Wie man eine Zombie-Zeitung füllt
Münster in Westfalen ist eine hübsche Stadt. Am Prinzipalmarkt bilden die mittelalterlichen Häuser mit ihren Arkaden aus Sandstein ein stimmiges Ensemble. Nur wer genau hinsieht, könnte merken, dass die Fassaden gar nicht aus dem Mittelalter stammen, sondern Rekonstruktionen sind. Münsters Innenstadt ist im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört worden. Eine „große Maskerade“ sollen kritische Fachleute seinerzeit den historisierenden Wiederaufbau genannt haben. Die meisten Münsteraner und Touristen dürfte das aber kaum stören – es sieht doch so schön aus.
Auch auf Münsters Zeitungsmarkt wird eine Fassade aufrechterhalten. Zwei Tageszeitungen erscheinen dort, sie heißen „Westfälische Nachrichten“ (WN) und „Münstersche Zeitung“ (MZ). Die WN sind etwas umfangreicher, der Titelschriftzug steht geschichtsträchtig in Fraktur und die Schmuckfarbe Rot zieht sich durchs Blatt.
Die MZ dagegen wirkt ein bisschen spielerischer und orientiert sich an der Farbe Blau. Auch inhaltlich unterscheiden sich die beiden: An einem Samstag im Januar etwa haben die „Westfälischen Nachrichten“ einen Schalke-Sieg und den Kampf gegen Kindesmissbrauch auf dem Titel, während die MZ Greta Thunbergs Schulstreik und die Libyen-Konferenz in den Mittelpunkt rückt. Zwei Wettbewerber eben, könnte man meinen.
Vorgegaukelte Pressevielfalt
Tatsächlich aber ist die „Münstersche Zeitung“ ein Blatt ohne Redaktion. Als Zombiezeitung gaukelt sie regionale Pressevielfalt vor, die es aber seit mehr als fünf Jahren nicht mehr gibt. Im Herbst 2014 kaufte der Verlag Aschendorff, in dem die „Westfälischen Nachrichten“ erscheinen, dem Dortmunder Verleger Lensing-Wolff die arg abgewirtschaftete MZ ab und hat seither ein Zeitungsmonopol in und um Münster. Die Lokalredaktionen der „Münsterschen Zeitung“ wurden im November 2014 geschlossen.
Das hat Auswirkungen auf den Inhalt: Wir haben uns genauer angesehen, was drin steht und sich alles doppelt, und zwar anhand von drei Ausgaben aus dem Januar 2020.
Die überregionalen Inhalte der MZ – politische Berichte, Wirtschaftsmeldungen, Kommentare und ähnliches – stammen in diesen Ausgaben zu rund 80 Prozent von Agenturen, allen voran der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Von ihr kommen hier allein 100 Berichte und Meldungen.
Regelmäßig bedient sich der MZ-Mantel zudem bei der „Rheinischen Post“ (RP) aus Düsseldorf. Als große deutsche Regionalzeitung verfügt die RP über eine eigene Hauptstadtredaktion, aus der etliche Beiträge in unserer MZ-Analyse stammen. Am 16. Januar sind das, zum Beispiel, der Seite-eins-Aufmacher „Deutsche zahlen gerne Steuern“ und ein Interview mit FDP-Chef Christian Lindner. Das Interview steht auch in der RP-Ausgabe vom selben Tag – mit einem anderen Foto und kleinen Abweichungen: In Münster bekommen die Leserinnen und Leser zwei zusätzliche Fragen und Antworten in den Gesprächsfluss eingestreut, dafür fehlt das Ende.
Einen interessanten Unterschied gibt es auch im ersten Absatz. Dort heißt es in der „Rheinischen Post“:
„Sein Porsche sei klimaschonend, verrät Lindner. Er fahre ihn nämlich nur sehr selten.“
In der „Münsterschen Zeitung“ steht:
„Sein Porsche sei absolut klimaneutral, verrät Lindner. Er fahre ihn nämlich nicht.“
Was hat Lindner tatsächlich gesagt? Wurde seine Aussage nachträglich abgeschwächt oder zugespitzt?
Weniger Feintuning gibt es beim „Blickpunkt“: Die ganzseitigen Texte, jeweils zu einem bestimmten Thema wie China oder Organspende, stammen in allen drei Ausgaben aus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), der Zentralredaktion der Madsack Mediengruppe. Sie erscheinen in gleicher Aufmachung auch in anderen Zeitungen, etwa den „Ruhr Nachrichten“, der „Hannoverschen Allgemeinen“ oder den „Kieler Nachrichten“. Außerdem finden sich im MZ-Mantel vereinzelt auch Kommentare und Meldungen von Autoren der „Westfälischen Nachrichten“.
Der Sportteil der „Münsterschen Zeitung“ kommt von den „Ruhr Nachrichten“ (RN) aus Dortmund. Meist werden die Seiten 1:1 übernommen – bis hin zur kleinsten Zwischenüberschrift. Manchmal wird aber auch ein wenig gebastelt – eine ganze Seite über Borussia Dortmund, wie sie in den „Ruhr Nachrichten“ Standard ist, scheint für die Leserschaft in Münster dann doch ein bisschen viel. Und so erscheinen Versatzstücke der RN in Münster zuweilen in neuer Zusammensetzung.
Deckungsgleich wiederum sind die Kinderseiten (abgesehen von den Zeitungsnamen, die groß drüber stehen) sowie die Fernseh- und Rätselseiten.
Zeitungs-Tetris im Lokalen
Der Lokalteil der „Münsterschen Zeitung“ kommt von den „Westfälischen Nachrichten“. In unserer Analyse ist der Lokalsport in allen drei Ausgaben identisch mit dem der WN – genau wie die Traueranzeigen, die Veranstaltungshinweise und das Kinoprogramm.
Ein wenig kniffliger wird die Zuordnung bei den Berichten und Meldungen: Zwar ist der Spatenstich für den geplanten Forschungscampus wortgleicher Lokalaufmacher in WN und MZ, aber weil die WN noch ein Bild einer Kinopremiere darüber setzen, fällt die Doublette nicht gleich ins Auge. Ähnlich verhält es sich mit fast allen lokalen Inhalten. Nur selten werden ganze WN-Seiten in das MZ-Format übertragen. Oft stammen die Berichte und Meldungen von unterschiedlichen Seiten und werden für die MZ in einer anderen Mischung und teils mit geänderten Überschriften, Bildern oder Formaten wieder zusammengefügt.
Das Ergebnis dieses Zeitungs-Tetris‘ kann auch mal knirschen. So steht die Meldung „Den NS-Opfern ein Gesicht geben“ direkt neben dem karnevalsselig grinsenden Maritimduo „Klaus und Klaus“, die als „Zeugen“ vor ein Narrengericht geladen werden. In den „Westfälischen Nachrichten“ vom selben Tag liegen die Meldungen fünf Seiten auseinander.
Zudem werden die WN-Inhalte nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich neu angeordnet: Die untersuchte Samstagsausgabe der „Münsterschen Zeitung“ vom 18. Januar enthält drei WN-Texte vom Vortag und sogar sechs vom 16. Januar. Offenbar nichts Ungewöhnliches – und noch nicht mal das Maximum, wie Übermedien von mehreren Verlagsmitarbeitern erfuhr. Es komme auch vor, dass WN-Texte eine Woche und länger liegenbleiben, bevor sie in der MZ zweitverwertet werden.
Zusammengefasst heißt das: Den Lokalteil der „Münsterschen Zeitung“ liefern die „Westfälischen Nachrichten“, den Sport und ein paar weitere Seiten die „Ruhr Nachrichten“. Der Mantel besteht aus Beiträgen der „Rheinischen Post“, des Redaktionsnetzwerks Deutschland und von Agenturen.
Redakteure, die offenbar an zwei Orten gleichzeitig arbeiten
Und wie ist das im Impressum der „Münsterschen Zeitung“ abgebildet? Die Antwort: überhaupt nicht. Beziehungsweise gilt auch hier: Wer WN und MZ nebeneinander legt, entdeckt auffällige Übereinstimmungen.
Nach dem NRW-Pressegesetz sind Zeitungen verpflichtet, Namen und Anschrift der verantwortlichen Redakteure anzugeben. So nennt das MZ-Impressum Chefredakteur, stellvertretenden Chefredakteur sowie Leiter und Vize-Leiter der Lokalredaktion. Und siehe da, alle Namen sind identisch mit den Menschen auf den gleichen Positionen bei den „Westfälischen Nachrichten“, allerdings unterscheiden sich Verlagsname, Redaktionsadresse und sogar die Telefonnummern. Offenbar können dieselben Personen an zwei Orten gleichzeitig arbeiten.
Als Herausgeber und Verlag der „Münsterschen Zeitung“ ist nicht Aschendorff, sondern eine Firma namens „MZ Medien Holding“ angegeben, ein Tochterunternehmen von Aschendorff. Die Worte „Westfälische Nachrichten“ tauchen nirgendwo auf, ebenso wenig wie andere Bezugsquellen. Dabei heißt es im Landespressegesetz:
„Zeitungen und Anschlusszeitungen, die regelmäßig ganze Seiten des redaktionellen Teils fertig übernehmen, haben im Impressum auch den für den übernommenen Teil verantwortlichen Redakteur und den Verleger zu benennen.“
Was hat dich bloß so ruiniert?
Wie erklärt sich nun das Sammelsurium, aus dem die „Münstersche Zeitung“ besteht? Um das nachzuvollziehen, muss man die Geschichte – oder besser gesagt den Niedergang – der Zeitung genauer anschauen. 1986 kaufte das Dortmunder Verlagshaus Lensing-Wolff das zu der Zeit schon fast 100 Jahre alte Blatt. Nach der Jahrtausendwende geriet die Zeitung jedoch immer stärker in wirtschaftliche Bedrängnis. Auflage und Anzeigenerlöse sanken.
Lensing-Wolff sparte daraufhin – und zwar drastisch: Eine seiner Entscheidungen ging als Tabubruch „ohne Skrupel“ („Berliner Zeitung“) und „einzigartige Unverfrorenheit“ („taz“) in die deutsche Mediengeschichte ein: Im Januar 2007 warf der Verlag über Nacht die gesamte nichtsahnende Münsteraner Lokalredaktion raus und ersetzte sie durch bereits in Stellung gebrachte, günstigere Mitarbeiter. Einige Jahre später mussten mehrere Außenredaktionen schließen. 2014 durfte Lensing dann endlich die MZ an den Konkurrenten und Münsteraner Marktführer Aschendorff verkaufen, nachdem er vor dem Bundeskartellamt den sonst unmittelbar bevorstehenden Marktaustritt seiner Zeitung nachgewiesen hatte.
Beziehungsstatus: kompliziert
Der Mantelteil der „Münsterschen Zeitung“ sollte aber weiter von Lensing kommen – und zwar von seinen „Ruhr Nachrichten“ aus Dortmund. Doch im Herbst 2017 schloss Lensing auch deren Mantelredaktion. Seither versorgt das in Unna ansässige Redaktionsnetz Westfalen, eine neu gegründete Tochter der Medienhäuser Lensing und Rubens, die Zeitungen ihrer Anteilseigner mit überregionalen Inhalten – und als Dienstleister des Dienstleisters offenbar auch die MZ. Das Redaktionsnetz Westfalen wiederum kooperiert mit der „Rheinischen Post“ und Madsacks Zentralredaktion RND. Anfang 2019 schließlich teilte die RP mit, dass sie ab sofort im Rahmen eines Agenturmodells Beiträge ihrer Berliner Redaktion und der Düsseldorfer Fachressorts nach Münster liefere.
Wenn sie ihre Zeitung aufschlagen, bekommen die Leserinnen und Leser der „Münsterschen Zeitung“ also einen Nachrichtenbrei aus fünf verschiedenen Verlagen vorgesetzt – inklusive aufgewärmter Lokalzutaten. Freilich: Überregionale Zulieferungen sind bei den meisten Lokal- und Regionalzeitungen gang und gäbe. Die Redaktionen gehören in der Regel zu größeren Verlagen und erhalten ihre Mantelteile von den jeweiligen Hauptausgaben. Auch die Fülle von Agenturmaterial ist nicht ungewöhnlich. Doch das Modell MZ – keine eigene Redaktion mehr, stattdessen ein bunter Reigen an Zweit- und Mehrfachverwertungen – bildet noch mal eine neue Dimension. (Auch wenn sie nicht die erste Zombiezeitung Deutschlands war, diesen Titel trägt die ebenfalls noch immer erscheinende „Westfälische Rundschau“ seit 2013.)
Wie viele Menschen den zusammengerührten Brei der „Münsterschen Zeitung“ heute noch schlucken, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Denn ausgerechnet bei den Auflagenzahlen legt Aschendorff keinen Wert auf den eigenständigen Markenauftritt seiner Zweitzeitung: Seit Ende 2014 ist die Auflage der „Münsterschen Zeitung“ in jener der „Westfälischen Nachrichten“ enthalten.
The printed death.
Vielen Dank für die Aufdröselung der Redaktionsgeschichte. Vergleichbares, wenn auch nicht so drastisch, konnte ich auch schon bei ein, zwei regionalen Zeitungen in der Umgebung nachzeichnen. Bleibt zu hoffen, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft ein „Heureka!“ für die Genesung beziehungsweise Reanimierung deutscher Lokalpresse lesen. Meine Hoffnung darauf sinkt leider beständig.
„der Titelschriftzug steht geschichtsträchtig in Fraktur“
Der Titelschriftzug der Westfälischen Nachrichten steht in Textura, nicht Fraktur.
Kleines „a“ geschlossen: Fraktur (oder Schwabacher)
Kleines „a“ offen: Textura (oder Rotunda)
Textura hat doppelte Schäfte, Fraktur hat diese nicht.
Textura und Rotunda lassen sich ob ihrer Quadrangel nicht verwechseln.
Ich frage mich immer, wie es überhaupt möglich ist, das zu verwechseln. Es sei denn, man schreibt als Blinder über die Farbe des Sonnenaufgangs.
@3 Brutha
Textura und Fraktur gehören zu den gebrochenen Schriften.
Fraktur trägt dies ja auch im Namen.
Es ist wohl eine Vereinfachung und Verallgemeinerung aller Nicht-Setzer und Nicht-DTPler und Nicht-Mediengestalter, wenn sie gebrochene Schrift mit Fraktur gleichsetzen.
@civichief
Die Gleichsetzung bleibt falsch, auch wenn beide zur gleichen Schriftgattung gehören. Der Mensch ist ein Säugetier und ein Säugetier ist auch die Maus – trotzdem wird beides unterschieden.
Und wenn der Zeitungstitel „geschichtsträchtig“ in gebrochener Schrift gesetzt sein soll, dann wirkt dies Aussage bei Textura wenigstens kurios, da Textura fast ausschließlich im englischsprachigen Raum verwendet wurde und wird – siehe die New York Times.
Es erwartet ja niemand, dass Autoren Schriftexperten sind. Faktische Richtigkeit ist m.E. aber kein zu hoher Anspruch. Wer nichts weiß über Wale, erzähle auch nichts über Wale – denn wenn doch, dann ist der plötzlich Fisch.
@1: Der gedruckte Tod – was soll das heißen?
@ 2 bis 5: Zumindest lebt der Schriftsetzer noch.