Nicht ohne meinen Vater: Wie ein Obdachloser im Medienzirkus untergeht
Es ist eine rührende Geschichte, die vor gut einem Jahr fast überall kursierte, in Boulevard-Blättern, aber auch in seriöseren Medien; eine für viele Journalisten verlockende, weil menschelnde Erzählung, auch weil sie ausgerechnet an Weihnachten ihren Anfang nahm. Doch sie ist auch heikel, weil sie sich um einen Menschen dreht, der ungefragt und einigermaßen wehrlos Mittelpunkt dieser Erzählung wurde, die immer noch nicht vorüber ist. Im Gegenteil.
Ein junger Mann namens Norman, der sich „deinTherapeut“ nennt auf Twitter, sucht seinen Vater. Öffentlich. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2017 twittert er:
„Das hier fällt mir schwer, aber vielleicht kann Twitter helfen. Ich suche meinen Papa. Er ist obdachlos und soll in Hamburg leben. Sein körperlicher Zustand ist vermutlich äußerst schlecht.“
Er schreibt das zu einem Foto des Mannes, den er sucht, und bittet seine Follower um Hilfe: „Ein Retweet würde mir alles bedeuten. Danke!“
Der Tweet geht viral, und es dauert nur anderthalb Tage, bis Norman verkündet: „Wir haben ihn gefunden! Ich bin mir ganz sicher.“ Ein Mann habe sich bei ihm gemeldet, der dort arbeite, wo sein Vater schlafe. Norman jubelt.
Ein „Twitter-Märchen“ mit „Happy End“?
Einen Tag später nennt es der Schweizer Rundfunk ein „Twitter-Märchen“, viele Medien greifen dieses Märchen auf, und es dauert noch einen Monat, bis es zum vorläufigen und angeblichen „Happy End“ kommt: Vater und Sohn wieder vereint; Norman hat ein Foto davon, wie er seine Nase an die Mütze des bärtigen Mannes neben ihm drückt. Natürlich twittert er es: „Papa“, schreibt er über das Foto. Daneben ein Herz-Emoji. Quasi Hollywood in Hamburg.
Die Tweets dazu, viele Tweets, in denen Norman immer neue Details verrät, verbreiteten sich so stark, dass es der Account „deinTherapeut“ auf Platz 1 der „meist genannten deutsche Twitter-Nutzer“ im Jahr 2018 schafft, noch vor Jan Böhmermann. Und bereits im Januar dieses Jahres erhält Norman die Auszeichnung „Goldener Blogger“, Kategorie „Twitter-Account des Jahres“.
Seine Reichweite mag auch daher kommen, dass Norman polarisiert, nicht nur, aber gerade mit seiner Vater-Suche, die er im Internet dokumentiert: das Telefonat, der Flug, das Treffen, seine Gefühle. Wie sonst auch teilte er alles mit der Öffentlichkeit. Sein Motto: „Einfach mal alle Sorgen rauszwitschern.“
Kritik daran gab es von Anfang an, auch Zweifel, auch viel Häme und Hass. Sodass Norman, wie auch jetzt wieder, sein Twitter-Profil in den Modus „Privat“ umstellte. So können nur jene sehen, was er schreibt, die ihm folgen.
„Ich suche meinen Papa – erneut“
Nach dem Treffen ist Norman wieder zurück in die USA geflogen, wo er noch bis Anfang 2019 lebt, für zwei Jahre. Kontakt zu seinem Vater hat er offenbar keinen, jedenfalls nicht direkt. Denn kürzlich suchte er wieder nach ihm, und natürlich wieder via Twitter. Angeblich war „Papa“ nicht mehr dort anzutreffen, wo er sich sonst aufhält. Das hatte offenbar ein Bekannter erzählt. „Ich suche meinen Papa – erneut“, twitterte „deinTherapeut“ Mitte November.
Auch „Spiegel Online“ erzählt die Geschichte deshalb noch mal, mit vielen persönlichen Details. Es ist eine Familiengeschichte, also auch die Geschichte des Vaters, aber erzählt vom Sohn, wie immer. Es sei „seine Version der Vergangenheit“, schreibt „Spiegel Online“, und das ist das Problem dieser Geschichte, die viele Medien kitschbegeistert verbreiten: ihre Einseitigkeit.
Es gibt bislang keine Version des Vaters. Kein Journalist hat offenbar mit ihm gesprochen. Und es ist ungewiss, ob er überhaupt derart in die Öffentlichkeit treten möchte. Ob er will, dass sein Absturz ausgebreitet wird. Ob er es gut findet, wenn Medien wie „Spiegel Online“ einen Artikel mit Fotos von ihm illustriert, auch Fotos von damals: der junge Vater mit dem Sohn auf dem Arm.
„Warum zur Hölle ist das ne Nachricht???“
Die Bloggerin Robin Urban hat sich dazu – und zu anderen Problemen, die sie mit Norman hat – in Rage geschrieben. Sie findet es zum Beispiel bedenklich, dass er als „deinTherapeut“ unterwegs ist, manche auch glaubten, er sei einer, Norman aber nicht viel mehr vorrätig habe als Kalendersprüche und lauwarme Binsen. Er sei „die Helene Fischer der ‚Mental Health‘-Twitterer: simpel, oberflächlich, massenkompatibel, seicht – und leider sehr erfolgreich.“
In einem Discord-Chat, von Norman initiiert, setze er darauf, dass sich (oft minderjährige) User mit psychischen Problemen gegenseitig helfen, als so genannte „Helferlein“, und nebenan, in einem leicht zugänglichen Ab-18-Raum, teilten sie dann Fetisch-Bilder. Das alles findet die Bloggerin bedenklich.
Urban kritisiert auch jene Medien, die die Vater-Geschichte so aufbauschen; „Spiegel Online“ zum Beispiel, das die Story in „aller Genüsslichkeit“ breittrete, mitsamt einer „Klickstrecke privater Bilder“:
„Der Leser erfährt Details zum Verlust seines Arbeitsplatzes, seines Absturzes in die Alkoholsucht, seiner Obdachlosigkeit, seiner üblichen Aufenthaltsorte, seines strengen Körpergeruchs – und fragt sich unwillkürlich: Warum zur Hölle ist das ne Nachricht???“
Inzwischen hat auch „Spiegel Online“ das Problem erkannt, zumindest das mit den Fotos, und sie gelöscht, „weil wir nicht sicher sein können, ob der Abgebildete wirklich mit der Veröffentlichung einverstanden ist“, wie es unter dem Text nun heißt. „Dass wir die Fotos in den Text eingebunden haben, ist leider im Zuge der Veröffentlichung schiefgegangen“, sagt Oliver Trenkamp, geschäftsführender Redakteur bei „Spiegel Online“, auf Anfrage.
Dass er draußen lebt, ist sein Recht, er ist erwachsen
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn die Kritik, dass Norman reichlich Fotos von seinem Vater in Umlauf bringt, steht bereits im Text:
„Einige finden es nicht gut, dass Norman private Bilder teilt, dafür habe der Vater keine Zustimmung gegeben. ‚Es ist lebensfremd, sich darüber aufzuregen‘, sagt Norman. ‚Was soll ich denn machen? Besser twittern, als ihn da draußen zu lassen.'“
Richtig müsste es eigentlich heißen: Besser twittern und ihn da draußen lassen. Denn da ist der Vater ja nach wie vor: draußen, auf der Straße – und auf Twitter und in vielen Medien. Dass er draußen lebt, Hilfe angeblich ablehnt, ist sein Recht, er ist erwachsen. Und wäre es nicht auch sein Recht, dass er Fotos von sich freigibt oder verbietet? Und vielleicht auch, dass mal jemand seine Version der Vergangenheit anhört, statt ihn in die Medienmanege zu zerren?
Im Fall von „Spiegel Online“ sagt Oliver Trenkamp:
„Die Geschichte ist hart recherchiert, unsere Autorin war mehrere Tage vor Ort, um Normans Vater zu finden. Sie hat mit mehr als einem Dutzend Gesprächspartnern gesprochen. Den Vater selbst hat sie nicht aber nicht getroffen.“
Was dann die Ungewissheit zurücklässt, ob so eine Geschichte wirklich hart ist, wie man unter Journalisten sagt, also: solide ausrecherchiert. Sie hätten, so Trenkamp, „etwas über die Situation von Obdachlosen und deren Angehörigen“ erzählen wollen, und „im speziellen Fall eben auch etwas darüber, wie soziale Medien mittlerweile genutzt werden. Und darüber, wie die Grenze sich verschiebt zwischen privat und öffentlich.“ Was sich natürlich fluffiger liest, wenn man es mit vielen privaten Anekdoten und Fotos spickt. Bilder, die sich auch in anderen Texten finden, etwa im Online-Angebot der „Welt“.
Hat der Vater überhaupt zugestimmt – oder widersprochen?
Norman selbst behauptet wiederum auf Twitter, er habe sehr wohl das Einverständnis seines Vaters: „Sonst hätte ich den Vertrag nicht unterschreiben können“, twittert er und meint: den Vertrag für ein Buch.
So nämlich soll die Geschichte nun weitergehen. Im Frühjahr 2019 will sie der Verlag Droemer Knaur als Buch herausbringen, und womöglich erkennt auch noch jemand Potential für einen Kinofilm. Das Buch soll den Titel tragen: „’Ich suche meinen Papa… er ist obdachlos‘ – Wie ein Tweet die Lücke in meinem Leben füllte“. In der Ankündigung des Verlags heißt es:
„Die berührende Geschichte eines jungen Mannes, der über Twitter seinen obdachlosen Vater wiederfindet und ihm hilft, ein neues Leben zu beginnen.“
Norman erzähle „die ganze Geschichte“, es sei „ein berührendes Memoir einer Familiengeschichte, die ohne Social Media niemals zu einem Happy End geführt hätte“.
Schon das ist verwirrend. Ein „Happy End“: So nennt es auch die „Süddeutsche Zeitung“, die Norman offensichtlich vor kurzem in den USA traf, und die auch noch mal alles aus seiner Sicht erzählte. Aber ist es tatsächlich ein „Happy End“? Leben wieder alle in Eintracht? Ist der Vater nicht mehr obdachlos? Und inwieweit hat der Sohn ihm geholfen, „ein neues Leben zu beginnen“, wie der Verlag so romantisch schreibt – wenn dieser Vater weiterhin das alte lebt?
Der Verlag sagt dazu auf Anfrage von Übermedien, es handle sich ja um eine Vorankündigung zu einem Buch, das noch nicht erschienen sei. Was dort stehe, sei quasi das Ziel. Aber der Verlag hat Zweifel am Einverständnis des Vaters, jedenfalls was die Fotos betrifft. Eine Einwilligung liege nicht schriftlich vor, heißt es, deshalb werde man das Cover, auf dem das Foto vom Wiedersehen gezeigt werden sollte, nun noch mal ändern. Was die Einseitigkeit der Geschichte insgesamt betrifft, sagt auch der Verlag, es handle sich ja um Normans Geschichte. Ganz subjektiv. Rechtlich ist das unter Umständen schwierig.
Wie gehen der Verlag, wie gehen Medien nun damit um?
Norman hatte bereits (auf Twitter) eingeräumt, dass sich sein Vater teilweise nicht mehr erinnern kann, zum Beispiel an ein Telefonat, das die beiden führten, und er wisse auch nicht, welchen Monat wir haben, „so ist das nun mal“. Bloggerin Robin Urban stellt zu recht infrage, inwiefern der Vater überhaupt geschäftsfähig ist, also klaren Verstandes zum Beispiel eine Einverständniserklärung geben kann – oder ob diese nicht sowieso hinfällig wäre.
Betrachtet man das alles zusammen, stellt sich die Frage, ob Medien mit dieser Geschichte nicht viel, viel vorsichtiger umgehen sollten, auch wenn sie, gerade um Weihnachten, ganz prima passt. Müsste man einen obdachlosen Menschen, möglicherweise alkoholkrank, so heißt es, nicht eher schützen?
Auf Twitter schreibt jemand, der behauptet, den Vater zu kennen, dass dieser Mann weder mit der Veröffentlichung der Fotos einverstanden sei, noch damit, dass ein Buch über ihn erscheinen solle. Was stimmt? Auch der anonyme Freund twittert Fotos von Normans Vater, vermutlich um seine Bekanntschaft zu belegen. Aber gesetzt den Fall, der Vater widerspräche allem, der Geschichte, den Bildern – wie geht der Verlag, wie gehen Medien nun damit um?
Weder Norman noch der anonyme Freund des Vaters haben sich bisher auf Anfragen von Übermedien gemeldet.
Nachtrag, 20:43 Uhr. Auch die FAZ berichtet über Norman, seinen Vater und vor allem über den Discord-Channel, den „deinTherapeut“ betreibt. Der Zeitung gegenüber hat sich Norman auch ausführlich geäußert.
„[…] wie geht der Verlag, wie gehen Medien nun damit um?“ Ich würde vermuten mit neuen Artikeln, reichlich Klicks und einem weiteren Buch. BILD: „Jetzt spricht der Vater!!“
IST das überhaupt der Vater? Wenn er nicht mehr zurechnungsfähig ist, ist das möglicherweise auch nicht ohne weiteres feststellbar…
geil, Twitter muss hier als Realität herhalten.
Ein schwieriges Medium
„Betrachtet man das alles zusammen, stellt sich die Frage, ob Medien mit dieser Geschichte nicht viel, viel vorsichtiger umgehen sollten,“
Ich würde ja behaupten, dass Medien sich diese Frage bei Twitter-Themen grundsätzlich stellen sollten und das nicht nur bezüglich des Persönlichkeitsrechts, das von Übermedien hier (löblicherweise) für einen Obdachlosen einfordert wird.
Keine Ahnung, wie oft ich mich bei solchen Storys schon gefragt habe, ob die womöglich eine Form des Guerilla-Marketings sind. Die deprimierende Antwort, die mir dabei oft in den Sinn kommt: Vermutlich stellen sich Medien und Verlage diese Frage auch, bevor sie dann bewusst beschließen, auch davon profitieren zu wollen.
Der Modus „privat“ auf Twitter bedeutet ganz genau, daß nur die seine Tweets sehen können, die er als Follower z u l ä ß t. Die Formulierung im Artikel ist da etwas unscharf. Man muß eine „Followeranfrager stellen und nur wenn er sie positiv beantwortet, dann sieht man seine Tweets.
Sunnyboy, hübsches Zahnpastalächeln, „hat mal studiert“ (mit Abschluss ?) – warum dann nicht mal auf Twitter rauslassen was Klicks bringen könnte ?
Hat ja bisher gut funktioniert.
Als Filmstoff würde ich gerne diese Hintergrundgeschichte mit Protagonist, Medien, Followern, Verlagen etc pp sehen wollen und keine angerührte Fakestory ohne Ende.
Und dann die Medien, ja die Medien. Werden die beim Bescheissen oder Nicht-recherchieren erwischt liest man wieder blumige Entschuldigungen. Tut uns leid, ist durchgerutscht, trotz gewissenhafter Prüfungen passiert, bla bla. Danke und Aus. Morgen gibts dann die nächste Ente.
Und die beschweren sich das man die nicht mehr ernst nimmt oder ihnen nicht mehr blind vertraut ?
@6: Also besser vorsätzlich lügen und zu der Lüge stehen, wie Tichy, DonA, achgut, etc.?