Zukunftsvision

Wie die Ära der „Superinfluencer“ den Journalismus verändern wird

Der Vertrauensverlust in klassische Medien ist die Chance für journalistisch arbeitende Influencer. Sie werden künftig mehr Reichweite und Einfluss als Verlage entwickeln. Das bietet Chancen für den Journalismus – birgt allerdings auch ein ernsthaftes Risiko.
Screenshot: Bloomberg

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „20 Trends für 35 – Warum vieles besser wird, als Sie denken“. Darin identifizieren die Autoren Thomas Knüwer, Richard Gutjahr und Frank Horn aktuelle Entwicklungen und formen daraus mögliche Szenarien für das Jahr 2035.


15.000 Zuschauer. Die O2 Arena im Osten Londons ist ausverkauft. Die Zuschauer sind divers, tendenziell etwas älter, sie gönnen sich Bier und Burger, manche tragen T-Shirts mit den Gesichtern der beiden Stars, die an diesem Abend auf der kleinen Bühne in der Mitte der Halle ihre Großbritannien-Tour beenden. Preis für ein Ticket in der mittleren Kategorie: 91,25 Pfund.

Die beiden auf der Bühne heißen Rory Stewart und Alastair Campbell und werden nicht singen oder tanzen, kein Shakespeare rezitieren und nur in homöopathischen Mengen Witze reißen. Stattdessen reden sie über Politik. Stewart, ehemaliger Parlamentarier, und Campbell, Politikberater und einst Kommunikationschef von Premier Tony Blair, sind die Gastgeber von „The Rest is Politics“ (oder für die Fans TRIP), dem erfolgreichsten Politik-Podcast Großbritanniens.

Ein lukratives Format

Beide sind nicht immer einer Meinung, doch Extremismus, Wut oder Beleidigung gibt es nicht, stattdessen unterhaltsame Gespräche über die aktuelle Weltlage. Der „Economist“ nennt TRIP die „vernünftigste Show der Welt, eine surreale Mischung aus dem Fachchinesisch des Institute for Fiscal Studies, einer Denkfabrik, und dem Wirbel von World Wrestling Entertainment“.

Jede Folge wird 1,2 Millionen Mal heruntergeladen, hat auf YouTube über eine Million Views und der Podcast zählt nach Informationen des „Wall Street Journal“ 45.000 zahlende Abonnenten (Monatspreis: 3,49 Pfund), so dass Stewart und Campbell jeweils monatlich rund 80.000 Pfund verdienen sollten.

Wer noch daran verdient: die Produktionsfirma Goalhanger Productions. Komischer Name? Liegt an ihrem Gründer: Gary Lineker war einst einer der besten Stürmer im weltweiten Fußball. Sein Fußball-Podcast „The Rest is Football“ war der Ausgangspunkt, inzwischen produziert Goalhanger acht der Top 20-Podcasts in Großbritannien.

Menschen wollen verstanden werden

Damit steht Lineker für den Beginn eines radikalen Wandels in der Informationsbeschaffung von Menschen: weg von Medien- und hin zu Personenmarken, den Superinfluencern.

Sie sind die logische Folge eines rasanten Vertrauensverlustes klassischer Medien. Die wichtigste Studie zu Vertrauen weltweit ist das Edelman Trust Barometer. Im vergangenen Jahr sagten 75 % der dazu Befragten, dass sie Angst haben, von Journalisten und Medien bewusst angelogen zu werden – 11 Prozentpunkte mehr als 2021. Nur 44 % der Antwortgebenden in Deutschland vertrauen Medien. Wie ließe sich Vertrauen zurückgewinnen? Rund 65 % sagen: indem jemand ihre Nöte und Wünsche versteht.

Das aber kann nur durch Kommunikation passieren und der verschließen sich Medienhäuser. Kommentare unter Artikeln im Netz sind meist nicht mehr möglich, im Social Web reagieren Redaktionen selten auf das, was Leser unter Artikeln schreiben, zahlreiche Journalisten sind nicht mal im digitalen Raum präsent, Chefredakteure beschränken sich meist auf Newsletter, bei denen Leserkommentare schon technisch ausgeschlossen sind.

Eine neue Generation nutzt die Lücken, die Medien hinterlassen

In diese Lücke stößt eine neue Generation von Influencern. Sie werden auch als Creator bezeichnet, weil Influencer gleichgesetzt werden mit jungen, sportlichen und bestens gekleideten Menschen, die ihr scheinbar schönes Leben in Selfies abbilden. Dieses Vorurteil blendete schon immer einen großen Teil der Internet-Kreativen aus.

Influencer füllen oft Lücken, die sie selbst sehen. Beispiel: Esra Karakaya. Die Journalistin produziert unter der Marke „Karakaya Talks“ im Social Web Journalismus mit Themen, die für eine junge Zielgruppe mit Migrationshintergrund interessant sind – ihre TikToks erreichen regelmäßig mittlere, sechsstellige Abrufzahlen.

Oder „Lage der Nation“. Der Podcast mit gut recherchierten und unaufgeregten Gesprächen über aktuelle Politik erreicht mittlere sechsstellige Abrufe pro Ausgabe, beschäftigt neben den Moderatoren ein halbes Dutzend Mitarbeiter. Mitgründer Ulf Buermeyer ist längst Dauergast in Polit-Talkshows. In Banken dagegen steht das Blog-Newsletter-Modell „Finanzszene.de“ im Ansehen auf Augenhöhe mit angestammten Wirtschaftsmedien – und manchmal darüber.

Durch Offenheit entsteht Vertrauen

Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Umwelt, Kultur, Gesellschaft, Stricken oder Wein: Für alles, was für Menschen von Belang ist, finden sich andere, die kundiger darüber berichten als Redakteure, die immer seltener klare Fachgebiete haben. Und gleichzeitig gehören die Neulinge zur Zielgruppe, verstehen diese besser, sind offen für Kommunikation und weitaus transparenter, wenn es um Fehler oder Voreingenommenheit geht.

Und so entsteht Vertrauen. Das erkennt auch Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner. Im Januar 2025 sagte er im „OMR Podcast“: „Jeder YouTuber, jeder Podcaster ist ein potenzieller Medienmogul der Zukunft … Vertrauen ist das Entscheidende.“

Dieses Vertrauen erwerben die Newcomer durch Transparenz. Sie sind ansprechbar, legen ihre Quellen offen und wenn sie werben, dann nur für Produkte, die zu ihnen passen und zuvor zumindest einer basalen Prüfung unterzogen wurden.

Einflussreicher als klassische Medien

Mit der Kombination aus Vertrauen und Reichweite wächst der Einfluss. Wie weit das gehen kann, zeigte die US-Wahl 2024. Donald Trump verzeichnete den größten Stimmenzuwachs bei Männern unter 30 – eigentlich eine demokratische Klientel, aber eben auch die Kernzielgruppe für YouTuber und Podcaster wie dem Demokratiegegner Joe Rogan, Interview-Podcaster Lex Fridman oder dem rechtsradikalen YouTube-Format „NELK“.

Bloomberg analysierte im Januar 2025 über 2.000 Shows und zeichnete unter der Überschrift „The Second Trump Presidency, Brought to You by YouTubers” nach, wie selbst unpolitische Formate Werbung für Trump betrieben und so die Einstellung der jungen Männer verschoben.

Die Finanzierung bleibt der Haken

Um viele der neuen Kanäle und Macher entsteht eine Community, die sich aktivieren lässt, auch wenn es in andere Themenbereiche geht. Beispiel: Diana zur Löwen. Sie begann als Mode-YouTuberin und wechselte dann zu Lebenshilfethemen, befeuerte die Lust auf Gründungen, postete über Altersvorsorge und interviewte Politiker. Weil sie sich dabei insgesamt treu blieb, ging ihre Community all dies mit, obwohl es mehrere Kommunikationskrisen gab.

Noch aber gibt es einen Haken: die Finanzierung. Viele der Angebote setzen auf Unterstützerabos, ihre Inhalte sind weitestgehend frei erhältlich, die Anhänger zahlen aber trotzdem monatliche Summen. Reine Abo-Modelle haben den Nachteil, dass kaum neue Nutzer hinzukommen – sie wissen meist nicht, was sie erwartet. Und Werbevermarkter gibt es zwar, doch sie fokussieren sich in der Regel auf die großen Namen. So können viele der neuen Influencer zwar von ihrer Arbeit leben, oft aber ist auch Selbstausbeutung im Spiel.


Vision 2035

Die Superinfluencer haben die Nachrichtenzyklen übernommen. Wenn Politiker oder Unternehmen eine wichtige Botschaft senden wollen, sind Podcaster, YouTuber, Twitcher oder Blogger die erste Priorität für ihre Kommunikationsabteilungen. Die klassischen Medien dienen Superinfluencern dabei noch als Vertriebsinstrument, ihre Personenmarken sind so stark, dass sie Talkshowgäste und Buchbestsellerlisten dominieren.

Der Grund des Erfolgs ist vor allem Vertrauen. Superinfluencer kommunizieren viel und transparent mit ihrer Kundschaft. Manche bieten sogar eine Art „Journalism-as-a-service“: Sie setzen regelmäßig Themen um, die ihnen Menschen aus der Gemeinschaft vorschlagen. Das kann Lokalpolitik sein, Wirtschaftserklärungen oder historische Debatten, ja sogar die Beantwortung der Frage, warum ein Herzensmensch einen verlassen hat. Bei solchen Themen entsteht das, was Medienwissenschaftler „Trust-Loop-Media“ nennen: Die Konsumenten der Medieninhalte recherchieren und diskutieren mit, was nachweislich die Richtigkeit der Informationen und die Bindung an den Influencer steigert.

Mischung aus Journalismus und Reality-Show

Noch attraktiver werden die Superinfluencer durch eine Meta-Ebene. Denn die Digitalkreativen transformieren selbst zu Medienhäusern mit wachsenden Strukturen und Prozessen. Dabei schließen sie sich auch zusammen, manchmal dauerhaft, manchmal temporär, manchmal zerstreiten sich Partner auch wieder.

Über all das berichten sie auf ihren Kanälen und werden so zu einer Mischung aus Journalismus und Reality-Show. Die Fan-Gemeinde ist nicht nur bereit, Inhalte zu abonnieren, Live-Events zu besuchen oder Merchandising zu erwerben. Mit Creator Funds kann sie sich am wirtschaftlichen Erfolg beteiligen: Die Fonds investieren im Stil von Venture Capital in die Firmen der Superinfluencer. Und weil Fans geduldiger sind als klassische Investoren, können sich die Influencer Zeit lassen, ihr Geschäft zu entwickeln.

In den USA bahnt sich schon der nächste Schritt an. Mr. Beast, der schon 2025 über 400  Millionen YouTube-Abonnenten zählte, will als unabhängiger Kandidat bei den US-Präsidentschaftswahlen 2036 antreten – seine freundliche Art und politische Unabhängigkeit machen ihn zur wohltuenden Alternative. Kein Wunder, dass viele Medienberichte von der „5. Macht” sprechen, also einem Einflussfaktor der Gesellschaft neben Legislative, Judikative, Exekutive und Massenmedien.

Das Risiko für den Investigativjournalismus

Gesellschaftlich birgt der Aufstieg der Superinfluencer aber ein Problem: Der Anteil von Investigativjournalismus sinkt signifikant. Die klassischen Medienhäuser haben dafür immer weniger Geld. Und die Superinfluencer haben ihre Stärke in der Analyse, Kommentierung und Interviewführung, weniger in der tiefen Recherche, die jahrelangen Aufbau von Beziehungen erfordert.

Medienhäuser haben zu spät auf die Entwicklung reagiert, doch langsam beginnen sie ihre Transformation. Bisher galt: Journalisten, die sich einen Namen machen wollen, haben sie aus der Angst heraus gebremst, dass diese gehen, wenn sie zu viel Bekanntheit entwickeln. Also bremsten sie – und die Mitarbeiter gingen.

Doch immer stärker wurde klar, dass Superinfluencer mit ihren Abo-Angeboten zur gefährlichen Konkurrenz wurden und man gemeinsam um das begrenzte Medienbudget der Verbraucher kämpfte. Influencer aber haben eine geringere Kostenbasis und können deshalb stärker auf ihren Preisen beharren. Die Verlage brauchen Cash-Zufluss und haben nicht die Bindungskraft der Superinfluencer – deshalb sind sie auf Preisaktionen angewiesen.

Eine App wird zur Anlaufstelle für Journalisten

Und auch hier machen die USA eine neue Dimension auf: Die Journalistin Kara Swisher, weltweit bekannt und zur Multimillionärin geworden durch ihren Podcast mit Marketing-Prof. Scott Galloway, übernimmt die „Washington Post” von Jeff Bezos, der immer mehr die Lust an seinem Medienspielzeug verloren hat. Swisher wird Herausgeberin und die „Post” zum neuen Traumarbeitgeber ambitionierter Journalisten.

Die von Medienkonzernen abgebauten Redakteure haben eine Anlaufstelle: Die App „Noosphere“ feiert ihren 10. Geburtstag und ist zur wichtigen Einnahmequelle von Journalisten geworden, die nicht extrovertiert genug sind, um ihre eigene Marke aufzubauen. Abonnenten von „Noosphere“ zahlen einen monatlichen Betrag und bekommen so tiktokartige Berichte vor allem aus den Bereichen, die früher von Auslandskorrespondenten abgedeckt wurden.

Ein Mittel gegen den Umsatzverfall?

Erst rund um die Jahrzehntwende setzen die Medienhäuser auf ihre stärksten Köpfe und rücken diese bei Werbemaßnahmen in den Mittelpunkt. Gleichzeitig hat eine Acquire Hire-Welle eingesetzt: Medienhäuser kaufen sich Influencer-Talente ein, bevor sie groß werden. Diesen bieten sie Reichweite, aber – noch viel wichtiger – Strukturen in Gestalt von Personal und Werbevermarktung.

2035 zeichnet sich langsam ab, dass die Verlage und Sender damit nach langer Zeit wieder ein Mittel gefunden haben, um den Umsatzverfall zu bremsen und nachhaltig zu wachsen.

3 Kommentare

  1. Die Journalistin Kara Swisher, weltweit bekannt und zur Multimillionärin geworden durch ihren Podcast mit Marketing-Prof. Scott Galloway, übernimmt die „Washington Post” von Jeff Bezos, der immer mehr die Lust an seinem Medienspielzeug verloren hat. Swisher wird Herausgeberin und die „Post” zum neuen Traumarbeitgeber ambitionierter Journalisten.

    habe ich etwas verpasst? Frau Swisher hat zwar Interesse an der WaPo gezeigt, aber Eigentümer Bezos keinem am Verkauf – in Gegenteil wird die Post gerade politisch entlang Bezos‘ neuen politischen Präferenzen umgebaut.

  2. @freiwild:
    Das Ganze ist ein Zukunftsszenario für 2035… ob Kara Swisher mit Mitte 70 noch Herausgeberin einer Zeitung werden will und ob es die Washington Post dann noch gibt, ist ja generell fraglich.

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