Der Journalist Christoph Biermann hat den Fußballklub Union Berlin ein Jahr lang begleitet und ein Buch darüber geschrieben („Wir werden ewig leben“). Ein Gespräch über Embedded Journalism, Nähe, Distanz, Autorisierungen – und wer eigentlich an dem Buch verdient.
Übermedien: Herr Biermann, bevor Sie Ihr Jahr mit dem 1. FC Union Berlin begannen, haben Sie und der Verein Regeln vereinbart. Eine lautete, der Klub könne das Projekt jederzeit abbrechen. Ist das nicht so wie halb-verheiratet sein? An guten wie an mittelguten, aber nicht an schlechten Tagen?
Christoph Biermann: Ja, das stimmt schon. Für mich war das anfangs ein bisschen doof. Aber ich konnte es nachvollziehen, weil das für den Verein den Druck rausgenommen hat. Und für die Trainer und Spieler hätte es ohne Ausstiegsoption womöglich eher etwas von einer Zwangsheirat gehabt. Denn vor allem der Präsident hatte sich dafür entschieden, das Buchprojekt mitzumachen, aber mit mir verheiratet wurden vor allem die Spieler und Trainer.
Zur Person
Christoph Biermann, Jahrgang 1960, war Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“ und beim „Spiegel“ und Mitglied der Chefredaktion von „11 Freunde“, für die er heute noch als Reporter arbeitet. Außerdem hat er sehr viele Bücher über Fußball geschrieben.
Haben Sie also in der ständigen Angst gelebt, dass Ihr Projekt morgen vorbei sein könnte?
Nein. Ich war mir sicher, dass es einen Punkt der Nichtumkehrbarkeit geben würde. Einen Punkt, an dem sich alle denken: Der Biermann ist jetzt schon so lange dabei, dass man den nicht so einfach wieder wegschicken kann. So kam es dann auch beim Re-Start nach der Corona-Unterbrechung der Bundesliga. Da musste der Klub einen relativ engen Kreis ziehen, wer noch Teil des Apparats sein durfte und ständig getestet wurde. Wäre das schon nach dem siebten Spieltag geschehen, hätten sie gesagt: „Christoph, wir mögen dich alle, aber es wird jetzt kompliziert. Danke. Auf Wiedersehen.“ Weil die Saisonunterbrechung aber nach Spieltag 25 passierte, waren wir über den Punkt hinaus.
Journalisten denken ja gerne in Geschichten: Die erste Staffel der Netflix-Doku „Sunderland ‘til I die“ lebt davon, dass der Klub, der endlich wieder groß sein wollte, beim grandiosen Scheitern und beim Abstieg in die 3. Liga begleitet wird. Sie sagten, dass Sie die Ausstiegsoption von Union Berlin nachvollziehen konnten, aber dachten Sie nicht auch daran, dass Ihnen dadurch eine spannende Geschichte des Scheiterns entgehen könnte?
Ich finde den Angang falsch, vorab schon in Geschichten zu denken. Ich will es mal etwas pathetisch sagen: Was mich interessiert hat, war die Wahrheit. Über eine Saison. Über einen Fußballklub. Über eine Mannschaft. Wenn ich diese Wahrheit kenne, dann finde ich Geschichten dazu. Aber nicht umgekehrt. Ich glaube, wenn man immer daran denkt, was eine Geschichte sein könnte, verpasst man etwas.
Aber in den für Sie entscheidenden Momenten müssen Sie doch schon merken, oh, das könnte eine gute Geschichte sein – und Block und Stift zücken. Sie können ja nicht jeden Tag einer ganzen Saison akribisch protokollieren.
Viele Geschichten entstanden aus der Wiederholung. Als der Trainer Urs Fischer zum ersten Mal über das „gute Gefühl“ redete, ging das bei mir hier rein und da raus. Ich empfand das als nichtssagend. Irgendwann hörte ich es aber zum 23. Mal. Und da machte es klick und ich fragte mich, warum die immer wieder vom „guten Gefühl“ reden. Was trägt das zum Funktionieren bei? Das habe ich versucht, herauszufinden – und dann fällt einem auch eine passende Szene dazu auf, um es zu erzählen.
Kann man denn noch Dinge aufschreiben, von denen man weiß, dass sie den Spielern oder dem Trainer unangenehm sind? Der Torwart Rafal Gikiewicz kommt am Anfang des Buches nicht sonderlich gut weg. Mit dem möchte man eher nicht zusammenarbeiten.
Ich hoffe, am Ende kommt raus, dass ich ihn wirklich in mein Herz geschlossen habe. Das war aber eine Entwicklung, und an der lasse ich den Leser teilhaben – von „Was ist das für ein Knallkopp?“ bis hin zu „Der ist ja rührend“.
Und dann mussten Sie etwas aufschreiben, das jemand, den Sie in Ihr Herz geschlossen haben, vielleicht nicht gerne über sich lesen mag. Wie haben Sie es geschafft, eine innere Distanz zu den Protagonisten zu bewahren?
Ich glaube, dass ich meistens verstanden habe, warum ein Spieler etwas für Außenstehende Unverständliches macht. Warum beschwert der sich jetzt über die Betten, das Essen oder den Trainingsplatz? Und wenn man die Erklärung mitliefert, kriegt man ein anderes Bild: Dann ist es der Typ, der sich über die Betten beschwert, weil es – ganz banal – wichtig ist, dass man in einem guten Bett schläft oder weil er gerade unter großem Druck steht, weil er viel Stress hat, weil jede kleinste Störung das schon angesprochene gute Gefühl sabotieren kann. Wenn man das so macht, bleibt meistens nichts, das jemanden verärgert. Ich hab natürlich auch manches nicht verstanden, ich würde Dinge anders machen. Aber darum geht es nicht. Ich wollte keine Noten fürs Verhalten im Hotel verteilen, sondern klar machen, warum etwas passiert. Das meine ich auch mit der Suche nach der Wahrheit. Wenn ich etwas verstanden habe, kann ich es aufschreiben. Dann freut sich der Betreffende vielleicht nicht unbedingt, aber er muss zugeben, dass es fair ist.
Irgendwann schreiben Sie selbst davon, dass Sie – nach einem Aufnahmeritual wie dem Vorsingen vor der Mannschaft – nun Teil des Stammes geworden seien. Muss man das werden, um sich dieser Wahrheit nähern zu können?
Meine Anwesenheit ist im Laufe der Zeit vollkommen selbstverständlich geworden. Und dieses Aufnahmeritual hat dabei sehr geholfen. Ich konnte mich frei bewegen. Ich habe aber auch gelernt, im richtigen Moment mal wegzugehen. Das sind Leute, die unter enormem Druck stehen. Und ich wollte nicht nerven. Ich wollte die Fliege an der Wand sein, die auch mal wegfliegt. Viel wichtiger als das gefühlte Dazugehören war die viele Zeit, die ich mit denen verbracht habe. Ich war – abgesehen von der Corona-Pause – jede Woche mehrfach da. Das war unheimlich wichtig, um ganz einzutauchen und es wirklich zu verstehen.
Führte diese viele Zeit auch dazu, dass die Spieler Sie irgendwann nicht mehr als „die Medien“ ansahen, über die sie ja auch gerne mal schimpfen?
Ich war überrascht, was mir am Anfang an Journalisten-Bashing entgegengeschlagen ist. Das war schon sehr negativ, teilweise auch von den Trainern. Diese Ablehnung kippte irgendwann und ich wurde aus den Pauschalisierungen herausgenommen: „Du, Christoph, bist nicht so, aber die anderen Journalisten eben schon…“ Aber das hilft grundsätzlich natürlich nicht weiter.
Was würde denn weiterhelfen?
Das habe ich ich mich auch gefragt. Vielleicht müsste es mehr solcher Embedded-Formate im Journalismus geben. Wir haben doch die ungute Entwicklung, dass sich immer mehr interessante oder entscheidende Leute von der Presse abschotten. Es werden Agenten dazwischengeschaltet, Pressestellen und PR-Büros, sodass die, die über jemanden schreiben, und die, über die berichtet wird, gar nicht mehr zusammenkommen. Das führt zu unglaublichen Verzerrungen auf beiden Seiten. Wenn man sich beispielsweise Gay Taleses Reportage „Frank Sinatra has a cold“ aus den 60ern anschaut, dann ist das – wie er es selber nannte – The Fine Art of Hanging Around. Eine großartige Geschichte, obwohl Talese kaum mit Sinatra spricht. Er sammelt aber ganz viele Geschichten um ihn herum ein, schlicht dadurch, dass er Zeit mit ihm verbringt. Sehr viel Zeit. Heute verbringen Journalisten und die Protagonisten von Reportagen kaum noch Zeit miteinander. Das liegt an den Firewalls, die hochgezogen wurden, aber auch daran, dass kaum jemand noch Geld dafür hat. Welcher Reporter fährt denn noch irgendwo hin und hängt dann tagelang einfach rum? Dadurch haben wir eine Verschiebung hin zu einer kommentierenden Berichterstattung, weil das am billigsten ist. Ich nehme ein Zitat oder eine Halbinformation, deute die aus, schreibe einen Leitartikel, brauche dafür noch nicht mal aufzustehen – und am Ende habe ich einen Text. Ich glaube deshalb, dass solche Embedded-Formen – richtig betrieben – ein großer Gewinn sein können.
Aber es bleibt das Grundproblem, dass die Gefahr groß ist, bei solchem Embedded Journalism zum Freund oder zumindest zum freundschaftlichen Begleiter der Gruppe zu werden, in die man eingebettet ist. Da hilft doch Distanz zum Sportler, zum Politiker. Denn manchmal ist das große Verständnis für den, über den ich berichte, gar nicht angebracht. Eine der wichtigsten Aufgaben von Medien ist doch, das zu kritisieren, was schief läuft. Und das auch klar zu benennen.
Es geht um Vielfalt. Ich würde auch nicht sagen: Seid alle embedded, kuschelt mit den Politikern oder Wirtschaftsbossen und entwickelt Empathie und Verständnis! Ich will nicht „Correctiv“ abschaffen und durch Embedded Journalism ersetzen. Natürlich braucht es auch Leute, die die Schweinereien aufdecken. Ich glaube, dass auch Kritik wichtig ist. Aber ich habe das Gefühl, dass dieses Den-Finger-in-die-Wunde-Legen gerade im Sportjournalismus nur sehr oberflächlich betrieben wird. Wann wird denn der Finger in die Wunde gelegt? Wenn jemand drei Mal verloren hat. Aber was sagt das denn aus?
Wird im Sportjournalismus der Finger in die falschen Wunden gelegt?
Ich finde schon. Kritischer Journalismus – im Sport kann ich das ganz gut beurteilen – ist häufig Pseudo-Kritik. Probleme werden nicht klar adressiert und analysiert, sondern kommen eher als eine Art grundsätzlicher schlechter Laune daher. Da sind wir wieder bei der Distanz zwischen den Protagonisten, die zu einer Grundgenervtheit auf beiden Seiten führt. Der Trainer hat das Gefühl, nach einer Woche Arbeit und einer Umstellung von einer Dreier- auf eine Viererkette nur danach gefragt zu werden, warum der Stürmer jetzt blaue Haare hat. Auf der anderen Seite haben die Berichterstatter das Gefühl, dass sie überhaupt nicht mehr rankommen an die Leute, lustlos mit irgendwelchen Stanzen abgespeist werden. Ich fände es schön, wenn das aufgebrochen würde.
Aber gibt es von Seiten der Manager oder PR-Leute überhaupt noch ein ernsthaftes Interesse an Journalismus? Reporterinnen und Reporter sind nur noch Teil der Inszenierung, um die eigene Bedeutung deutlich zu machen. Oder Multiplikatoren für die eigene Werbebotschaft. Und wenn es dann mal nicht so läuft, empfinden die Journalistinnen und Journalisten eine gewisse Genugtuung, die sich ein Manager womöglich selbst eingebrockt hat.
Da ist schon was dran. Das ist eine Entwicklung, die auf beiden Seiten stattfindet. Vielleicht brauchen wir im Sport auch mehr solche Hinterzimmergespräche, wie es sie in der Politik gibt. Wenn man mit der Kanzlerin nach Washington fliegt und dann über dem Atlantik die Tür aufgeht und sie mal eine halbe Stunde erzählt, wie es wirklich ist. Mit dem Einvernehmen, dass man nicht daraus zitiert. Dadurch sind Journalisten besser informiert und verstehen entsprechend die Zusammenhänge besser. Das gibt es interessanterweise im Fußball fast gar nicht. Es gibt vielleicht einzelne Leute, die Zugänge haben und Telefonnummern, aber in so einer organisierten Form gibt es das kaum. Dabei werden die meisten Fußballklubs nur von einer Handvoll Leuten begleitet. Mit denen könnte man sich schon öfter mal hinsetzen.
Aber an diesen Unter-drei-Runden gibt es ja auch gehörige Kritik. Da sagen dann Politikerinnen und Politiker, wie es wirklich läuft – und Journalistinnen und Journalisten fragen sich hinterher: Warum sagen die das nicht öffentlich? Was bringt es, mehr zu wissen als die Leser, es aber nicht benutzen zu dürfen?
Klar. Es birgt die Gefahr der Korrumpierung. Ich lasse dich am inneren Wissen der Macht teilhaben und mache dich damit gefügig. Es ist zweischneidig.
Wenn wir uns anschauen, welche Nähe in den 80er- und 90er-Jahren zwischen Reportern und Fußballern noch herrschte. Wie Trainer direkt am Spielfeldrand interviewt wurden, wie nah Ende der 70er eine Doku wie „Profis“ den Spielern Uli Hoeneß und Paul Breitner kam, wirkt das heute unvorstellbar.
Mich hat dieses Jahr mit Union schon gelegentlich an etwas erinnert, das ich von früher kannte: dass man mal einfach so mit einem Spieler quatscht zum Beispiel. Dabei sieht man in dem Buch, wie nahbar sie eigentlich sind. Und über was für harmloses Zeug wir da reden. Trotzdem ist das verloren gegangen.
Weil kein gegenseitiges Vertrauen mehr da ist?
Ja, aber das ist von Standort zu Standort in der Bundesliga unterschiedlich. Meiner Erfahrung nach geht es dort noch relativ vertrauensvoll zu, wo die handelnden Personen lange im Amt sind. Wo Pressesprecher im Verein ein Standing haben, um selbst was entscheiden zu können. Wo informelle Gespräche möglich sind. Aber insgesamt stimmt das sicherlich: Es ist wenig bis gar kein Vertrauen mehr da. Und ich frage mich, wann das Vertrauen abhanden gekommen ist?
Wann, glauben Sie?
Als aus Fußballern Kunstfiguren wurden. Das, was Boulevard immer schon gemacht hat – hier Helden, da Verlierer, hier der Große, da der Dumme, ohne Graustufen – hat den Diskurs über Fußball mehr und mehr beeinflusst. Und vielleicht war dieses Hochziehen der Mauern, dieses Darstellen einer Kunstfigur nichts anderes als ein Schutzeffekt: Ich verstecke mich als Spieler hinter einer Figur und lasse mich als Mensch gar nicht mehr erkennbar werden. Mal aus Angst und Unsicherheit, mal aus Bequemlichkeit oder weil man davon profitiert.
Gab es einen Autorisierungsprozess?
Ja. Pressesprecher Christian Arbeit hat das Manuskript bekommen mit der klaren Absprache, Fehler zu korrigieren. Das kann man natürlich weit deuten. Wie alle Journalisten habe ich da auch schon bizarre Erfahrungen gemacht. Das war diesmal anders. Arbeit hat mir gesagt, dass er zwar an einigen Stellen seinen „inneren Zensor zähmen musste“, aber das hat er auch getan. Er hat Fehler korrigiert: hier das Alter eines Spielers, dort der genaue Titel eines Geschäftsführers. Mehr nicht. Darüber war ich erstaunt und bin ihm auch dankbar.
Für Sie werden ja Kosten angefallen sein: Hotel, Essen undsoweiter. Wer hat das eigentlich bezahlt?
Die Reisen, die Übernachtungen, das habe alles ich selber beziehungsweise der Verlag bezahlt. Es waren dann 30 Zimmer für Union reserviert und eines für Biermann. Auch das Essen anteilig. Was ich nicht bezahlt habe, war das Mitfliegen im Charter-Flugzeug nach dem Re-Start, was Union zu drei oder vier Auswärtsspielen genutzt hat. Da waren so viele Plätze frei, dass es auch egal war, ob da noch einer mehr drin sitzt.
Und verdient der Klub was an dem Buch?
Nein, es gibt zwischen mir und dem Verlag auf der einen Seite und Union Berlin auf der anderen Seite keine Art von wirtschaftlicher Beziehung. Die verdienen nichts an den Buchverkäufen – mal abgesehen von dem Anteil, den Union wie jede andere Buchhandlung auch bekommt, wenn sie das Buch in ihrem Fanshop verkaufen. Es gab weder ein Signing Fee noch gibt es eine Beteiligung an den Umsätzen. Das war mir wichtig. Ich wollte auch keinen „Präsentiert von Union“-Aufkleber auf dem Buch haben. Ich wollte nicht auf Kosten des Klubs ein vom Klub beworbenes Buch schreiben.
Christoph Biermann: Wir werden ewig leben
Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin
KiWi, 18 Euro
1 Kommentare
Einerseits hat es mich etwas gestört, dass sich Biermann für sein Werk ausgerechnet Union und nicht sagen wir Hansa Rostock oder Kickers Offenbach rausgepickt hat. Den dritten…naja… „Kultklub“ neben den bereits völlig (St.Pauli) und teilweise (Freiburg) totgerittenen Dauerbrennern im angeblichen Kontrakommerzspektrum. Aber was diesen Klub ausmacht, inklusive der Zinglerschen Widerborstigkeit und des kauziges-einnehmenden Wesens von Fischer , dafür ist Biermann ( na, vielleicht hätte es Reng auch hingekriegt) sicher der Richtige.
Einerseits hat es mich etwas gestört, dass sich Biermann für sein Werk ausgerechnet Union und nicht sagen wir Hansa Rostock oder Kickers Offenbach rausgepickt hat. Den dritten…naja… „Kultklub“ neben den bereits völlig (St.Pauli) und teilweise (Freiburg) totgerittenen Dauerbrennern im angeblichen Kontrakommerzspektrum. Aber was diesen Klub ausmacht, inklusive der Zinglerschen Widerborstigkeit und des kauziges-einnehmenden Wesens von Fischer , dafür ist Biermann ( na, vielleicht hätte es Reng auch hingekriegt) sicher der Richtige.