Hasswort (20)

abtrünnige Provinz

Taiwan kommt selten in deutschen Medien vor – und wenn doch, dann oft im Zusammenhang mit Chinas Machtanspruch. Um zu erklären, wo das Problem eigentlich liegt, benutzen Journalisten gerne den Satz:

„China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz.“

Als sei damit der Taiwan-Konflikt auf den Punkt gebracht und alles Wichtige gesagt. Ist es aber nicht. Die Floskel von der „abtrünnigen Provinz“ ist sachlich falsch, unzulässig vereinfachend und moralisch fragwürdig.

„Abtrünnig“ ist zunächst einmal kein neutraler Begriff. Abtrünnige sind Vertragsbrecher, Verräter, sie sind schuldig. Suggerieren deutsche Medien also, die 23 Millionen Einwohner Taiwans seien selbst schuld daran, dass China sie permanent bedroht? Dass es sein Militär für eine mögliche Invasion ihrer Insel aufrüstet, ihren internationalen Spielraum beschränkt, ihre mühsam errungene Demokratie unterminiert?

Natürlich nicht, würde die Antwort wohl lauten. Wir geben nur Chinas Position wieder, und wir machen sie uns nicht zu eigen. Doch die ständige, nicht hinterfragte Wiederholung der „abtrünnigen Provinz“ sorgt dafür, dass dieses Etikett an Taiwan haften bleibt.

Der Irrsinn dabei: China selbst bezeichnet Taiwan überhaupt nicht als „abtrünnige Provinz“ – und hat es wohl auch nie. Offiziell nennt Peking Taiwan meist einen „unabtrennbaren Bestandteil Chinas“. Das bestätigte vor einigen Jahren auch ein damaliger dpa-Chinakorrespondent auf meine Nachfrage.

Nicht nur deutschsprachige Medien fixieren sich auf Taiwans „Abtrünnigkeit“, die ebenso verbreitete englische Entsprechung ist „renegade province“. Woher kommt das – vielleicht doch von China? Nein, bestätigten mir mehrere China- und Taiwanforscher. Einer recherchierte in der Nexis-Datenbank an und fand heraus, dass der Begriff in englischsprachigen Medien zum ersten Mal wohl in einem Bericht der „New York Times“ vom 22.8.1982 verwendet wurde – quasi der Ground Zero von Taiwans Abtrünnigkeit.

Die „renegade province“ oder „abtrünnige Provinz“ ist also wahrscheinlich eine Erfindung westlicher Medien, eine griffige Floskel, die sie selbst geprägt haben und nun permanent wiederkäuen – mit der vorgeschobenen Rechtfertigung, lediglich Chinas Position auf den Punkt zu bringen.

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) zum Beispiel verwendet den Begriff noch immer gern, und gibt damit den Ton vor. Wer mal in einer Nachrichtenredaktion gearbeitet hat, weiß, wie gern die Kollegen dort auf Formulierungen der Agenturen zurückgreifen, um sich so abzusichern – erst recht, wenn sich Formulierungen längst im Halbwissen eingenistet haben.

Dabei ergibt ein Blick in die Geschichte ein anderes Bild: Die Volksrepublik hatte auf Taiwan nie auch nur einen einzigen Tag das Sagen. Hätte jemand das Recht, der anderen Seite Abtrünnigkeit vorzuwerfen, wäre es streng genommen die Regierung in Taipeh. Der Staat, der heute noch Taiwan ist, heißt nämlich Republik China, hatte 1912 das Kaiserreich abgelöst und ist damit ein ganzes Stück älter als die Volksrepublik.

1949 gewann Mao den Bürgerkrieg. Die unterlegenen „Nationalchinesen“ zogen sich mit dem kompletten Staatsapparat dieser Republik China nach Taiwan zurück, das ihnen erst kurz zuvor, nach 50 Jahren japanischer Kolonialzeit, in den Schoß gefallen war, und führten sie dort weiter. Aus ihrer Sicht hatten sich also eher die Kommunisten abgespalten.

Dass diese Ironie der Geschichte heute für Taiwan keine Rolle mehr spielt, liegt daran, dass die meisten Menschen hier sich nach fast 70 Jahren Eigenständigkeit und mehr als 20 Jahren Demokratie selbst gar nicht mehr als Chinesen verstehen, was durch Langzeitumfragen belegt ist. Zwar steht auf ihrem Pass „Republik China“, und ihre Verfassung war mal für ganz China geschrieben worden – doch ändern können sie es nicht, denn genau das wäre für Peking eine „Unabhängigkeitserklärung“ und ein willkommener Vorwand, das Militär in Gang zu setzen.

Taiwans Situation ist also eine besonders komplizierte. Solche Hintergründe angemessen zu erklären, kostet mehr als nur einen Satz. Doch Platz und Zeit sind knapp. Davon zu reden oder zu schreiben, China betrachte Taiwan als „abtrünnige Provinz“, ist da extrem verführerisch. Er erspart, komplizierte Zusammenhänge aufzudröseln und lässt Leser oder Zuschauer glauben, gerade etwas Wesentliches verstanden zu haben. Die einen müssen es nicht besser machen, die anderen können es nicht besser wissen.

Eine ganze Kompanie chinesischer Propagandaexperten hätte sich keinen besseren Begriff ausdenken können. Wer Taiwan zur „abtrünnigen Provinz“ macht, spielt der Volksrepublik in die Hände und macht Taiwan implizit vom Opfer chinesischer Machtansprüche zum Schuldigen. Medien erledigen so Pekings Propaganda gleich mit – auf Kosten eines Staates, der mit Deutschland mehr Wertvorstellungen teilt als die Türkei, China oder Donald Trump.

Die Politik macht es übrigens nicht besser. Deutschland hat nicht nur, wie fast alle Länder, keine offiziellen diplomatischen Beziehungen mit Taiwan. Es fällt in seiner Taiwan-Politik auch hinter das zurück, was die USA seit Jahrzehnten praktizieren. Washington nimmt Pekings Anspruch auf Taiwan lediglich zur Kenntnis, akzeptierte ihn aber nie. Bundespräsident Steinmeier dagegen betonte 2008 als Außenminister, die deutsche Ein-China-Politik beinhalte „die Zugehörigkeit Tibets wie auch Taiwans zum chinesischen Territorium“.

Geplaatst door 蔡英文 Tsai Ing-wen op dinsdag 7 juni 2011

 

Für Taiwans Spitzenpolitiker, im Gegensatz zu den KP-Mandarinen in Peking demokratisch gewählt, gilt in der EU ein inoffizielles Einreiseverbot. Die heutige Präsidentin Tsai Ing-wen hatte 2011 Berlin besucht, Bundestagsabgeordnete getroffen und auch die Reichstagskuppel erklommen. Seit ihrem Amtsantritt könnte sie Deutschland – übrigens wieder anders als in den USA – nicht einmal mehr als Touristin betreten. Aufgeschrieben ist das wohl nirgendwo, doch Taiwans Diplomaten wissen genau, welche unsichtbaren Mauern China ihnen auch in Berlin in den Weg gebaut hat. Berichtet wird darüber selten.

So wie das vorauseilende Verständnis für Chinas Machtansprüche ist offenbar auch der Begriff von der „abtrünnigen Provinz“ nicht totzukriegen. Dass ihn viele verinnerlicht haben, merke ich in meiner eigenen Arbeit. Wer in meinen Artikeln danach sucht, wird fündig werden. Entweder ist es ein alter Text, und ich wusste es noch nicht besser – oder die Formulierung wurde nachträglich reinredigiert. Aber Taiwan hat dieses Etikett nicht verdient. Taiwan ist eine bedrohte Demokratie, eine Figur im Spiel der Großmächte – aber sicher keine „abtrünnige Provinz“ der Volksrepublik China.

16 Kommentare

  1. Man kann sich natürlich fragen, ob „abtrünnig“ wirklich ehrenrührig ist, wenn man sieht, wovon man abtrünnig ist.

    Jetzt sehe ich das Problem, aber auch die nächste Frage: Welche Formulierung wäre denn besser?

  2. @mycroft: Besser wäre zum Beispiel: „Die Volksrepublik erhebt Anspruch auf Taiwan und bezeichnet es als Teil ihres Staatsgebietes, obwohl sie die Insel nie kontrolliert hat.“

  3. @1 Mycroft
    „Eigenständige oder souveräne Republik China“ ist eine gute Formulierung.

    Vor allem wenn man sich die Gründung Taiwans anschaut, ist es fies von einer abtrünnigen Provinz zu sprechen.

  4. Eigentlich ist China zweigeteilt wie Korea und einstmals Vietnam – und wie einst Deutschland. Nur, dass der eine Teil riesengroß, der andere klein ist. Und, dass es dem großen Teil, einer pseudokommunistischen Diktatur, gelungen ist, eine Anerkennung des anderen Teils zu verhindern.

  5. Ja, als damaliger Bewohner des abtrünnigen DDR-Bezirkes NRW ist mir der Teilungsvergleich auch in den Sinn gekommen.
    Ich hielte „abtrünnig“ deshalb nicht für so das üble Schimpfwort. Ist es eigentlich falsch „Taiwan“ zu sagen, oder muss man es „tatsächlich demokratische Republik China“ nennen.

    Dass die VR China niemals Taiwan kontrolliert hat, ist nebenbei kein richtiges Argument. Vor der Wiedervereinigung hatte die BRD auch niemals Kontrolle über das Gebiet der DDR gehabt. Die Vorläuferstaaten zwar schon, aber genau DAMIT würde Festlandchina auch argumentieren.

  6. @4 Lars @5 Mycroft: Vergleiche mit dem geteilten Deutschland/Korea/Vietnam hinken leider sehr. Ein Grund: Dort hatten jeweils beide Teile zum Zeitpunkt der Aufspaltung eine lange Zeit der ungebrochenen Zugehörigkeit zum selben Staatswesen hinter sich.

    Taiwan dagegen war der Republik China erst 1945 zugefallen, nachdem es 50 Jahre japanische Kolonie war. Es wurde also lediglich 1945-49 vom Festland aus regiert, und das mit Methoden, die mehr an die militärische Besetzung von Feindesland erinnern (228-Massaker 1947).

    Ob Taiwan dabei überhaupt je völkerrechtlich wirksam der Republik China übertragen wurde, oder ob sein Status seit der japanischen Kapitulation eigentlich noch immer ungeklärt ist, darüber streiten die Gelehrten.

    Wenn es schon eine Analogie sein muss, vergleichen einige Taiwan/China mittlerweile eher mit Österreich/Deutschland: Sehr enge sprachliche und kulturelle Verbindungen, eine teilweise gemeinsam verlaufene Geschichte, aber es hat sich auch eine jeweils sehr spezifische Identität herausgebildet.

    Auch dieser Vergleich hinkt natürlich in vielerlei Hinsicht. Am besten sollte man solche Vergleiche also wohl ganz lassen.

    @Mycroft: Der offizielle Staatsname ist „Republik China“. „Taiwan“ wird umgangssprachlich von jedem benutzt, offiziell meistens nur in Klammern, wie auf der Website des Präsidialamts: https://www.president.gov.tw/

    In jüngster Zeit verwendet allerdings auch die Regierung „Taiwan“ manchmal synonym für den Staatsnamen. Das scheint eine Gegenreaktion auf den politischen Druck aus Peking zu sein: http://focustaiwan.tw/news/aipl/201805010013.aspx

  7. Jaaa, ich verstehe, aber wenn Österreich und Deutschland der bessere Vergleich ist, so möchte ich anführen, dass Österreich sich nie „Irgendwas Deutschland“ genannt hat. Oder ist Österreich in dem Vergleich Festlandchina?

    Aber gut, die Situation ist mit nichts anderem vergleichbar. Vor der japanischen Herrschaft war es mal eine Kolonie Chinas, und davor eine Kolonie diverser Europäer.

    Mal ganz doof gefragt, angenommen, nächste Woche oder irgendwann später wäre Festlandchina eine demokratische Republik im eigentlichen Sinne – würde die Bevölkerung der jetzigen Republik China Teil davon werden wollen, oder sieht sie sich inzwischen sowieso als eigenes Volk?

  8. @7 Mycroft: Nun, es gab mal eine ganze Weile das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, an dem Österreich nicht unbeteiligt war.
    https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Heiliges_R%C3%B6misches_Reich

    Und von 1938 bis 1945 war auch noch was… https://de.wikipedia.org/wiki/Alpen-_und_Donau-Reichsgaue

    Zur Frage „Was, wenn China plötzlich demokratisch würde und Taiwan nicht mehr bedroht?“ – auch das wurde gefragt, ich habe etwas von 2013 gefunden. Table 1 hier: https://www.brookings.edu/opinions/the-centrality-of-maintaining-the-status-quo-in-taiwan-elections/

    Unter diesen Umständen wären damals 44% für Vereinigung gewesen, 44% dagegen.

  9. @Klaus, besten Dank!

    Ok, ich präzisiere mich: Österreich nannte sich nie „irgendwas Deutschland“ oder was mit „deutsch“, nachdem es selbstständig wurde und sich seinen Namen alleine aussuchen durfte.

  10. Ihr habt natürlich alle recht, aber weil gerade Marx’ Geburtstag war, wollen wir doch mal die Klassenfrage stellen: wie egal wird es wohl den Menschen sein, die in der VR China für Foxconn die schönen Apfelgeräte herstellen, ob der Hauptsitz ihrer Firma im so sehr demokr. Taipeh oder doch eher im kommun. China liegt?

  11. Die Republik China erhebt in ähnlicher Weise Anspruch auf ganz China wie die Volksrepublik. Nicht mehr so offensiv wie vorher oder wie die VR, aber die Nachkriegs Status Quo wird auch nicht in dem Sinne anerkannt, dass man sich als eigenständigen Staat neben der VR sieht, zu dem nur das Territorium gehört, das man selbst kontrolliert. Das gilt weder bei den Beispielen Österreich, DDR zu Deutschland.

  12. @13 Mirco: „Nicht mehr so offensiv wie vorher“ ist schön ausgedrückt.

    De jure gilt für die Republik China in der Tat nach wie vor die Verfassung von 1947. Obwohl sie das Staatsgebiet nicht konkret definiert, ist klar, dass sie damals für ganz China geschrieben wurde.
    De facto erhebt seit den demokratischen Reformen Anfang der 90er keine von Taiwans wechselnden Regierungen mehr Anspruch auf das Gebiet der heutigen Volksrepublik. Die Verfassungsänderungen seitdem beziehen sich immer auf die „free area of the Republic of China“, also auf das tatsächlich von Taipeh kontrollierte Gebiet (Taiwan, Kinmen, Matsu).

    Warum die Taiwaner den historischen Ballast dieser Verfassung nicht längst komplett abgeworfen haben, hat wohl mehrere Gründe:
    – In den 90ern war eine chinesische Identität in der Bevölkerung noch weiter verbreitet als heute.
    – Das hat sich inzwischen zwar geändert (https://esc.nccu.edu.tw/course/news.php?Sn=166), aber die Volksrepublik könnte, wie im Text erwähnt, eine solche Verfassungsänderung als „Unabhängigkeitserklärung“ auffassen und als Vorwand für militärische Aggression. Auch für Taiwaner, die es gern ändern würden, gilt im Hinblick auf das System der Republik China derzeit also „mitgefangen – mitgehangen“.
    – Um den Status Quo zu stabilisieren und Veränderungen in beide Richtungen (Vereinigung/“Unabhängigkeit“) zu erschweren, hat man selbst einer Änderung des Staatsgebietes sehr hohe Hürden in den Weg gestellt. Artikel 4 der zusätzlichen Verfassungsartikel, beschlossen 1991 und zuletzt geändert 2005, bestimmt: Das Staatsgebiet der Republik China kann nur geändert werden, wenn 3/4 aller Abgeordneten und in einer Volksabstimmung 1/2 aller Wahlberechtigten zustimmen. (https://english.president.gov.tw/Page/95)

    (Aber was bedeutete 2005 „die existierenden Grenzen“? Einige interessante Ausführungen dazu: http://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2012/04/05/2003529528/1)

    Kurz gesagt: Auf dem Papier und in der Theorie mag die Verfassung der Republik China den Anspruch haben, für ganz China zu gelten. In der Realität spielt das für die Taiwaner und ihre Regierung längst keine Rolle mehr, sie können es aber auch kaum grundlegend ändern.

  13. @6 „Vergleiche mit dem geteilten Deutschland/Korea/Vietnam hinken leider sehr. Ein Grund: Dort hatten jeweils beide Teile zum Zeitpunkt der Aufspaltung eine lange Zeit der ungebrochenen Zugehörigkeit zum selben Staatswesen hinter sich.“

    Nun ja, für geignete Werte von „lange“ 1871-1945 ist jetzt weltgeschichtlich nicht wirklich ein langer Zeitraum.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.