

Im Falle der handgeschriebenen Kachel von Giffey scheint der Begriff der Remediation umso passender, da er auch mit „Sanierung“ oder „Wiedergutmachung“ übersetzt werden kann. Durch die Schönschrift soll zum einen eine gewisse Wertigkeit handschriftlicher Botschaften in die sozialen Medien übertragen werden; zum anderen sieht man aber auch, dass sich diese Handschrift in ihrer Kürze an die Zeichenbeschränkung und an das dominante Kachelformat anpasst, die erst durch die sozialen Medien vorgegeben wurden.

Hätte Giffey ihre gesamte Stellungnahme in handgeschriebener Form verfasst, sie wäre nicht ebenso teilbar gewesen, sie hätte nicht die gleiche aphorismenhafte Prägnanz und wäre formal als Foto nicht ebenso lesbar.

Diese besondere auf Teilbarkeit ausgerichtete Form fiel auch dem Journalisten Dirk von Gehlen auf, der auf Twitter – ebenfalls handschriftlich und abfotografiert – die Frage stellte, ob für diese „Handschrift-Memes“ bereits ein Begriff existiere.

In Anlehnung an Bolter und Grusin würde vielleicht „Rememediation“ vorschlagenen, wenn es darum geht, dass die Nachrichten durch ihre mediale Verfasstheit als Social Media-Kacheln zum Meme werden und möglichst viral gehen sollen.

Misstraue jeder Handschrift, die du nicht selbst gefälscht hast

Doch handschriftliche Verlautbarungen in den neuen Medien erzielen nicht zwingend den gewünschten Effekt, sondern können auch Misstrauen hervorrufen.

Dies bekam die Polizei Hamburg zu spüren, als sie am 1. Juli dieses Jahres eine Postkarte postete, die sie angeblich von einem Schüler namens Ben erhalten hatte, der die BeamtInnen im Auftrag seiner Deutschlehrerin für ihre besonders wichtige Arbeit lobte.

Daraufhin folgten kritische Reaktionen, die der Polizei eine Fälschung unterstellten, und Ermittlungen von Twitter-Forensikern, die anhand von Ton, Rechtschreibung oder Interpunktion ein selbstverfasstes Eigenlob diagnostizierten – woraufhin die Polizei Hamburg wiederum ihre Unschuld und die Echtheit der Dankesbekundung beteuerte.

Eine Erkenntnis dieser Causa ist, dass im Twitter-Tribunal digitalisierte Postkarten wahrscheinlich auch in Zukunft nicht als Beweismittel zugelassen werden – vor allem nicht, wenn darin PolizistInnen gelobt werden.

Post von Helge

Eine erfolgreichere Form der Rememediation gelang am 29. Oktober Helge Schneider, der zur Schreibmaschine griff, um Olaf Scholz einen Brief zu tippen, der ebenfalls unterschrieben, abgelichtet und hochgeladen wurde:

Eine Botschaft, bei der die medialen Mittel, Form und Inhalt offenbar richtig gewählt wurden. Zumindest traf sie ihr Ziel: Schneider wurde von den richtigen Leuten erhört, der Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt antwortete prompt auf Twitter: „So machen wir es.“ Die Berechnungsgrundlagen für die Coronahilfen für Solo-Selbstständige wurden angepasst.

Ich finde es faszinierend, wie schnell manchmal politische Maßnahmen optimiert werden können. Aber ich finde es auch gruselig, wie undurchdacht und beliebig dadurch die zuerst beschlossenen und für richtig empfundenen Berechnungsgrundlagen wirken, die ja sehr offensichtlich einen Teil der Hilfsbedürftigen benachteiligten.

Wirkung erzeugt

Selbstverständlich handelt es sich bei diesen drei Beispielen um sehr unterschiedliche Botschaften, doch was Giffeys Ego-Kachel, Bens Postkarte und Schneiders Brandbrief gemein haben, ist, dass diese remediatisierten Schriftstücke in der Wirklichkeit digitaler Schriftarten und vorgegebener Formate eine Wirkung erzeugen konnten – oder immerhin beabsichtigten, in der Zurschaustellung des Analogen eine Botschaft zu senden, die sich nicht-handschriftlich oder nicht-schreibmaschinenschriftlich nicht vermitteln hätte lassen.

Umso erstaunlicher wirkt es da, dass Angela Merkel Joe Biden am 7. November zunächst nur mit einer schlichten und inhaltlich sehr unpersönlichen Kachel gratulierte.

Wenn es einen Ort gibt, wo es sich aus Gründen der Anerkennung und des Respekts gebühren würde, Gratulationen mit der Hand zu schreiben, dann doch bei derartig feierlichen Anlässen.

Aber vielleicht zeichnet sich politische Souveränität und Abgeklärtheit eben gerade dadurch aus, dass man diese Strategien der Rememediation kennt und durchschaut – und versteht, dass man in den gelegentlich täuschenden, artifiziellen oder falschbehauptenden sozialen Medien fehlende Wahrhaftigkeit und Nachhaltigkeit nicht durch Schönschrift und Unterschrift kompensieren kann.

16 Kommentare

  1. „Wann haben Sie das letzte Mal etwas mit einem anderen Schreibutensil geschrieben als mit ihrem Handy oder ihrem Laptop?“ Gestern.
    Mit Bleistift, Geodreieck und Kreisschablone.

    Aber für meine Verteidigung würde ich was tippen, meine Handschrift ist nämlich extrem hässlich.

  2. Wann haben Sie das letzte Mal etwas mit einem anderen Schreibutensil geschrieben als mit ihrem Handy oder ihrem Laptop? Wann haben Sie das letzte Mal einen Brief oder zumindest eine Notiz mit der Hand verfasst?

    Heute, mit Füller. Und wer das als skurril betrachtet, ist selbst schuld.

  3. Ich glaube ja, die Frage, wann das letzte Mal etwas handschriftlich verfasst wurde, war rein rhetorischer Natur…

  4. @Micha
    Ja, schon, die Frage steht rhetorisch für: „Machen wir selten.“ . Aber die Antworten „heute“ sind ja auch insofern eine rhetorische, als dass sie für „Machen wir oft.“ stehen und damit die rhetorische Frage verneinen wollen.
    (Ich habe übrigens auch gerade heute auch eine längere handschriftliche Nachricht auf Papier hinterlegt – geschrieben mit neumodischen Füller (roller pen) – anstatt eine Rundmail zu schreiben :-p )

  5. „Was schreibt mann denn mit Geodreieck und Kreisschablone?“ Positionen mit Positionskreisen und -pfeilen. Da stand „Schreibutensil“, nicht „frei Hand“.

    Den rhetorsichen Sinn der Eingangsfrage habe ich schon verstanden, aber rhetorische Fragen heißen: „Ich weiß, was Ihr denkt und tut!“, und dann ist halt oft die Antwort: „Nein, tust Du nicht.“

  6. aber rhetorische Fragen heißen: „Ich weiß, was Ihr denkt und tut!“

    Hm, für mich sind rhetorische Fragen einfach Fragen, die der Rhetorik dienen sollen, den Text also einfach eingänglicher machen sollen.

    Mir geht es eher darum, dass ich es nicht für Zielführend im Sinne des Artikels halte, wenn jetzt hier jeder schreibt, wann er/sie das letzte Mal dann doch was handschriftlich niedergelegt hat, schon gar nicht, mit welchen Schreibutensilien.

    Aber gut, ich kann mich auch irren.

  7. @ Micha:

    Ich finde ja die Analyse der Giffey’schen Botschaft ganz gelungen, auch an den Betrachtungen zum Abfotografieren von Zetteln ist was dran. Die Fragen am Anfang treffen aber (wieder mal) meinen wunden Punkt.*

    Subtext (zumindest in meiner Lesart): Handschrift sei obsolet, da sie sich nicht in Einsen und Nullen auflösen lässt. Finde ich fatal, weil ich richtiges Schreiben für etwas Schönes und Wichtiges halte (und mich über meine Klaue ärgere). Deshalb wollte ich das nicht einfach stehen lassen.

    *Ich nenne das mein Kathrin-Passig-Trauma: Die berichtete schon 2013 in „Standardsituationen der Technologiekritik“ begeistert, dass sie ihre Büchersammlung („einige Kubikmeter Zellulose“) verscherbelt hat, weil sie in ihr nichts anderes mehr sah als ein „exzentrisches, beim Umzug beschwerliches Wohnaccessoire“. Unter jüngeren Linksliberalen scheint mir diese Verachtung gegenüber allem Nicht-Digitalen inzwischen Standard zu sein, und das gruselt mich.

  8. Handschrift sei obsolet, da sie sich nicht in Einsen und Nullen auflösen lässt. Finde ich fatal, weil ich richtiges Schreiben für etwas Schönes und Wichtiges halte (und mich über meine Klaue ärgere)

    Ich glaube, das findet El Ouassil auch.
    Deshalb beschrieb sie ja, dass sie zum Beispiel Geburtstagswünsche auch handschriftlich, sogar gewissenhaft (also ohne Klaue), verfasst.

  9. „Hm, für mich sind rhetorische Fragen einfach Fragen, die der Rhetorik dienen sollen, den Text also einfach eingänglicher machen sollen.“ Klassischerweise stellt man rhetorische Fragen, wenn man davon ausgeht, das komplette Publikum würde sie ehrlicherweise so beantworten, wie man das für die folgende Argumentation braucht, dass es also in dieser Frage keinen Dissenz gibt oder geben kann: „Und was, bitteschön, sollte zwei und zwei anderes sein als vier?“
    Heißt im Endeffekt, dass der Rhetor das Publikum so gut kennt, dass soe dessen Reaktion vorhersieht, also weiß, was es denkt und tut.

    Auch, wenn ich der Prämisse nicht zustimme, heißt das nicht, dass ich die Konsequenz für falsch halte.
    Weil Handschrift schwer nachmachbar ist, gilt sie als Beleg für Echtheit. Das mag daher der psychologische Trick sein, den Giffey hier versucht. Nur beweist das noch nichtmal, dass sie sich _diesen_ Text selbst ausgedacht hat – sie könnte ja auch per Hand abschrieben – und außerdem nicht, dass sie sonst nie abgeschrieben hat.
    Trotzdem könnte ich die Einleitung genau nicht für eingänglich halten, sondern sogar für völlig abwegig.

  10. Wir schreiben in der Firma ständig Notizen, Arbeitszettel, Vorstrukturen etc mit Hand.
    Für private Briefe nutze ich am liebsten einen Pelikan-Schreiblernfüller und als privaten Luxus hab ich mir eine Glasfeder geholt.

  11. Ich bin gerade leicht irritiert von meiner persönlichen Reaktion. Die zwei Sätze von Frau Giffey gehen im Fließtext nahezu unter.
    Aber die prominente Version als Handschrift erzeugt recht deutliche Ablehnung im Bezug auf den Inhalt.

  12. Mich berührt diese Nachricht von Frau Giffey derart peinlich, dass ich wirklich zum Fremdschämen ansetze: Poesiealbumhafte Selbstvergewisserung, die ich nicht mal meinem Tagebuch anvertrauen würde, geschweige denn in die Welt raustuten. Rätselhaft bleibt mir, ob das die beabsichtigte Wirkung ist: Soll sie mir jetzt ganz doll leid tun? Da komme ich wirklich nicht mit…

  13. „Poesiealbumhafte Selbstvergewisserung“.

    You made my day.

    Auf der nach oben offenen Gutenberg’schen Skala dürfte Frau Giffey noch einmal die Latte höher gelegt haben. Die einzige halbwegs ehrenvolle Reaktion auf diese Blamage – nochmal ordentlich und über jeden Zweifel erhaben promoviert werden und dann gut sein lassen – hat sie sich damit auch noch kaputt gemacht.

    Dazu noch die implizite Abwertung jener, die sich ordentlich um eine Promotion bemühen oder bemüht haben: ICH brauch das nicht für mein Ego..

    Mir fehlt für die Konzeption einer schlechteren persönlichen Reaktion von Frau Giffey auf die gegenwärtige Situation schlicht die Phantasie..

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