Vor über 30 Jahren erfanden Kriegsverbrecher den Kampfbegriff „ethnische Säuberung“. Heute taucht der Ausdruck im Zusammenhang mit Gaza wieder überall auf – mit gefährlichen Folgen.
Der Begriff ist wieder in aller Munde. Alle wollen über Gaza sprechen, aber keiner über Genozid. Übrig bleibt ein Ausdruck – erfunden, um Mord nach Ordnung klingen zu lassen: „ethnische Säuberung“.
Politiker, Journalisten und sogar die Vereinten Nationen verwenden ihn. Woher der Begriff stammt? Vom serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Milošević, der mit nur zwei Wörtern die wohl erfolgreichste Genozid-Propaganda der vergangenen Jahrzehnte erfunden hat.
Hasswort
Es gibt präzise und poetische, wichtige und wunderbare Wörter. In dieser Rubrik geht es um die anderen: Begriffe, die überflüssig, irreführend oder einfach nur nervig sind – und trotzdem ständig in Medien auftauchen. Auf welche Wörter unsere Gastautor:innen schon geschimpft haben, können Sie hier nachlesen.
Für den Begriff finden sich zahlreiche Definitionen. Meistens wird er verwendet, um Zwangsvertreibung oder Vernichtung zu beschreiben. Gerade weil er so häufig von offiziellen Stellen, Hilfsorganisationen und der Politik genutzt wird, entsteht leicht der Eindruck, es handle sich um einen juristischen Terminus.
Dabei gibt es weder eine rechtliche Definition, noch findet sich der Begriff in Gesetzen. „Ethnische Säuberung“ ist im Völkerrecht nicht verankert. Genau genommen ist es nicht mal ein Verbrechen. Es wurde noch nie jemand deswegen angeklagt.
Das Unwort ist zurück
Trotzdem steht der Begriff in großen Medien. In einem Beitrag der „Tagesschau“ heißt es: „Rechtsexperten sprechen von Vertreibung und ethnischer Säuberung.“ „Der Freitag“ titelt: „Ethnische Säuberung in Gaza, politische Säuberung in Israel“. Und im „Spiegel“ fordert ein Gastautor, man solle „ethnische Säuberung“ endlich „beim Namen“ nennen – ja, das schreibt er wortwörtlich so. Auch wenn der Begriff in Anführungszeichen steht, historisch eingeordnet wird er nicht.
Die Daten bestätigen, was sich längst beobachten lässt. Laut dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache wird der Begriff 2025 wieder häufiger in Zeitungsartikeln verwendet als in den Jahren zuvor. Den bisherigen Höchstwert erreichte er 1993. Ein Jahr zuvor wurde er zum Unwort des Jahres erklärt, auch weil laut Jury „zahlreiche deutsche Medien diese Propagandaformel in ihrer Übersetzung ohne jede kritische Distanz weiterverwendeten“.
Als „ethnische Säuberung“ zum ersten Mal in den Medien auftauchte, stand der Ausdruck in Gänsefüßchen – damals, weil serbische Nationalisten zitiert wurden. 30 Jahre später ist der Ausdruck geblieben – das Wissen darüber, woher er stammt, nicht.
Entmenschlichung – nicht nur in Worten
In Deutschland hält sich die Vorstellung, der bosnische Genozid beschränke sich auf Srebrenica – auf den 11. Juli 1995, an dem mehr als 8.372 Menschen von lokalen serbischen Kollaborateuren ermordet wurden. Es ist der Aufklärungsarbeit weniger deutschsprachiger Medienschaffender wie Melina Borčak zu verdanken, dass dieses Narrativ überhaupt hinterfragt wird.
Sie hat unter anderem darüber geschrieben, dass die serbische Nationalistin Biljana Plavšić Bosniaken – eine ethnische Gruppe mit muslimischem Hintergrund – damals als „genetisch entstelltes Material“ bezeichnete. Ihre Genetik sollte durch systematische Zwangsschwängerung „gesäubert“ werden. Mädchen und Frauen wurden in sogenannten „Vergewaltigungslagern“ festgehalten, um serbische Kinder zu gebären.
Die „Säuberung“ zeigte sich in vielen Formen – durch Aushungern, Vertreibung, Mord und mehr. In Manjača zum Beispiel wurde eine ehemalige Tierfarm zur Tötung von Menschen umfunktioniert. Die Entmenschlichung fand nicht nur in der Sprache, sondern auch in der Praxis statt.
Auch wenn der Begriff der „ethnischen Säuberung“ im bosnischen Genozid seinen Ursprung hat, beschränkt er sich nicht darauf. Tatsächlich war auch im Darfur-Genozid die Rede davon, ganze Regionen zu „säubern“. Ähnliches ist heute in Gaza zu beobachten, wo Israels Finanzminister, Bezalel Smotrich, öffentlich erklärte: „Jetzt erobern wir, säubern und bleiben – bis die Hamas vernichtet ist.“
Von Anfang an ein Kampfbegriff
„Ethnische Säuberung“ impliziert rhetorisch, dass es sich bei den Opfern nicht um Menschen, sondern um „Schmutz“ handelt. Anstatt zu benennen, dass man Menschen vergewaltigen, ermorden, vertreiben und verhungern lassen will, fassen die Täter all diese Taten unter einem anderen, positiven Wort zusammen: „säubern“. Es ist ein brutaler Euphemismus – eine sprachliche Strategie, um Verbrechen zu verharmlosen.
„Ethnische Säuberung“ klingt nicht nur harmloser. Artikel 1 der Völkermordkonvention verpflichtet dazu, Genozid zu verhindern – nicht „ethnische Säuberung“. Der Begriff nimmt dem Anliegen seine Dringlichkeit und rechtliche Verbindlichkeit. Das kommt vor allem den Unterzeichnerstaaten gelegen, die meist nicht annähernd genug tun, um ihrer Verpflichtung nachzukommen.
Benennung als „Genozid“ löst Reaktionen aus
Schon vor Jahren kritisiert hat den Begriff der Völkermordforscher Gregory Stanton, Gründer der Organisation Genocide Watch. Er zeigte in einer Studie 2007: Die Benennung als „Genozid“ kann konkrete politische und militärische Reaktionen auslösen – doch oft kommt sie zu spät. In Ruanda erkannte die internationale Gemeinschaft den Genozid erst, als bereits rund 800.000 Menschen ermordet worden waren. In Bosnien wurde der Genozid von Srebrenica erst nachträglich als solcher bezeichnet – kurz darauf folgte die Nato-Intervention. Auch im Kosovo griff die internationale Gemeinschaft erst ein, nachdem US-Beamte öffentlich von „Hinweisen auf Genozid“ sprachen.
Diese Beispiele zeigen, dass die Wortwahl einen Unterschied machen kann. Doch garantiert ist das nicht. In Darfur wurde 2004 zwar offiziell von einem Genozid gesprochen, unter anderem durch US-Außenminister Colin Powell. Er stellte jedoch zugleich klar, dass diese Feststellung „keine neuen Maßnahmen“ nach sich ziehen werde. Konkretes Handeln blieb aus – auch, weil sich die Vereinten Nationen weigerten, den Begriff zu übernehmen.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Formulierungen wie „ethnische Säuberung“ verzögern nicht nur die Anerkennung eines Völkermords, sie tragen aktiv zur Verharmlosung bei. Wer diesen Begriff verwendet, kaschiert, beschönigt – und trägt damit letztendlich zur Genozidleugnung bei.
Wer einen Genozid begeht, begeht dabei gleichzeitig auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Taten richten sich nicht nur gegen ein bestimmtes Volk, sondern gegen das Menschsein selbst. Und genau deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung, sie zu benennen, sichtbar zu machen und zu verhindern.
Die Autorin
Foto: privat
Zehra Uslubas studiert im Masterstudiengang Journalismus an der Westfälischen Hochschule. Sie beschäftigt sich besonders mit Rassismus, internationalen Krisen und Medienethik. Außerdem arbeitet sie an Schulen, um über Fake News aufzuklären und die Medienkompetenz von Jugendlichen zu stärken. Sie engagiert sich für Fragen der Diversität und interkulturellen Austausch.
14 Kommentare
Danke für den Beitrag! Das klang für mich immer schon ein bisschen verharmlosend und seltsam klinisch. Aber das die Tagesschau da so ganz unreflektiert solche Propagandabegriffe benutzt ist schon eigentlich ein Skandal.
Volle Zustimmung! Diese niederträchtige Formulierung gehört auf den Müllhaufen! Danke für den Beitrag.
(Und wenn wir schon dabei sind: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ist niedlich – irgendwie wird da eine zarte Idee von Menschlichkeit verletzt – und sprachlich schlimm. „crime against humanity“ lässt sich sinnvoller übersetzen mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ – und damit wird dann auch das Opfer des Verbrechens klarer. Aber dieser Sprachkampf ist wohl schon lange verloren. Stößt mir aber immer wieder auf.)
Ich stimme etwas skeptisch eher nicht zu. Für mich schwingt bei dem Begriff immer überheblicher Rassismus mit, er hallt stärker in mir nach als Genozid, was für mich klinischer klingt. Da würde mich interessieren, inwieweit hier eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat… wenn zB die Tagesschau den Begriff verwendet, wie argumentiert sie das?
Aber ich bin zögerlich, weil es auch sehr gut möglich ist, dass tatsächlich Genozid vermieden werden soll. Dann passt die Kritik natürlich voll.
Ich sehe das ähnlich wie #3. Der Begriff wurde wie Sie schreiben ursprünglich gewählt weil er positive Assoziationen auslösen soll. Aber die beschönigende Wirkung hat er mMn längst verloren. Jeder denkt direkt an die schlimmsten Verbrechen, die die Menschheit begangen hat weil der Begriff nur in diesem Zusammenhang verwendet wird. Und es werden die rassistischen Motive der Täter hervorgehoben. Werden Aussagen wie die von Smotrich nicht auch einfacher durchschaubar, weil ethnische Säuberung ein bekannter Begriff ist?
Das ist die Wirkung des Begriffs auf mich persönlich. Was die völkerrechtliche Dimension angeht will ich aber auch nicht widersprechen.
Wie unter anderem ein einfacher Blick in die Wikipedia gezeigt hätte, stimmt an diesem Artikel leider vieles nicht:
Schon interessant, dass eine vermeintliche Medienkritik derart viele unbelegte, schlecht recherchierte und schlicht falsche Behauptungen enthält und für die vermeintliche Urheberschaft Milosevics noch nicht mal eine Quelle nennt.
An #5:
Wikipedia ist für uns keine journalistische Quelle für Faktenchecks, sondern höchstens Ausgangspunkt für die Recherche. Der deutsche und englische Wikipedia-Beitrag zum Thema unterscheiden sich zum Teil in ihren Inhalten. Unstrittig ist, dass der Begriff „ethnische Säuberung“ im Kontext der Jugoslawien-Kriege weithin bekannt wurde.
Zu 1: Quelle für die Erfindung durch Milosevic ist dieser Aufsatz des Genozidforschers und – aktivisten Gregory Stanton aus dem Jahr 2023: https://publuu.com/flip-book/943590/2071007
Zu 2 : Dass die UN den Begriff selbst verwenden, steht im ersten Abschnitt unseres Textes. Eine Erwähnung in einer Resolution oder auf einer Webseite macht den Begriff nicht zum Teil des Völkerrechts. Auf der von dir verlinkten UN-Seite schreiben die UN selbst, dass es keine offizielle Definition für den Tatbestand „ethnische Säuberung“ gibt.
Zu 3: Danke für den Hinweis auf die früheren Erwähnungen in Medien, die wir nicht gefunden haben. Unsere Quelle für die erste Erwähnung durch die „New York Times“ im Jahr 1992 war der bereits erwähnte Aufsatz.
Bisschen hin- und hergerissen bin ich schon: einerseits verstehe ich das Argument, aber andererseits verwendet (oder versteht) doch niemand „ethnische Säuberung“ positiv, oder?
Nun, vielleicht liegt eben doch ein Bedeutungsunterschied vor -zumindest im Verständnis vieler Empfänger der Botschaft:
Genozid – VERNICHTUNG eines Volkes
enthnische Säuberung VETREIBUNG eines Volkes (die [meisten] Angehörigen dieses Volkes könnten danach noch mit ihrem Leben davongekommen sein.
Ich denke, wenn Netanjahu tatsächlich einen Genozid im Sinn hätte, wären die Opferzahlen noch weit höher. Was wir sehen, sind Kriegsverbrechen und der Plan einer „ethnischen Säuberung“ von Gaza und dem Westjordanland.
Einen treffenderen Begriff für dieses Verbrechen kenne ich nicht. Gerade die scheinbare Harmlosigkeit der Formulierung macht deutlich, wie scharfsinnig Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ beschrieben hat.
Auch vor der Wannsee-Konferenz wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, den Ausdruck „Endlösung“ mit einem derartigen Zivilisationsbruch, mit einer solchen Singularität zu verbinden. Es ist seine Profanität im eigentlichen Wortsinn, die ihn zum Inbegriff des Grauens macht.
Wenn es um „Vertreibung“ ginge, könnte man es ja auch einfach so nennen. Ich denke bei „Ethnische Säuberung“ sofort an massive Gräueltaten wie die von Srebrenica. Offenbar läuft das oft so ab, dass Euphemismen nach und nach die Bedeutungen annehmen, die ursprünglich durch sie verschleiert werden sollten. Der Begriff „Konzentrationslager“ ist von der ursprünglichen Wortbedeutung auch unverfänglich, löst aber inzwischen doch bei den meisten sofortiges Unbehagen aus. Das heißt aber nicht, dass man deshalb nun unreflektiert diese Begriffe übernehmen sollte. Was die „Ethnischen Säuberungen“ angeht, bin ich da voll und ganz der Meinung der Autorin. Verharmlosend finde ich persönlich ihn nicht, aber absolut unangebracht. Wer professionell mit Sprache umgeht, sollte ihn so nicht verwenden.
@#7 Ich halte den Begriff Säuberung durchaus für verharmlosend. Ich erinnere mich daran, dass mir vor viele Jahren die Meldung eines Kreisjugendrings unterkam, der zu einer Säuberungsaktion auf dem jüdischen Friedhof aufrief, was ich als sehr makaber empfand. Aber auch sonst finde ich es unangebracht, wenn Putzaktionen als Säuberungsaktionen bezeichnet werden, was immer wieder geschieht. Vor diesem Hintergrund empfinde ich den Begriff „ethnische Säuberung“ als verharmlosend.
Fragt irgendwer mal zur Betrachtung der Situation nach der der Juden im Gebiet?
Land oder Gebiet jüdische Bevölkerung 1948 jüdische Bevölkerung heute
Maghreb insgesamt 475.000–548.000 5.000–5.200
Irak 135.000–140.000 4–250 (2022)
Ägypten 75.000–80.000 6–10 (2021)
Jemen und Aden 53.000–63.000 7 (2021)
Säkulare, humanistische Betrachtung hilft manchmal zum Verständnis!
Vielleicht das Recht meiner in dem Vergleichsrahmen späten Geburt: ich hab den Ausdruck auch mit diesem Wort von Anfang an als etwas Grundfalsches und Schlechtes einsortiert.
Ganz einfach, weil ja auch die Nazis die Metapher von „Sauberkeit“ bezogen auf Ethnien angewandt haben.
Natürlich ist der Ausdruck in sich abwertend und feindselig, denn man bezeichnet ja eine Gruppe nach ethnischen Kriterien als „unsauber“.
Dennoch hinkt hier auch der Vergleich: es handelt sich nicht um eine gezielte Aktion, eine bestimmte Ethnie in einer Region auszulöschen, so wie das Mladic tatsächlich umgesetzt hat.
Die Bosnier, auch nicht ein in der Bevölkerung weithin bejubelter Teil, sind zudem nicht vorher nach Serbien eingefallen und haben auf grausamste Art gemordet, gefoltert und Menschen bis heute entführt.
„—vor viele Jahren die Meldung eines Kreisjugendrings unterkam, der zu einer Säuberungsaktion auf dem jüdischen Friedhof aufrief, was ich als sehr makaber empfand…“
Du hast recht, das klingt wirklich unpassend in dem Zusammenhang. Weil der Begriff sich da schon etabliert hat.
Er wurde allerdings nicht von Milosevic erfunden. Schon vorher gab es bei Machtwechseln im Sozialismus oft „Säuberungsaktionen“, womit die Beseitigung der Strukturen von Vorgängern und Rivalen gemeint war.
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Danke für den Beitrag! Das klang für mich immer schon ein bisschen verharmlosend und seltsam klinisch. Aber das die Tagesschau da so ganz unreflektiert solche Propagandabegriffe benutzt ist schon eigentlich ein Skandal.
Volle Zustimmung! Diese niederträchtige Formulierung gehört auf den Müllhaufen! Danke für den Beitrag.
(Und wenn wir schon dabei sind: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ist niedlich – irgendwie wird da eine zarte Idee von Menschlichkeit verletzt – und sprachlich schlimm. „crime against humanity“ lässt sich sinnvoller übersetzen mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ – und damit wird dann auch das Opfer des Verbrechens klarer. Aber dieser Sprachkampf ist wohl schon lange verloren. Stößt mir aber immer wieder auf.)
Ich stimme etwas skeptisch eher nicht zu. Für mich schwingt bei dem Begriff immer überheblicher Rassismus mit, er hallt stärker in mir nach als Genozid, was für mich klinischer klingt. Da würde mich interessieren, inwieweit hier eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat… wenn zB die Tagesschau den Begriff verwendet, wie argumentiert sie das?
Aber ich bin zögerlich, weil es auch sehr gut möglich ist, dass tatsächlich Genozid vermieden werden soll. Dann passt die Kritik natürlich voll.
Ich sehe das ähnlich wie #3. Der Begriff wurde wie Sie schreiben ursprünglich gewählt weil er positive Assoziationen auslösen soll. Aber die beschönigende Wirkung hat er mMn längst verloren. Jeder denkt direkt an die schlimmsten Verbrechen, die die Menschheit begangen hat weil der Begriff nur in diesem Zusammenhang verwendet wird. Und es werden die rassistischen Motive der Täter hervorgehoben. Werden Aussagen wie die von Smotrich nicht auch einfacher durchschaubar, weil ethnische Säuberung ein bekannter Begriff ist?
Das ist die Wirkung des Begriffs auf mich persönlich. Was die völkerrechtliche Dimension angeht will ich aber auch nicht widersprechen.
Wie unter anderem ein einfacher Blick in die Wikipedia gezeigt hätte, stimmt an diesem Artikel leider vieles nicht:
1. Der Begriff wurde nicht von Slobodan Milosevic erfunden.
https://en.wikipedia.org/wiki/Ethnic_cleansing#Etymology
2. Der Begriff hat sehr wohl Eingang i.d. völkerrechtlichen Kanon gefunden, u.a. in UN-Sicherheitsrats-Resolution 780:
https://docs.un.org/en/S/RES/780(1992)
und hier auf der Seite der UN mit entsprechenden Kommissionsberichten, dort steht auch, dass der genaue Ursprung unklar sei:
https://www.un.org/en/genocide-prevention/definition
3. Der zitierte NYT-Artikel ist keinesfalls der erste mediale Gebrauch. Bereits 1982 zitierte die NYT einen albanischen Funktionär mit den Worten „ethnically clean“.
https://www.nytimes.com/1982/07/12/world/exodus-of-serbians-stirs-province-in-yugoslavia.html
Und 1991 benutzte die WaPo den Begriff bereits im Kontext der Balkankriege, und zwar als Zitat eines kroatischen Vorwurfs an die serbische Seite:
https://www.washingtonpost.com/archive/politics/1991/08/02/croatian-militia-falling-back-as-conflict-with-serbs-intensifies/afa856a2-7aa1-4986-a765-3f7c16811bfb/
Schon interessant, dass eine vermeintliche Medienkritik derart viele unbelegte, schlecht recherchierte und schlicht falsche Behauptungen enthält und für die vermeintliche Urheberschaft Milosevics noch nicht mal eine Quelle nennt.
An #5:
Wikipedia ist für uns keine journalistische Quelle für Faktenchecks, sondern höchstens Ausgangspunkt für die Recherche. Der deutsche und englische Wikipedia-Beitrag zum Thema unterscheiden sich zum Teil in ihren Inhalten. Unstrittig ist, dass der Begriff „ethnische Säuberung“ im Kontext der Jugoslawien-Kriege weithin bekannt wurde.
Zu 1: Quelle für die Erfindung durch Milosevic ist dieser Aufsatz des Genozidforschers und – aktivisten Gregory Stanton aus dem Jahr 2023: https://publuu.com/flip-book/943590/2071007
Zu 2 : Dass die UN den Begriff selbst verwenden, steht im ersten Abschnitt unseres Textes. Eine Erwähnung in einer Resolution oder auf einer Webseite macht den Begriff nicht zum Teil des Völkerrechts. Auf der von dir verlinkten UN-Seite schreiben die UN selbst, dass es keine offizielle Definition für den Tatbestand „ethnische Säuberung“ gibt.
Zu 3: Danke für den Hinweis auf die früheren Erwähnungen in Medien, die wir nicht gefunden haben. Unsere Quelle für die erste Erwähnung durch die „New York Times“ im Jahr 1992 war der bereits erwähnte Aufsatz.
Bisschen hin- und hergerissen bin ich schon: einerseits verstehe ich das Argument, aber andererseits verwendet (oder versteht) doch niemand „ethnische Säuberung“ positiv, oder?
Nun, vielleicht liegt eben doch ein Bedeutungsunterschied vor -zumindest im Verständnis vieler Empfänger der Botschaft:
Genozid – VERNICHTUNG eines Volkes
enthnische Säuberung VETREIBUNG eines Volkes (die [meisten] Angehörigen dieses Volkes könnten danach noch mit ihrem Leben davongekommen sein.
Ich denke, wenn Netanjahu tatsächlich einen Genozid im Sinn hätte, wären die Opferzahlen noch weit höher. Was wir sehen, sind Kriegsverbrechen und der Plan einer „ethnischen Säuberung“ von Gaza und dem Westjordanland.
Einen treffenderen Begriff für dieses Verbrechen kenne ich nicht. Gerade die scheinbare Harmlosigkeit der Formulierung macht deutlich, wie scharfsinnig Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ beschrieben hat.
Auch vor der Wannsee-Konferenz wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, den Ausdruck „Endlösung“ mit einem derartigen Zivilisationsbruch, mit einer solchen Singularität zu verbinden. Es ist seine Profanität im eigentlichen Wortsinn, die ihn zum Inbegriff des Grauens macht.
Wenn es um „Vertreibung“ ginge, könnte man es ja auch einfach so nennen. Ich denke bei „Ethnische Säuberung“ sofort an massive Gräueltaten wie die von Srebrenica. Offenbar läuft das oft so ab, dass Euphemismen nach und nach die Bedeutungen annehmen, die ursprünglich durch sie verschleiert werden sollten. Der Begriff „Konzentrationslager“ ist von der ursprünglichen Wortbedeutung auch unverfänglich, löst aber inzwischen doch bei den meisten sofortiges Unbehagen aus. Das heißt aber nicht, dass man deshalb nun unreflektiert diese Begriffe übernehmen sollte. Was die „Ethnischen Säuberungen“ angeht, bin ich da voll und ganz der Meinung der Autorin. Verharmlosend finde ich persönlich ihn nicht, aber absolut unangebracht. Wer professionell mit Sprache umgeht, sollte ihn so nicht verwenden.
@#7 Ich halte den Begriff Säuberung durchaus für verharmlosend. Ich erinnere mich daran, dass mir vor viele Jahren die Meldung eines Kreisjugendrings unterkam, der zu einer Säuberungsaktion auf dem jüdischen Friedhof aufrief, was ich als sehr makaber empfand. Aber auch sonst finde ich es unangebracht, wenn Putzaktionen als Säuberungsaktionen bezeichnet werden, was immer wieder geschieht. Vor diesem Hintergrund empfinde ich den Begriff „ethnische Säuberung“ als verharmlosend.
Fragt irgendwer mal zur Betrachtung der Situation nach der der Juden im Gebiet?
Land oder Gebiet jüdische Bevölkerung 1948 jüdische Bevölkerung heute
Maghreb insgesamt 475.000–548.000 5.000–5.200
Irak 135.000–140.000 4–250 (2022)
Ägypten 75.000–80.000 6–10 (2021)
Jemen und Aden 53.000–63.000 7 (2021)
Säkulare, humanistische Betrachtung hilft manchmal zum Verständnis!
Vielleicht das Recht meiner in dem Vergleichsrahmen späten Geburt: ich hab den Ausdruck auch mit diesem Wort von Anfang an als etwas Grundfalsches und Schlechtes einsortiert.
Ganz einfach, weil ja auch die Nazis die Metapher von „Sauberkeit“ bezogen auf Ethnien angewandt haben.
Natürlich ist der Ausdruck in sich abwertend und feindselig, denn man bezeichnet ja eine Gruppe nach ethnischen Kriterien als „unsauber“.
Dennoch hinkt hier auch der Vergleich: es handelt sich nicht um eine gezielte Aktion, eine bestimmte Ethnie in einer Region auszulöschen, so wie das Mladic tatsächlich umgesetzt hat.
Die Bosnier, auch nicht ein in der Bevölkerung weithin bejubelter Teil, sind zudem nicht vorher nach Serbien eingefallen und haben auf grausamste Art gemordet, gefoltert und Menschen bis heute entführt.
„—vor viele Jahren die Meldung eines Kreisjugendrings unterkam, der zu einer Säuberungsaktion auf dem jüdischen Friedhof aufrief, was ich als sehr makaber empfand…“
Du hast recht, das klingt wirklich unpassend in dem Zusammenhang. Weil der Begriff sich da schon etabliert hat.
Er wurde allerdings nicht von Milosevic erfunden. Schon vorher gab es bei Machtwechseln im Sozialismus oft „Säuberungsaktionen“, womit die Beseitigung der Strukturen von Vorgängern und Rivalen gemeint war.