„Ihr Leben ist nach dieser Recherche in sich zusammengefallen“
Die NDR-Reporterinnen Isabell Beer und Isabel Ströh sind online auf unzählige Vergewaltigungsvideos an sedierten Frauen gestoßen. Bei ihrer Recherche in den Täternetzwerken mussten sie sich entscheiden: Kontaktieren sie die Täter, die Opfer oder die Polizei? Und wie viel von dem intimen und brutalen Material wollen sie zeigen?
Die jüngsten Reportagen der NDR-Journalistinnen Isabell Beer und Isabel Ströh sind schwer zu ertragen. Es geht um Männer, die ihre Ehefrauen, Freundinnen oder Verwandten heimlich betäuben und vergewaltigen. Von ihren Taten teilen sie Videos im Netz, feuern sich gegenseitig an und geben sich Tipps.
Für „STRG_F“ haben die Investigativreporterinnen dazu in Telegram-Kanälen recherchiert, in denen sich Zehntausende Nutzer austauschen. Eine zweite „STRG_F“-Recherche zeigte, dass einige Vergewaltigungsvideos auch für alle zugänglich auf einer Pornoplattform stehen. In einem dritten Film für „Panorama“ haben die Journalistinnen nun nachgeforscht, warum Politik und Behörden gegen Sexualstraftaten an sedierten Frauen wenig unternehmen.
Wie berichtet man über Opfer, die gar nicht wissen, was ihnen angetan wurde? Wie weit können Journalistinnen in ihrer Recherche gehen, ohne zu Mitwisserinnen zu werden? Wann müssen sie ihre Ergebnisse der Polizei übergeben? Und wie dreht man einen Film, wenn das zentrale Material viel zu intim und brutal ist, um es zu zeigen?
Übermedien: In eurer aktuellen Recherche geht es um Videos auf einer Pornoplattform. Darin werden schlafende oder sedierte Frauen vergewaltigt. In euren „STRG_F“-Reportagen darüber sieht man vom Inhalt dieser Videos fast nichts, nicht einmal Detailausschnitte. Warum habt ihr das so entschieden?
Isabell Beer: Wir haben entschieden, dass wir kein Bewegtbild von Vergewaltigungen zeigen, auch nicht verpixelt. Wenn es im Laufe eines Videos zu einer Vergewaltigung kommt, brechen wir vorher ab. Gerade beim ersten Film über die Telegram-Gruppen ging es viel um die Frage, was wir zeigen müssen, damit man das Thema versteht. Das war für uns in der Redaktion ein Prozess.
Die Gesprächspartnerin
Isabel Ströh ist Investigativjournalistin. Vor ihrem Volontariat beim NDR hat sie Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften studiert. Seit 2019 arbeitet sie als freie Journalistin, unter anderem zu sexualisierter Gewalt an Frauen und Kindern. Zusammen mit Isabell Beer hat sie bereits undercover zu Pädokriminellen im Netz recherchiert. Zwei Kolleginnen gaben sich bei sogenannten Scheinkindversuchen als junge Mädchen aus und wurden auf einer Kinder-App von Pädokriminellen direkt kontaktiert.
Selbst die Videoausschnitte ohne Vergewaltigungen sind so stark verpixelt, dass man eigentlich nur Bildpunkte sieht.
Isabel Ströh: Das Wichtigste bei so einem Film ist der Opferschutz. Die Videos zeigen schließlich Abbildungen von schwersten Sexualstraftaten. Die Opfer wissen vielleicht noch nicht mal, dass ihnen das angetan wurde. Außerdem wollten wir potenziellen Interessenten kein Futter geben. Wir zeigen zum Beispiel nur Video-Titel, die zu Redaktionsschluss so nicht mehr online waren. Aber gerade junge Leute wollen auch Bildbeweise und glauben erst, was sie selbst gesehen haben.
Hattet ihr nicht das Gefühl, einmal zeigen zu müssen, wie krass die Taten sind?
Beer: Im ersten Film haben wir noch mehr gezeigt. Im zweiten Film ging es sehr konkret um eine Frau, die wir Marlene nennen. Ihr Mann hat sie über mindestens 15 Jahre betäubt und vergewaltigt. Wir haben viel mit ihr darüber gesprochen, was wir abbilden, und ihr war es ein großes Anliegen, dass Sachen nicht erkennbar sind. Ich finde, das muss man respektieren.
Manche Redaktionen hätten bestimmt versucht, mehr Aufmerksamkeit über Bildmaterial zu generieren – ihr habt euch dagegen entschieden.
Ströh: Bei uns war es eher so, dass manche Kolleginnen und Kollegen gefragt haben, ob wirklich so viel drin sein muss, zum Beispiel explizite Kommentare. Das ist das Gute bei den Öffentlich-Rechtlichen: Wir müssen nicht das krasseste Material nach vorne stellen, damit Leute auf Inhalte klicken oder etwas kaufen.
Beer: Was viele Leute beim zweiten Film erschüttert hat, war tatsächlich ein Nutzerkommentar auf der Pornoplattform. Da ging es um ein Video, das wir in Auszügen gezeigt haben, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man eine bewusstlose Frau vergewaltigen kann. Jemand hat darunter kommentiert: „Mit diesen Tipps konnte ich das Gleiche mit meiner Tochter machen.“ Diesen Moment empfanden viele als den schlimmsten. Weil das zeigt: Wenn solche Tipps online sind, orientieren und bedienen sich Leute daran.
Die Gesprächspartnerin
Isabell Beer ist als Investigativreporterin spezialisiert auf Online-Recherchen, auch verdeckt. Ihre Schwerpunkte sind sexualisierte Gewalt sowie kriminelle Netzwerke im Internet. Nach einem Volontariat beim „Berliner Kurier“ arbeitete sie erst als freie Journalistin, von 2019 bis 2023 beim öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerk funk. 2021 veröffentlichte sie ein Buch zur Drogenszene im Internet. Für ihre Recherchen gewann sie mehrere Journalistenpreise.
Ihr zeigt sehr viele dieser Kommentare, die nicht nur unfassbar sexistisch, sondern oft auch sehr brutal sind. Wörter wie „Schlampe“ bildet ihr ab, aber das F-Wort habt ihr verpixelt und weggepiept. Wie habt ihr entschieden, was ihr zeigt?
Beer: Viele Sachen haben damit zu tun, dass die Videos sonst bei YouTube eine Alterssperre bekommen könnten. Das wollten wir vermeiden. Zum Teil ist das absurd: Wir beschreiben Vergewaltigungen, aber das Wort „Arsch“ haben wir deshalb vorsorglich unkenntlich gemacht.
Um an das Material zu kommen, brauchtet ihr glaubwürdige Online-Nutzerprofile in den Telegram-Gruppen und auf der Pornoplattform. Dafür nutzt ihr das Foto einer schlafenden, mutmaßlich betrunkenen Frau. Wie ist das entstanden?
Beer: Die Frau auf dem Foto bin ich. Vieles auf der Pornoseite ist öffentlich, aber wir haben gemerkt, dass die Nutzer, die diese Sachen hochladen, sich vernetzen. Mit denen wollten wir in Kontakt kommen. In Abwägung mit der Redaktion ist daraus eine Undercover-Recherche entstanden. Wir kamen auf anderen Wegen nicht an diese Informationen, die für die Öffentlichkeit aber relevant sind.
Deswegen haben wir uns gefragt, wie wir unser Profil glaubwürdig machen können. Was ist das Kleinste, das man hochladen kann, das trotzdem noch für Interesse sorgt? Das Bild sollte möglichst authentisch aussehen und gleichzeitig auf eine Art und Weise ekelhaft sein, aber ohne Nacktheit. Da steht zum Beispiel noch ein Teller mit Essen rum. Man sieht allein durch das Bild: Diese Frau ist hilflos und kriegt offenbar gar nichts mehr mit.
Bei einer Recherche, in der es um den extrem respektlosen Umgang mit Frauenkörpern geht, seinen eigenen Körper so einzusetzen, ist drastisch.
Beer: Ich hätte das nicht gemacht, wenn ich mich damit unwohl fühlen würde. Ich bin nicht erkennbar und ich bin angezogen. Natürlich sind die Kommentare unter dem Bild krass, wenn Leute uns schreiben, du solltest jetzt das und das mit dieser Person machen. Aber ich bin ja diejenige, die die Kontrolle darüber hatte.
Diese gestellten Bilder nutzten die Investigativjournalistinnen, damit ihr Undercover-Profil auf einer Porno-Plattform glaubwürdiger wirkt Screenshot: STRG_F/YouTube
Ströh: Trotzdem sollte man gut darüber nachdenken, wie weit man in der Recherche geht. Diese Diskussion haben wir sehr oft geführt: Müssen wir jetzt einen Schritt weiter gehen? Zum Beispiel mit diesem Nutzer noch weiter schreiben?
Beer: Wenn man bei so einer Undercover-Recherche lange dabei und in Kontakt mit Leuten ist, hat man schnell das Gefühl, wenn ich jetzt noch dieses oder jenes mache, dann kriege ich diese krasse Information. Deswegen ist es wichtig, sich vorher Grenzen zu setzen und immer zusammen im Team zu entscheiden.
Ihr habt euch Regeln gegeben, wie ihr selbst auf den Plattformen interagiert. Ihr teilt zum Beispiel nur das, was nötig ist, und haltet nur Kontakt mit Nutzern, die mutmaßliche Täter sind. Diese Regeln wurden von einer Person überwacht, die nicht an der Recherche beteiligt war. Habt ihr euch selbst nicht zugetraut, sie einzuhalten?
Beer: Die Regeln wurden nicht überwacht, sondern überprüft. Am Ende der Recherche haben wir unsere Kommunikation auf den Plattformen einem Kollegen gegeben, der vorher nicht eingebunden war.
Ströh: Er hat in alle Chats geschaut, die für die Veröffentlichung relevant waren. Auch um zu prüfen, ob wir alles korrekt wiedergeben.
Journalistenpreise
Für ihre Arbeit zu Vergewaltiger-Netzwerken wurden Isabell Beer und Isabel Ströh dieses Jahr mehrfach ausgezeichnet. Sie erhielten einen Grimme-Preis für die besondere journalistische Leistung, den Courage-Preis des Journalistinnenbundes und den Stern-Preis in der Kategorie Investigation.
Bei eurer Recherche seid ihr auf sehr konkrete Hinweise auf mutmaßliche Täter und potenzielle Opfer gestoßen. Eine Regel lautete, bei angekündigten Taten sofort zur Polizei zu gehen. Wie gut hat das geklappt?
Beer: Wir haben in diesen Telegram-Gruppen so eine Flut an Sachen gesehen, wir konnten gar nicht alles sichten. Wenn es sehr konkrete, glaubhafte Planungen und Hinweise gab, haben wir die Ermittlungsbehörden angefragt, die das höchstwahrscheinlich betrifft – in Absprache mit unserem Justiziariat. Viele dieser Anfragen sind gar nicht in unseren Filmen gelandet, sondern liefen im Hintergrund, weil wir allein beim Scrollen durch die Gruppen darauf gestoßen sind.
Im Film entsteht der Eindruck, oft habe die Polizei nicht reagiert. War das in der überwiegenden Zahl der Fälle so?
Ströh: Nein, das würde ich nicht sagen. Eigentlich haben alle unsere Anfragen Ermittlungen ausgelöst, nur in einem Fall wissen wir das nicht. Und im Fall von Marlene stellte sich heraus, dass die Fachabteilung den Fall ein Jahr lang nicht bearbeitet hat. Es wurde erst ermittelt, nachdem wir nochmal nachgefragt haben.
Uns wurde aber immer noch nicht konkret gesagt, inwiefern sich die Behörden das Täternetzwerk insgesamt anschauen, beispielsweise beim Bundeskriminalamt (BKA). Wir hatten dem BKA schon 2023 Links zu Telegram-Gruppen geschickt, damit sich Ermittler einen eigenen Eindruck verschaffen können.
Habt ihr nur Hinweise gegeben oder selbst Anzeigen erstattet?
Ströh: Hier beim NDR haben wir nur Hinweise verschickt, natürlich im Wissen, dass das wahrscheinlich zu Ermittlungen führen wird. Es gab einen älteren Fall zu Beginn der Recherche, da war Isabell noch bei funk – in diesem Fall wurde Anzeige erstattet. Der Tatverdächtige sitzt jetzt in der Schweiz in Untersuchungshaft.
Und warum habt ihr ausgerechnet da einmal Anzeige erstattet?
Beer: Es wurde damals entschieden, das so zu machen. Wir haben es beim NDR anders gemacht und so möchte ich das auch in Zukunft in meiner Arbeit als Journalistin handhaben.
Die Videoausschnitte, die Isabell Beer und Isabel Ströh in ihren Filmen zeigen, sind extrem verfremdet Screenshot: STRG_F/YouTube
Isabell, als wir bei Übermedien das letzte Mal mit dir und dem Investigativreporter Daniel Moßbrucker gesprochen haben, ging es um eure Recherchen zu Pädokriminellen im Netz. Da habt ihr im Interview die Trennung zwischen Polizei und Journalisten sehr klar betont. Bei euren aktuellen Filmen hatte ich fast das Gefühl, ihr macht selbst die Arbeit von Ermittlungsbehörden.
Beer: Bisher ging es in meinen Recherchen nicht um Menschen, die vielleicht akut in Lebensgefahr sind. Das war hier anders: Laien benutzen irgendwelche K.o.-Mittel, von denen sie keine Ahnung haben, um Menschen in einen bewusstlosen Zustand zu versetzen. Wir sprechen hier nicht nur über schwerste Sexualverbrechen, sondern auch über die Frage, ab wann etwas unterlassene Hilfeleistung ist. Zu sagen, ich bin ja nur Journalistin, ich beobachte das jetzt einfach weiter und dann schau ich mal, ob der jetzt seine Frau vergewaltigt und sie das überlebt, finde ich persönlich ethisch nicht vertretbar. Stellen wir uns vor, dann passiert wirklich etwas Schlimmes und wir haben es gewusst.
Ströh: Klassischerweise hätten wir nur beobachtet, irgendwann etwas veröffentlicht und dann wäre die Polizei tätig geworden. Das Problem ist, dass der Täter durch eine Veröffentlichung gewarnt wird. Welche Gefahr das für die Frau bedeutet, können wir nicht abschätzen. Unser erster Gedanke war, stattdessen auf die Frau zuzugehen, um sie zum Beispiel zu fragen, ob sie davon weiß oder sie direkt zu warnen. Opferhilfestellen haben uns aber gesagt, dass wir das als Journalistinnen nicht leisten können. Wir sind keine Psychologinnen. Am Ende haben wir uns damit auch besser gefühlt, dass Ermittler sich dessen annehmen.
Trotzdem gelten für uns unsere journalistischen Grenzen und Regeln. Wir geben der Polizei Hinweise, aber wir arbeiten nicht mit ihr zusammen. Den Quellenschutz halten wir zum Beispiel immer ein.
Mit euren Hinweisen an die Polizei habt ihr euch die Recherche zum Teil selbst erschwert. In einem Fall findet ihr die Adresse eines mutmaßlichen Täters heraus und könnt nicht weiter darüber berichten, weil die Polizei anschließend ermittelt.
Ströh: Es gab Momente, in denen wir Dinge erstmal liegen lassen mussten. Aber dadurch, dass wir so lange an dem Thema recherchiert haben, haben sich daraus wieder neue Sachen ergeben.
Beer: Wir hatten oft Ideen, was wir als nächstes tun könnten – und dann haben wir weitergedacht, was das auslösen könnte. Wenn man zum Beispiel jemanden wie Marlenes Mann, der sie über eine lange Zeit vergewaltigt hat, als Journalist einfach konfrontiert, dann ist es naheliegend, dass alle Beweise vernichtet werden und die Frau vielleicht nie davon erfährt. Man weiß nicht einmal, ob die Taten aufhören. Auch das Suizidrisiko für denjenigen, der im Verdacht steht, muss man mitdenken. Es gibt oft keine gute Lösung, sondern man muss immer Risiken abwägen. Gespräche mit Experten haben uns dabei sehr geholfen.
Ihr habt das Opfer namens Marlene schon erwähnt. Sie erfährt erst durch eure Recherchen, dass sie 15 Jahre lang immer wieder bewusstlos vergewaltigt worden ist, und war bereit, euch für ein Interview zu treffen. Wie bereitet man sich auf so ein Gespräch vor?
Ströh: Wir haben überhaupt nicht damit gerechnet, dass wir ein Interview mit ihr bekommen. Ihr Interesse, an die Öffentlichkeit zu gehen, war wohl schon da, bevor wir angefragt haben. Ihre Motivation war auch, Betroffenen eine Stimme zu geben. Beim Interview war eine Mitarbeiterin der Opferhilfestelle Niedersachen dabei. Das hat uns sehr geholfen. Und tatsächlich haben wir in diesem Fall alle Fragen mit ihr besprochen, damit sie einen guten Rahmen hat und gut vorbereitet ist.
Ihr saßt einer Frau gegenüber, von der ihr intime und schlimme Bilder kanntet. Das ist eine sehr unnatürliche und schwierige Gesprächssituation.
Beer: Das war in diesem Moment gar nicht komisch, ehrlich gesagt. Für mich war dieses Interview ein Moment, wo Sachen sehr real geworden sind. Das reale Leid dieser Frau ist durch die Ermittlungen, die unsere Recherchen ausgelöst haben, erst beendet worden.
Das Wichtigste war, ihr möglichst viel Kontrolle zu überlassen, zum Beispiel das Gespräch jederzeit abbrechen zu können. Und gleichzeitig nicht zu denken, wir müssten jemanden vor sich selbst schützen. Wir saßen einem erwachsenen, mündigen Menschen gegenüber, der selbst seine Entscheidungen treffen kann.
„Ein Moment, wo Sachen sehr real geworden sind“: Isabell Beer beim Treffen mit Marlene, einer Betroffenen Screenshot: STRG_F/YouTube
Ströh: Ich war viel aufgeregter vor dem ersten Telefonat mit ihr, weil unsere Entscheidungen und unsere Recherche so viel ausgelöst haben und wir nicht wussten, wie sie darüber denkt, ob sie uns vielleicht hasst.
Beer: Das ist etwas, was man bei so einer Recherche nie vergessen darf: Jedes Mal, wenn du so ein Video guckst, ist das eine Grenzüberschreitung. Ihr Leben, wie sie es kannte, ist nach dieser Recherche in sich zusammengefallen. Sie sagte, wir hätten ihr unfassbares Leid zugefügt und ihr gleichzeitig das Leben gerettet.
Es gab auf eure Recherche in sozialen Medien viele Reaktionen. Ihr habt damit drei Journalistenpreise gewonnen. Trotzdem merke ich in meinem Umfeld: Mit dem Fall von Gisèle Pelicot kann jeder etwas anfangen, aber von eurer Recherche haben viele noch nie gehört. Sie hat auch keine große politische Debatte ausgelöst. Warum?
Ströh: Nach der ersten Reportage über die Telegram-Gruppen hat sich niemand aus der Politik dazu geäußert, bis auf die damalige Familien- und Frauenministerin Lisa Paus im Deutschlandfunk. Es hat uns schon sehr überrascht, dass es gar kein Thema in der Politik war. Beim zweiten Film war schon die Recherche im Vorfeld sehr schwierig. Wir haben viele Politiker und Ermittlungsbehörden über Wochen und Monate angefragt und keine Interviews bekommen. Für den „Panorama“-Beitrag konnten wir jetzt mit der Innenministerin von Niedersachsen sprechen, Daniela Behrens.
Wie erklärt ihr euch, dass Politiker keine Lust auf das Thema haben?
Ströh: Wir können nicht nachvollziehen, warum nur so verhalten reagiert wird. Die Hamburger Innenbehörde hat ein bereits vereinbartes Interview mit Innensenator Andy Grote wieder abgesagt.
Beer: Das BKA gibt uns nicht einmal Hintergrundgespräche. Sie erwähnen unsere Recherche in einem Flyer für Ärzte zum Thema, wollen bisher aber weder vor noch hinter der Kamera mit uns sprechen – zum Teil ohne Gründe dafür zu nennen. Das BKA hat auch eine Sensibilisierungskampagne zu Sexualstraftaten an sedierten Frauen veröffentlicht, aber niemanden genannt, der uns im Interview etwas dazu sagen kann. Das passt nicht zusammen.
Ihr habt umfassend geschildert, wie tief ihr euch ins Thema reingegraben habt. Ihr seid beide nicht festangestellt. Könnt ihr von eurer Arbeit leben?
Ströh: Ja, wir sind feste Freie beim NDR, haben also zum Beispiel auch Anspruch auf Urlaubstage. Die Auftragslage ist gerade sehr gut.
Beer: Wir können uns wirklich auf die Recherche konzentrieren und müssen uns nicht fragen, ob wir uns das überhaupt leisten können.
Ströh: So eine Art von Recherche braucht einfach Zeit und ist dadurch kostenintensiv. Das haben der NDR und funk gesehen und unterstützt.
Warum recherchiert ihr nicht zu einfacheren, weniger belastenden, weniger schlafraubenden Themen?
Beer: Es ist wichtig, dass dieses Thema Aufmerksamkeit bekommt, denn die Taten hören nicht einfach auf. Mir ist aufgefallen, dass wir immer wieder gefragt wurden, wie es uns mit den Recherchen geht. Ich verstehe, dass das Leute interessiert. Aber das hat den Fokus weg von den betroffenen Frauen verschoben. Wir sind nicht die Leidtragenden in diesem Ganzen. Wir haben uns bewusst für diese Recherche entschieden. Wir hatten immer die Möglichkeit, abzubrechen, den Laptop auszuschalten, das Handy auszuschalten. Wir mussten uns das nicht anschauen.
Ströh: Das ist unser Job als Investigativjournalistinnen und man kann bis zu einem gewissen Punkt erwarten, dass wir für uns Mechanismen etablieren, um damit umzugehen. Zum Beispiel durch psychologisches Coaching oder Gespräche im Team. Wenn man als Investigativjournalistin so etwas entdeckt, kann man nicht einfach sagen, das geht mich nichts an.
Die aktuelle Recherche von Isabell Beer und Isabel Ströh zeigt das ARD-Magazin „Panorama“ am 10. Juli 2025 um 21.45 Uhr.
Transparenzhinweis: Wir haben noch am Tag der Veröffentlichung zwei Sätze aus dem Interview entfernt, in denen es um Aussagen der Hamburger Innenbehörde ging. Die Behörde hat ihre Auskunft gegenüber Isabell Beer und Isabel Ströh nachträglich korrigiert.
Die Autorin
Foto: Evgeny Makarov
Annika Schneider ist Redakteurin bei Übermedien. Als freie Medienjournalistin hat sie als Moderatorin und Autorin beim Deutschlandfunk und WDR gearbeitet, außerdem als Kolumnistin beim MDR-Altpapier. Sie hat Journalistik und Politikwissenschaft in Eichstätt und Erlangen studiert und ihr Handwerk im Lokalen gelernt. 2025 wurde sie für ihre Arbeit bei Übermedien mit dem Donnepp Media Award für Medienpublizistik ausgezeichnet.
6 Kommentare
Ich finde es sehr gut, wie viele Gedanken sie sich um den Opferschutz gemacht haben, und dafür auch konkret mit Expert:innen gesprochen und diese hinzu gezogen haben.
Das ist bei diesen Formaten leider keine Selbstverständlichkeit, auch bei anderen Filmen von StrgF wurde da schon oft einfach mal losgelegt.
Journalistische Unabhängigkeit finde ich auch wichtig, irgendwann hört sie dann aber auch auf – hier die Polizei hinzuzuziehen und dann auch darauf Acht zu geben, ob diese ihre Arbeit überhaupt macht, ist richtig und wichtig.
Überhaupt schon eine Öffentlichkeit für dieses Phänomen zu schaffen kann bestimmt Leben retten.
Ich danke Isabell Beer und Isabel Ströh sehr für diese verantwortungsvoll und sensibel durchgeführte Recherche – davon können sich sicher viele eine Scheibe abschneiden.
Isabell Beer und Isabel Ströh und allen Beteiligten meinen allerallergrößten Respekt!
Auch Dank von mir, für die Recherche und auch für dieses Interview! Erschütternd und gleichzeitig so notwendig.
Erstmal danke an Frau Beer und Ströh für ihre Arbeit. Das muss unglaublich belastend gewesen sein. Und, wie schon erwähnt, großes Lob für die Art und Weise wie sie diese Recherche gemacht haben.
Die Antworten der Regierung und zuständigen Behörden finde ich teilweise sehr frustrierend.
Und das gesehene ist absolut verstörend. Da ist der Fall Pelicot gerade erst so langsam aus dem aktiven Gedächtnis verschwunden und plötzlich erfährt man, dass es ein weltweites Netzwerk mit zehntausenden Beteiligten gibt die solche barbarischen und unmenschlichen Taten feiern, filmen, verherrlichen und auch noch detaillierte Anleitungen verbreiten.
Es macht einfach nur sprachlos.
Vielen Dank für das Interview. Ich hatte auch nichts von der krassen Recherche mitbekommen. Mit ein Grund ist, dass Strg-F für mich ein gebranntes Kind ist und ich das Format eher ignoriere. Ich denke, dass das dazu beigetragen hat, dass die Filme eher unter dem Radar liegen. Ich kenne viele, die Strg-F mit den vielen Selbstinszenierungen ebenfalls nicht sonderlich zugewandt sind. Besser wäre wohl ein renommierteres Format gewesen.
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Ich finde es sehr gut, wie viele Gedanken sie sich um den Opferschutz gemacht haben, und dafür auch konkret mit Expert:innen gesprochen und diese hinzu gezogen haben.
Das ist bei diesen Formaten leider keine Selbstverständlichkeit, auch bei anderen Filmen von StrgF wurde da schon oft einfach mal losgelegt.
Journalistische Unabhängigkeit finde ich auch wichtig, irgendwann hört sie dann aber auch auf – hier die Polizei hinzuzuziehen und dann auch darauf Acht zu geben, ob diese ihre Arbeit überhaupt macht, ist richtig und wichtig.
Überhaupt schon eine Öffentlichkeit für dieses Phänomen zu schaffen kann bestimmt Leben retten.
Ich danke Isabell Beer und Isabel Ströh sehr für diese verantwortungsvoll und sensibel durchgeführte Recherche – davon können sich sicher viele eine Scheibe abschneiden.
Isabell Beer und Isabel Ströh und allen Beteiligten meinen allerallergrößten Respekt!
Auch Dank von mir, für die Recherche und auch für dieses Interview! Erschütternd und gleichzeitig so notwendig.
Erstmal danke an Frau Beer und Ströh für ihre Arbeit. Das muss unglaublich belastend gewesen sein. Und, wie schon erwähnt, großes Lob für die Art und Weise wie sie diese Recherche gemacht haben.
Die Antworten der Regierung und zuständigen Behörden finde ich teilweise sehr frustrierend.
Und das gesehene ist absolut verstörend. Da ist der Fall Pelicot gerade erst so langsam aus dem aktiven Gedächtnis verschwunden und plötzlich erfährt man, dass es ein weltweites Netzwerk mit zehntausenden Beteiligten gibt die solche barbarischen und unmenschlichen Taten feiern, filmen, verherrlichen und auch noch detaillierte Anleitungen verbreiten.
Es macht einfach nur sprachlos.
Vielen Dank für das Interview. Ich hatte auch nichts von der krassen Recherche mitbekommen. Mit ein Grund ist, dass Strg-F für mich ein gebranntes Kind ist und ich das Format eher ignoriere. Ich denke, dass das dazu beigetragen hat, dass die Filme eher unter dem Radar liegen. Ich kenne viele, die Strg-F mit den vielen Selbstinszenierungen ebenfalls nicht sonderlich zugewandt sind. Besser wäre wohl ein renommierteres Format gewesen.