Hasswort (33)

Sich vor Gericht verantworten

„Mein Nachbar muss sich morgen vor Gericht verantworten.“

Kein Mensch redet so – es sei denn, er oder sie hat sich vom üblichen Medienjargon anstecken lassen oder kommt selber aus dem Nachrichtengeschäft. Die meisten Leute würden wohl eher sagen: Jemand „steht“ vor Gericht oder „muss“ vor Gericht oder „sitzt auf der Anklagebank“.

Natürlich müssen Medienschaffende nicht in jedem Fall dem Volk aufs Maul schauen. Aber wenn sie schon unbedingt Floskeln jenseits der Alltagssprache verwenden wollen, sollten sie zumindest über deren Wirkung nachdenken.

Täten sie es, würden sie merken: Die Phrase „sich vor Gericht verantworten“ ist vorverurteilend. Sie suggeriert, dass sich die Person etwas hat zu Schulden kommen lassen. Denn wer sich für etwas verantworten muss, hat die Verantwortung dafür. Das passt allenfalls bei geständigen Tätern, die in flagranti geschnappt wurden. Aber bei strittigen Sachlagen und erst recht bei Angeklagten, die ihre Unschuld beteuern, sind neutralere Formulierungen nötig.

Vor allem die Nachrichtenagenturen haben jahrzehntelang diese Floskel verbreitet. Immerhin hat die Deutsche Presse-Agentur (dpa) vor etwa fünf Jahren einen Hinweis in ihr internes Regelwerk aufgenommen, wonach „sich vor Gericht verantworten“ nur „zurückhaltend“ verwendet werden soll: Wenn ein Tatgeschehen an sich unbestreitbar sei, dann könne die Formulierung benutzt werden. „Ansonsten sollten wir Alternativformulierungen bevorzugen.“

Trotzdem verwendet die dpa manchmal auch heute noch ohne passenden Anlass diesen Einstieg, und bei vielen anderen Redaktionen scheint es überhaupt kein Umdenken zu geben.

Drei Mal Vorverurteilung

Journalistinnen und Journalisten, die den Textbaustein „sich vor Gericht verantworten“ verwenden, nutzen übrigens auch gerne folgende Vokabeln:

Beweismittel sicherstellen
leugnen
sich wähnen

Was an diesen Wörtern vorverurteilend ist? Ganz einfach: Bei „Beweismitteln“ denken viele Laien vermutlich an Belastungsmaterial. Ermittlungsbehörden verstehen darunter aber auch entlastende Beweise. Ob sichergestellte Materialien tatsächlich die Schuld oder vielleicht doch eher die Unschuld eines Tatverdächtigen belegen, zeigt sich erst nach deren Auswertung.

Besser wäre demnach: „Die Polizei stellte diverse Materialien sicher.“ Oder konkreter, zum Beispiel so: „Die Polizei nahm Computer, Smartphones und Akten mit, um darin nach Beweisen zu suchen.“

Wer leugnet, lügt

Das Problem bei „leugnen“ ist, dass der Begriff von „lügen“ kommt. Wer leugnet, lügt. Bei eindeutig unwahren Aussagen kann man das so schreiben oder sollte es sogar, etwa bei der „Auschwitz-Leugnung“. Aber bei Gerichtsberichten empfehlen sich in der Regel neutrale Formulierungen wie: „Die Angeklagte bestreitet die Tat.“ Oder: „Der Angeklagte beteuert seine Unschuld.“

Aber bitte nicht: „Er wähnt sich im Recht.“ Denn „sich wähnen“ kommt von „Wahn“ und bedeutet „irrigerweise annehmen“. Also lieber: Er oder sie „sieht“ oder „glaubt“ sich im Recht.

Beim Deutschen Presserat hat sich offenbar noch niemand über solche unterschwelligen Vorverurteilungen beschwert. Jedenfalls kann sich in der Geschäftsstelle niemand an einen entsprechenden Fall erinnern. Beschwerdeausschuss-Referentin Edda Eick glaubt, dass sich der Presserat bei solchen „sprachlichen Feinheiten“ auch eher zurückhalten würde, „um nicht zu einer Art Sprachpolizei zu werden“. Entscheidend wäre bei einer Bewertung ohnehin „der Kontext der Formulierung“.

Falls sich gedankenlose Polizei- und Gerichtsreporter also tatsächlich mal vor dem Presserat verantworten müssten, kämen sie möglicherweise ohne Sanktionen davon. Ein weiteres Glück für sie: Es gibt auch keinen Straftatbestand „Fahrlässige Vorverurteilung“. Gäbe es ihn, wäre wohl folgender Strafrahmen angemessen: vom „Auswendiglernen aller Pressekodex-Regeln“ bis zur Höchststrafe „Zwangslektüre des aktuellsten Strafrechtskommentars“ – bei Wiederholungstätern ohne Bewährung.

18 Kommentare

  1. Ein interessantes Thema, danke dafür! Allerdings stellen sich mir ein paar Fragen. „Beweismittel“ sichern ist für mich in keiner Weise abwertend oder vorverurteilend, sondern ganz neutral. So wie es ja auch gemeint ist. Das „viele Laien vermutlich“ etwas anderes denken, kann sein. Oder auch nicht. Das kann ich nicht beurteilen. Aber sollte man korrekte, eindeutige und gängige Formulierungen wirklich durch schwammigere ersetzen, weil ein paar Leute es falsch verstehen KÖNNTEN?
    Ähnlich geht es mir mit dem „leugnen“. Ich muss zugeben, dass mir als studiertem Germanisten (Schwerpunkt Mittelhochdeutsch) die Verwandschaft mit dem Wort „lügen“ nicht bekannt war und ich es ebenfalls nicht pejorativ verstehe.
    Es ist eine spannende Frage, wie man mit solchen Fällen umgeht. Wie ermittelt man, wie groß das „Missverständnispotential“ ist? Einfach aus dem Bauch heraus? Mittels repräsentativer Umfragen? Welchen Weg geht man, wenn man keine ausreichende Datengrundlage hat, um das wirklich beurteilen zu können?
    Mein Seelenheil hängt nicht am Wort „leugnen“ oder „Beweismittel“, zumal es mehr oder weniger gute Alternativen gibt. Aber es geht hier ja nicht nur um den eigenen Sprachgebrauch, sondern darum, im Extremfall den Sprachgebrauch anderer einzuschränken. Dafür braucht es meines Erachtens mehr als ein „könnte (!) von vielen Laien missverstanden werden“.

  2. @1: Definitiv eine extreme Einschränkung Ihrer Freiheitsrechte! Sie sind da was Großem auf der Spur!

  3. @2 Weder noch. Habe ich auch an keiner Stelle so formuliert. Aber die reflexhafte Antwort ist vielsagend. ;)
    Als Geisteswissenschaftler hat mich an den Geisteswissenschaften immer gestört, dass es vielfach schwierig ist, Dinge wirklich zu beweisen. Und noch mehr, dass viele es auch gar nicht versuchen.
    Wenn es nur darum geht, zB einen Artusroman zu interpretieren, ist das nicht schlimm. Aber wenn es darum geht, den allgemeinen Sprachgebrauch zu kritisieren und ggf. sogar verändern zu wollen, sollte man sich aber mehr Mühe machen. Da fehlen mir einfach ein paar Fakten.

  4. „Leugnen“ kenne ich nur als „wider besseren Wissen bestreiten“.
    „Stellte Beweismittel sicher“ ist schon weniger eng; allerdings ist das an sich schon seeehhhr schwammig, weil es die Frage aufwirft, was für welche.

  5. @Martin: Leugnen finde ich auch recht eindeutig abwertend, ganz im Sinne von Mycrofts Deutung. In juristischen Auseinandersetzungen verwende ich es auch nur im Sinne einer vornehmen Umschreibung von Lügen und so wird es in aller Regel auch verstanden.

    Beim „Beweise sicherstellen“ hingegen bin ich bei Ihnen, das erscheint mir neutral, auch aus Laiensicht.

  6. Schöner Text, dass mit dem Verantworten hatte ich mir noch nicht klar gemacht. Kleiner Widerspruch zum Thema „leugnen“: Laut Duden gehört zum Bedeutungsumfang auch „etwas abstreiten, das einem zur Last gelegt wird.“ Die Lüge ist – Etymologie hin oder her – nicht notwendig enthalten. Aber stimmt schon: Es hat einen pejorativen Beiklang.

  7. @Anderer Max

    „Definitiv eine extreme Einschränkung Ihrer Freiheitsrechte! Sie sind da was Großem auf der Spur!“

    Meine Güte, wie abgeschmackt. Haben Sie endlich die Formel gefunden, mit der Sie jede von der Ihren abweichende Ansicht diskreditieren können?

    @Übermedien

    Am besten wird es sein, wir lassen das mit dem Journalismus. Kein Satz ist je mehr einfach nur ein Satz, an allem wird rumgekrittelt. An anderer Stelle wird eine enge Auswahl von Leuten getroffen, deren Stimmen man noch Gehör schenken will. Ein in Neusprech Regierungsmitteilungen wiederkäuenden Schreiberling schafft sich irgendwie selbst ab, oder?

  8. @ Bazooka Joe (#7):

    Vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamtkeit entgangen, aber hier ging es weder um Meinung noch um Political Correctness, sondern um Sprachkritik – bzw. um unintendierte Wertungen, die sich durch den Gebrauch von Phrasen in journalistische Texte einschleichen.

  9. @Kritischer Kritiker

    Für mich, und nicht nur für mich, hat Beitrag #2 aber einen ganz anderen Beiklang.

  10. @7: „an allem wird rumgekrittelt“ … ich wiederhole gern nochmals: Das hier ist eine Seite für Medienkritik.

  11. @3: Sie haben Recht, die Antwort war reflexhaft. Nach 2 Tagen grübeln, ob sie auch ungerechtfertigt war komme ich zu dem Schluss: Nein, aber
    verkürzend und polemisch, evtl. auch diskreditierend. Dafür bitte ich um Entschuldigung.
    Inhaltlich möchte mich aber erklären, um die Vehemenz da rauszunehmen.
    Sie formulieren es sehr höflich, sagen aber letztlich auch nicht mehr als „Es gibt Wichtigeres“ („Mein Seelenheil hängt nicht am(…)“) und zweitens, dass das Freiheitsrecht „sagen was ich will“ („den Sprachgebrauch anderer einzuschränken“) mehr wiegt, als z. B. Schutz eines Angeklagten – sofern es keine Belege über ein „könnte (!) von vielen Laien missverstanden werden“ hinaus gibt.
    M. E. geht es aber genau darum: (Massen)medien richten sich an Laien, die vieles missverstehen – Ich schließe mich da mit ein, ich habe keine Ahnung von Jurisdiktion.
    Eben deshalb halte ich es umso wichtiger, dass wenigstens Journalisten behutsam mit der Sprache umgehen, wenn es um diese Themen geht. Ich halte „Sprachgebrauch einschränken“ für massiv übertrieben in dem Zusammenhang.
    Letztlich sehe ich das ähnlich, wie z. B. bei der Z-Schnitzel-Diskussion: Tut es irgendwem weh, das Ding Paprikaschnitzel oder so zu nennen? Ich meine nicht. Bei dem Thema wiederum gibt es ja auch definitiv „Fakten“ in Form von Erfahrungsberichten Betroffener, die sich dadurch diskriminiert fühlen. Die wiegen für mich mehr, als eine statistische Feststellung, dass 80% (ausgedacht) kein Problem mit dem Wort haben.

    Grundsätzlich finde ich die von Ihnen aufgeworfene Frage „Wie ermittelt man, wie groß das „Missverständnispotential“ ist?“ wichtig und spannend.
    Ich argumentiere hier, wie Sie evtl. schon mitbekommen haben vom „Wem schadet es mehr?“ Standpunkt. Und da meine ich halt, dass die „Einschränkung des Sprachgebrauchs“ von Journalisten weniger wiegt, als der verursachte Schaden durch eben jenen Sprachgebrauch – sei er auch nicht statisch feststellbar, sondern eher Bauchgefühl.

    „Da fehlen mir einfach ein paar Fakten.“ unterschreibe ich sofort. Lieber wären auch mir Fakten, die das Bauchgefühl untermauern. Das muss jemanden aber ja nicht daran hindern, dennoch seine Herangehens- / Schreibweise an das Thema „Vorverurteilungen“ zu überdenken. Wie gesagt, ich selbst betrachte mich als Laie und finde die Punkte im Text absolut nachvollziehbar.
    Hinzu kommt, dass gewisse Medien ja auch eine Neigung zu Vorverurteilungen haben – Bildzeitung wenn es z. B. um pöbelnde Linke geht, aber auch die taz, wenn es um „police brutality“ geht.
    Da denke ich mir dann auch: Die formulieren eh so, dass es zur Botschaft passt.

    Ich hoffe, diese Differenzierung trägt dazu bei, das Vielsagende etwas abzuschwächen. Polemik in Kommentarspalten kritisiere ich selbst oft genug und fasse mich da an den eigenen Eiern.

  12. @andererMax
    „‚Da fehlen mir einfach ein paar Fakten.‘ unterschreibe ich sofort. Lieber wären auch mir Fakten, die das Bauchgefühl untermauern.“

    Teile die Ansichten, hierzu nur die kurze Anmerkung:
    Neben Empirie und Experiment, die Sie beide womöglich im engeren Sinne als Quelle von Fakten meinen, sind aber auch korrekt ausgeführte Analyse und Deduktion wissenschaftliche Werkzeuge, um Fakten festzustellen. Und dieser wurde sich mE oben im Artikel bedient. „Da fehlen mir einfach ein paar Fakten.“ bedeutet dann implizit eher, dass man die dortige Analyse und Deduktion für fehlerhaft befindet.

  13. @12 Danke, ich weiß Ihren Kommentar sehr zu schätzen.
    Offtopic: Wenn „leugnen“ tatsächlich die Bedeutung „wider besseres Wissen abstreiten“ hat/hätte, dann ist/wäre der von vielen Medien genutzte Terminus „Klimaleugner“ eine ziemlich perfide Unterstellung. Insofern gebe ich dem Autor recht, dass der Begriff für journalistische Zwecke ungeeignet ist. Aber aus meiner Sicht nicht aufgrund der Vorverurteilung, sondern aufgrund seiner Ambivalenz, die vielleicht nicht allen bewusst ist.

  14. >>Besser wäre demnach: „Die Polizei stellte diverse Materialien sicher.“ Oder konkreter, zum Beispiel so: „Die Polizei nahm Computer, Smartphones und Akten mit, um darin nach Beweisen zu suchen.“<>Wer leugnet, lügt. Bei eindeutig unwahren Aussagen kann man das so schreiben oder sollte es sogar, etwa bei der „Auschwitz-Leugnung“<<
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    Das ist natürlich Unsinn. Wer den Holocaust abstreitet, muss nicht unbedingt lügen. Er kann es auch aus Überzeugung tun. Wenn man unbedingt darauf beharren möchte, dass leugnen lügen ist, sollte man den Begriff Holocaustleugnung nicht mehr verwenden.
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    Zu wähnen: Möglicherweise findet hier ein Sprachwandel statt. Wiktionary setzt das Wort "fälschlich" in Klammern.
    https://de.wiktionary.org/wiki/w%C3%A4hnen

  15. Vielen Dank für die Hinweise zur „Auschwitz-Leugnung“ und zu den „Klimaleugnern“! In der Tat hätte ich mich in puncto „leugnen“ differenzierter ausdrücken müssen, zum Beispiel so: „Wer leugnet, lügt – oder sagt zumindest objektiv die Unwahrheit.“

  16. Ich sehe gerade, dass ein Teil meines Kommentars verloren gegangen ist.

    »Besser wäre demnach: „Die Polizei stellte diverse Materialien sicher.“ Oder konkreter, zum Beispiel so: „Die Polizei nahm Computer, Smartphones und Akten mit, um darin nach Beweisen zu suchen.“«

    Das wäre eine Verschlimmbesserung. Erstens ist „diverse Materialien“ irreführend. Können damit auch Informationen auf einem fremden Server gemeint sein? Beschlagnahmte E-Mails? Was bedeutet hier „divers“? Das lenkt alles unnötig vom Eigentlichen ab. Es handelt sich ganz spezifisch um Beweismittel, nicht irgendwelche „diversen“ Materialien. Zweitens kommt man wohl dich nicht ohne das böse Wort Beweis aus, wie der zweite Beispielsatz zeigt. Was ist gewonnen, wenn man erst konkrete Gegenstände benennt, und dann doch den Beweiszweck anführt. Dann kann man auch gleich „Beweismittel“ schreiben.

    Noch eine Ergänzung:
    Warum überhaupt halten Journalisten Leser für so dumm? Warum müssen sie ständig davor bewahrt werden, selbst zu denken? Etablierte Begriffe, die jeder versteht, sollen jetzt irgendwie ein schwerwiegendes Problem sein („persönliches Hasswort“ laut Rubrik). Die hier beanstandeten sind doch geradezu harmlos. Jeden Tag schießen Journalisten mit unfairen Mitteln gegen Leute, die nicht die „richtige“ Meinung vertreten. Auf der einen Seite ist man superempfindlich – oder gibt es vor -, auf der anderen kann es gar nicht grob genug sein. Dieser Schieflage könnte sich Übermedien mal widmen, dann wären die Artikel relevanter.

  17. Schon doof, wenn man nicht das zu lesen bekommt, was man lesen will … was genau hindert Sie, über das, was Sie eh schon meinen zu wissen (woher eigentlich?), einen Beitrag zu verfassen, um ihn einer Medienkritikseite anzudienen, damit sie endlich mal relevanter wird?

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