Scripted-Reality-Methoden bei WDR-Vorzeige-Dokus?
Am 10. Januar postete die Redaktion der WDR-Reihe „Menschen hautnah“ bei Facebook einen Link zu ihrer neuesten Doku. Der Film heißt „Ehe aus Vernunft – geht es wirklich ohne Liebe?“ Darin erzählen drei Paare, warum sie sich aus ganz pragmatischen Gründen für eine Beziehung entschieden haben. Kurz darauf kamen in den Kommentaren unter dem Beitrag Zweifel daran auf, ob das, was in der Doku zu sehen ist, so auch tatsächlich stimmt.
„Ist die Geschichte von Sascha echt…? Der kommt mir als Statist von anderen Sendern sehr bekannt vor!“, fragte eine Nutzerin. „Mir auch“, kommentierte die nächste. Eine weitere schrieb: „Genau.“
Die Redaktion antwortete:
Sascha arbeitet hauptberuflich als Müllmann und hat bis 2016 ab und wann nebenbei als Kleindarsteller gearbeitet – wie er selbst sagt als Hobby. Bei uns erzählt er seine private Geschichte.
Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Um das herauszufinden, hätte die Redaktion nur ein bisschen googeln müssen. Dann wäre sie zum Beispiel auf die RTL-Doku „Reich trifft arm“ gestoßen, in der Mahlberg im vergangenen Juli einer der Protagonisten war – oder auf das Porträt über ihn, das die Wochenzeitung „Die Zeit“ im September 2018 über ihn veröffenticht hat und in dem steht:
Seit seinem Debüt im Jahr 2007 hat er 169-mal vor der Kamera gestanden. In der Notiz-App seines Mobiltelefons hat er alle Auftritte aufgelistet: Es sind bislang 43 Serien, 22 Dokumentationen, sechs Spiel-Shows, zwölf Abendfilme, acht Kinofilme, acht Musikvideos, fünf Werbefilme. Bei den Quoten hat er bei 200 Millionen Zuschauern aufgehört mitzuzählen.
Das klingt eher nach einem einträglichen Nebenjob als nach einem Hobby, zumal Mahlberg der Autorin sogar verrät, wie viel er beim Fernsehen verdient:
Als Seriendarsteller im Nachmittagsprogramm (…) um die 400 Euro am Tag, mit seiner Familie in Reality-Sendungen bis zu 6500 Euro für sechs Drehtage.
Aber ist das überhaupt ein Problem? Sind die Redaktionen nicht eh alle gleich – ob nun privat oder öffentich-rechtlich? Casten die sich nicht alle einfach ihre Protagonisten zusammen und gehen dann streng nach Skript vor?
Preisgekröntes Format
Nein, so ist es nicht, so sollte es jedenfalls nicht sein. Die WDR-Reihe formuliert ihren eigenen Anspruch auf ihrer Website so: „‚Menschen hautnah‘ ist ein außergewöhnliches Format in der deutschen Medienlandschaft.“ Darunter sind die Preise aufgelistet, die das Magazin gewonnen hat. Allein in den vergangenen zehn Jahren waren es etwa 40 Auszeichnungen und Nominierungen.
Doch wenn Zuschauern in öffentlich-rechtlichen Qualitäts-Dokumentationen dieselben Gesichter begegnen wie im privaten Trash-Fernsehen, entsteht schnell der Eindruck, dass das im Grunde doch alles das Gleiche ist. Bei einigen Zuschauern regen sich schon dann Zweifel, wenn dieselbe Person in unterschiedlichen Dokus des gleichen Senders auftaucht.
Katharina Wulff-Bräutigam, die Autorin des Films über die Ehe aus Vernunft, hat für den WDR in den vergangenen fünf Jahren drei Dokumentation gedreht, die sich thematisch überschneiden und die teilweise von den selben Personen handeln – was auch daran liegt, dass es sich bei einem der Filme um ein Follow-up handelt, eine Fortsetzung.
Der erste Film hieß „Heimliche Liebe – Mein Leben als Geliebte“ (Erstausstrahlung: 13.11.2014), der zweite „Liebe ohne Zukunft? Heimliche Affären und ihre Folgen“ (5.12.2016), der dritte „Ehe aus Vernunft – geht es wirklich ohne Liebe?“ (10.01.2019).
In allen drei Dokumentationen kommt eine Frau vor, die Manuela genannt wird.
Bei Youtube, wo der WDR die Beiträge aus der Reihe „Menschen hautnah“ ebenfalls veröffentlicht, kommentiert die Nutzerin FlorenceMyLove unter dem aktuellen Film:
„Liebes WDR-Team, ich finde eure Dokus eigentlich echt immer sehr interessant, aber jetzt gerade zweifele ich an der Authentizität: diese Manuela war in einer eurer Dokus über Affären auch dabei. Könnt ihr das mal erklären? Sieht nach Fake auf RTL-Niveau aus – mit dem Unterschied, dass ich für sowas GEZ zahlen muss.“
Die Redaktion antwortet:
Hey FlorenceMyLove! Wir begleiten Manuela bereits seit einigen Jahren. Sie war in unserem Film ‚Heimliche Liebe‘ Protagonistin, als sie von ihrem Mann getrennt war und eine Beziehung mit ihrer verheirateten Jugendliebe hatte. Später ist sie aus Vernunft wieder mit ihrem Ehemann zusammen gezogen.
Das klingt plausibel. Doch wenn man die Dokumentationen gesehen hat, stellen sich weitere Fragen, auf die man nicht so leicht eine Antwort findet. Der Journalist Paul Bartmuß wies bei Twitter auf einige Ungereimtheiten hin und machte uns damit auf die Filme aufmerksam.
Unterschiedliche Lebensläufe
„Je nachdem, wie es am besten passt, werden die Lebensläufe nun angepasst“, schrieb er und belegte das mit Beispielen:
In dem am 10. Januar 2019 ausgestrahlten Film (Ehe aus Vernunft) lernen Manuela und ihr Mann Oli sich 2003 kennen, heiraten im Jahr darauf, im Jahr 2014 zieht sie aus und beginnt eine Affäre mit ihrer Jugendliebe (ab Min. 7:41).
In der Doku vom 15. Dezember 2016 (Liebe ohne Zukunft) geht die Geschichte etwas anders. Da heißt derselbe Ehemann – das ist auf den Hochzeitsbildern zu sehen – nicht Oli, sondern Sven. Und dort heißt es: „14 Jahre lang sind Manuela und Sven glücklich, dann fängt die Ehe an zu kriseln.“ Wenn sie sich tatsächlich im Jahr 2003 kennengelernt hätten, wie im anderen Film behauptet, würde das bedeuten, die Affäre beginnt erst 2017 – also im Jahr nach Ende der Dreharbeiten zu dem Film, in dem die Geschichte dieser Liebschaft erzählt wird.
Sinkendes Alter
Und es gibt weitere Widersprüche. Schon vor einem halben Jahr kommentierte die Nutzerin Re Me unter dem Youtube-Video zur Doku „Liebe ohne Zukunft“:
Nach einer 2minütigen Internetrecherche bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die liebe ‚Manuela‘ eigentlich Martina Selke heißt und 2016 bereits 56 Jahre alt gewesen ist. Wenn sie – wie sie behauptet – zum Zeitpunkt des ersten Drehs 48 Jahre alt war, so muss die erste Dokumentation 2008 gedreht worden sein – was ich bezweifele…
Die Angaben zum Alter hätten Autorin oder Redaktion leicht überprüfen können. Martina Selke gewann vor vier Jahren den Titel „Miss 50plus Germany“. Die Nachrichtenagentur dpa berichtete damals und nannte dabei auch ihr richtiges Alter. Im November 2015 war Martina Selke 56 Jahre alt. Im gleichen Monat ließ sie sich von der „Bild“-Zeitung zusammen mit ihrem Mann Oliver porträtieren. Auch dort steht ihr richtiges Alter. In Wirklichkeit ist sie sechs Jahre älter, als in den WDR-Dokus angegeben wird.
Auch inhaltlich werden die Dokumentationen nicht den Redaktionsstandards gerecht. Auf ihrer Website schreibt die Redaktion: „Jeder Film wird so erzählt, dass die Form dem Inhalt folgt.“ Tatsächlich entsteht der Eindruck, die Autorin wäre genau umgekehrt vorgegangen – und hätte sich passend zu ihrer These den Text überlegt.
In der Doku „Ehe aus Vernunft“ schildert die Sprecherin den Alltag von Martina Selke und ihrem Mann, nachdem das Paar seine Krise überwunden und wieder zusammengefunden hat. Die Sprecherin sagt, beide hätten sehr unterschiedliche Hobbys. Im Bild ist Martina Selkes Mann beim Joggen zu sehen. In der Doku „Liebe ohne Zukunft“ zeigt die Autorin Martina Selke als laufbegeisterte Frau. Später heißt es: „Die beiden haben drei Hunde. Das verbindet.“
Fehlende Kenntlichmachung
Hinzu kommen formale Mängel. Im Film „Liebe ohne Zukunft?“ wird durch Einblendungen („Name von der Redaktion geändert“) deutlich gemacht, dass die Protagonistin Manuela eigentlich anders heißt. In den beiden anderen Filmen fehlt dieser Hinweis.
„Leider wurde versäumt, dies kenntlich zu machen“, schreibt der WDR in der Antwort auf unsere Fragen. Martina Selkes Namen habe man in der Dokumentation auf ihren eigenen Wunsch hin verändert. Ihr Mann Oliver habe in den beiden ersten Dokumentationen nicht mit Klarnamen auftauchen wollen, in der dritten schon.
Es seien auch abweichende Jahreszahlen benutzt worden. „Diesen Fehler bedauern wird und entschuldigen uns dafür“, schreibt eine WDR-Sprecherin und ergänzt:
„Teilweise hängen die unterschiedlichen Angaben damit zusammen, dass Protagonisten selbst dazu auch verschiedenen Angaben gemacht haben. So hat die Protagonistin in ihrem O-Ton von 2014 eine versehentlich falsche Angabe über die Dauer ihrer Ehe gemacht. Diese Angaben wurden nicht sorgfältig genug überprüft.“
Dass Martina Selkes Alter in der Doku nicht stimmt, räumt der WDR ebenfalls ein. Es sei nicht üblich, dass das Alter von Protagonisten verändert werde. Man bedauere auch, dass man die Angaben nicht sorgfältig geprüft habe.
Inhaltliche Widersprüche sieht der WDR dagegen nicht. „Nach eigenen Angaben joggt die Protagonistin, aber ihr eigentliches Hobby ist ihr Pferd.“
Man nehme die Einwände sehr ernst, schreibt der WDR. Die Fernseh-Chefredakteurin Ellen Ehni lässt über die Pressestelle mitteilen:
„Wir haben festgestellt, dass es Ungenauigkeiten gibt, z.B. Fehler bei Jahreszahlen und Altersangaben. Dies entspricht nicht den journalistischen und redaktionellen Standards im WDR. Dies bedauern wir. Wir prüfen weiter, werden die Filme an den entsprechenden Stellen korrigieren und dies transparent machen. Eine abschließende Bewertung haben wir noch nicht.“
Die Prüfung dauere an.
Wie konnte das passieren?
Bislang gibt es keinen Hinweis darauf, dass am Ende die Erkenntnis stehen wird: Hier hat jemand bewusst gefälscht oder betrogen. Es sieht eher so aus, als wären die Fehler entstanden, weil es schnell gehen sollte – weil schnell Protagonisten gefunden werden mussten, weil Angaben nicht geprüft wurden.
Die Autorin selbst arbeitet nicht nur für den WDR, sondern auch für private Sender. Sie dreht Doku-Soaps für Vox, Kabel eins, Pro Sieben oder RTL 2. Vielleicht hat sie zwischendurch einfach selbst vergessen, dass das überhaupt nicht das Gleiche ist.
Nachtrag, 18. Januar. Der WDR hat am Freitagnachmittag bekannt gegeben, die Autorin nicht mehr zu beschäftigen.
Da ich Fernsehen kaum verfolge: Im Radio WDR5 lief vor kurzer Zeit -vermutlich passend zu einer Fernsehausstrahlung im WDR- ein Gespräch mit der verantwortlichen Redakteurin (Autorin?). Es wurde auf Seiten des Gastes sehr gestottert und man merkte dem -abgebrühten, TV-geprüftem- Gesprächsführer auch an, das er sich vielleicht nicht zu sehr in das Thema und die zeitlichen Abläufe hineinarbeiten hätte sollen. Er musste sich merklich zurücknehmen. Gut, die Zwiebel musste fein geschnibbelt werden, die Sosse sollte sämig sein: Beim kochen ist alles ist besser als lokal Radio zu hören.
Na mal ehrlich, dass zur Unkenntlichmachung Namen und Alter geändert wird ist ja wohl nachvollziehbar und dass da alle gleich Unglaubwürdigkeit unterstellen ist ja lächerlich.
Die eigentlich spannende Frage ist doch, wieso es ein offentlich rechtlicher Sender für nötig hält, so einen quotenheischenden Gefühlsunsinn zu senden? Die haben doch das Privileg, bezahlt zu werden und dürften sich auch mal richtig sperrige Themen leisten.
Da dreht doch eine Autorin nicht einfach mal nen Film! Es gibt für jedes Stück eine(n) Redakteurin und einen Verantwortlichen Redaktionsleiter.Beide müssen den Film abnehmen. Davon ist bisher nicht die Rede. Dass es überhaupt so lange gedauert hat! Menschen hautnah produziert schon länger so: Emotionalisieren auf Teufel komm raus, der Quotendruck, unter dem die Sendung steht, macht es möglich.
Filme werden gezielt auch produziert, um an Wettbewerben teilzunehmen. An was und wen erinnert das? War da was?
Wo genau liegen jetzt die Scripted-Reality-Methoden? Ich sehe einen Kleindarsteller, der im Schnitt einmal pro Monat in irgendwelchen Serien/Filmen/Videos auftaucht, was ich durchaus als Hobby durchgehen lassen würde. Dazu ein paar falsche Jahreszahlen und eine nicht komplett transparente Unkenntlichmachung. Schlampig, ja. Aber Scripted-Reality-Betrug?
Und hat Übermedien solch tendenziöse Fragenzeichen-Überschriften wirklich nötig? Ich dachte, das sei etwas, was Ihr bei anderen Medien – zu recht – kritisiert.
Waren den WDR die Fakten aus dem letzten Absatz vorher nicht bekannt?
Wenn jemand ansonsten Soap-Dokus für die Trash-Kanäle dreht sollten schon die Alarmglocken schrillen und die Verantwortlichen sich ganz genau überlegen ob solche Leute die Richtigen sind um auf einmal ernsthafte Dokus für den ÖR zu liefern. Man kauft ja auch keinen von Fox News der danach die Tagesthemen moderieren darf. Die taugen höchstens für’s Trump’sche WH.
Naja, sehe hier auch bisher kein riesen Problem sondern eher schlampigkeit. Vor allem vorbildlich, wie transparent der WDR hier offenbar mit den Fehlern umgeht. Oder täuscht der Eindruck?
Bisher habe ich die Sendung „Menschen hautnah“ nur sporadisch, aber ohne Zweifel an der Glaubwürdigkeit verfolgt. Bei dem Beitrag zur Ehe ohne Liebe hab ich gedacht: Nicht besser als die von mir gemiedenen Dokus der Privatsender. Bin sauer und erwarte, dass die Verantwortlichen die Konsequenzen tragen müssen.
Was mich maßlos ärgert: mal wieder wird am Ende im WDR die freue Mitarbeiterin an den Pranger gestellt und gefeuert. Wer – bitte- hat denn die presserechtliche Verantwortung? Denn natürlich wusste die Redaktion über die praktizierte Methode, Protagonisten zu kaufen!
Da wird mal mit „Profis“ gearbeitet und schon wird schon wieder gemeckert!
Gute Storys mit Amateuren können hinhauen,müssen aber nicht,oder?!
Wiedermal ne Übung in der Überprüfung der (eignen?) Medienkompetenz…
Wenn das Ziel darin besteht, mit derartigen Beiträgen eine Reflektion beim Zuschauer auszulösen, indem er sich mit Wertefragen beschäftigt, an deren Ende vielleicht Erkenntnisse stehen, ist es fraglich, ob diese Fehler wirklich von Relevanz sind.
Wenn jemand vor einer derartigen Sendung schon der Meinung war, dass eine „Vernunftehe“ für ihn überhaupt nicht in Frage kommt und man nach der Sendung das immer noch so sieht, aber dazu erkennt, dass man das bei anderen Menschen mit anderen Lebenswelten nicht zu bewerten hat, dann ist das doch nicht schlecht. Welche Details der Geschichte, die zu solchen Einschätzungen führt, sich dann so zugetragen haben oder sich so zugetragen haben könnten, ist dann eher marginal.
„Welche Details der Geschichte, die zu solchen Einschätzungen führt, sich dann so zugetragen haben oder sich so zugetragen haben könnten, ist dann eher marginal“
Es geht hier nicht nur um Details, sondern um eine grundlegende Gaukelei. Es sollte immer einen Unterschied machen, ob eine Geschichte stattgefunden hat wie erzählt oder erfunden wurde.
„sich so zugetragen haben könnten“
Die Relotius-Geschichten hätten auch so stattfinden können. Wo also ist da das Problem?
Wenn ein Autor merkt mit den Protagonisten,die in seiner Doku auftreten klappt es nicht wg was auch immer (Deutsche Muttersprachler,die keinen Satz gradeaus rauskriegen,Aussprache,Wortwahl usw)
und Untertitelung den schlechten Eindruck nich verbessern kann…
Also Leute,die wie Öttinger oder Stoiber „deutsch“ sprechen oder soweit möglich schlimmer,
aber keiner Partei oder Lobbygruppe angehören,die unter Naturschutz ist!
nimmt der Dokumentarist Leute,die zu derartigen Fehlleistung nicht fähig sind…
Realität ist das was wir draus machen oder andere für uns?!
Mal ganz blöd gefragt, wenn reale Geschehnisse nachgespielt werden, aber das so gekennzeichnet wird (wie z.B. bei Aktenzeichen xy), wäre das Problem dann nicht gelöst? Man hätte nicht den Original-Originalton, die Tränen wären geschauspielert, aber die Abläufe, Tatsachen und z.B. die Argumente pro-und-kontra „Vernunftehe“ blieben ja erhalten.