Rüge vom Presserat

„Bild“ könnte korrekt übers Bürgergeld berichten, tut es aber nicht

In mehreren Artikeln weckte „Bild“ den falschen Eindruck, die Mehrheit der Bürgergeldempfänger sei grundsätzlich arbeitsfähig, aber faul. Nach Kritik von Übermedien machte die Redaktion einfach weiter – und kassierte dafür jetzt eine öffentliche Rüge.
Screenshot: bild.de/Montage: Ü

Einen Satz, mehr war Axel Springer das Thema nicht wert. „Wir stehen zu unserer redaktionellen Berichterstattung und haben ihr nichts hinzuzufügen“, richtete eine Sprecherin auf unsere Anfrage im Juni vergangenen Jahres aus. Auf konkrete Fragen ging sie nicht ein. Wir berichteten später unter der Überschrift: „Sozialneid statt Fakten: Wie ‚Bild‘ die Debatte über das Bürgergeld verzerrt“.

Etwas hinzuzufügen hatte nun aber der Deutsche Presserat. Im März dieses Jahres entschied er, die Bürgergeld-Berichterstattung der „Bild“-Redaktion mit einer öffentlichen Rüge zu würdigen – es ist das schärfste Schwert im Arsenal der medialen Selbstkontrollinstanz. Vergleichsweise scharf gerieten zudem die Worte, die der Presserat bei seiner Bekanntgabe wählte: Er warf „Bild“ eine „massive Irreführung der Leserschaft und eine Stigmatisierung“ von Bürgergeld-Beziehenden vor. Die Redaktion verstoße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht und somit gegen Ziffer 2 des Pressekodex.

Manche der Menschen, die arbeiten „könnten“, tun das längst

In gleich drei Artikeln auf bild.de hatte sie mehr oder weniger wortgleich rund vier Millionen Bürgergeld-Beziehende als Menschen beschrieben, „die arbeiten könnten, es aber nicht tun“. Zwar führt die amtliche Statistik tatsächlich rund vier Millionen Menschen als „erwerbsfähig“ – allerdings weisen sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch das Bundesarbeitsministerium, Wohlfahrtsverbände und zahlreiche weiter Akteure an vielen Stellen darauf hin, dass alle diese Menschen keineswegs mal eben arbeiten könnten, wenn sie nur wollten. Viele tun es sogar bereits – sie verdienen jedoch so wenig, dass das Amt ihr Einkommen aufstocken muss, damit es zum Leben reicht.

Nur bei einer niedrigen fünfstelligen Zahl ist aus Behördensicht belegt, dass sie sich wirklich verweigern. Andere gehen noch zur Schule und rutschen nur deshalb in diese Statistik, weil sie ab ihrem 18. Geburtstag selbst als Bürgergeldbeziehende gezählt werden. Oder sie pflegen Angehörige, sind alleinerziehend und ohne Krippenplatz – es gibt viele gute Gründe, aus denen mehr als die Hälfte der vier Millionen theoretisch „Erwerbsfähigen“ dem Arbeitsmarkt ganz praktisch nun einmal nicht zur Verfügung steht. Und auch, dass es allen anderen einfach nur am Willen fehlt, wäre nicht mehr als eine unbelegte Unterstellung.

Zweimal hatte „Bild“ im Juni 2024 zuvor sinngleich berichtet, als wir bei Übermedien das Thema aufgriffen. Sollten also alle Kontakte der Redaktion zu den Pressestellen und Experten der Bundesagentur, des Ministeriums und anderer Stellen nicht ausgereicht haben, ihr begreiflich zu machen, welche Menschen hinter den Zahlen stecken: Spätestens mit unserer Berichterstattung und der detaillierten Anfrage wusste man im Hause Axel Springer, wo das Problem liegen könnte.

Was „Bild“ nicht davon abhielt, genauso weiterzumachen.

Im September erschien ein neuer Artikel unter der Schlagzeile: „Bürgergeld ist zu hoch! Empfängern droht neuer Hammer“. Darin hieß es schon wieder: „Von den rund 5,5 Millionen Bürgergeld-Empfängern sind mehr als vier Millionen erwerbsfähig. Sprich: Viele von ihnen könnten arbeiten, tun es aber nicht.“

„Bild“ will es nicht gemeint haben, wie es da steht

Dies gab mir als Autor des Übermedien-Textes schließlich den Anlass zu einer Beschwerde beim Presserat, dessen ausführliche Entscheidung nun vorliegt.  Es sei davon auszugehen, heißt es darin, dass eine „durchschnittlich verständige Leserschaft“ die Aussagen so auffasse, „dass die betroffenen Menschen nicht überwiegend durch objektive Gründe an der Erwerbstätigkeit gehindert sind. Vielmehr ist es naheliegend, die […] Formulierungen so zu interpretieren, dass es den Personen insbesondere am ausreichenden Bemühen zur Aufnahme von Erwerbstätigkeit mangelt.“ Und weiter: „Die Berichterstattungen sind insofern im Ergebnis für die Leserschaft massiv irreführend und haben für die Betroffenen einen stigmatisierenden Effekt.“

„Bild“ fand die Beschwerde „unbegründet“. Gegenüber dem Presserat verteidigte die Springer-Rechtsabteilung die Berichterstattung damit, dass die vier Millionen Bürgergeld-Beziehenden „grundsätzlich“ schon in der Lage wären, einer Erwerbsarbeit nachzugehen (was, siehe oben, richtig ist, am Problem aber nichts ändert) und dass man ja gar nicht behaupte, dass „sämtliche“ der vier Millionen Menschen arbeiten könnten.

Was schon ein bisschen lustig ist, weil genau das in den Texten steht. In einem der Artikel aus dem Juni 2024 heißt es zum Beispiel: „Im Mai bezogen 4,021 Millionen erwerbsfähige Arbeitslose Bürgergeld. Also Menschen, die arbeiten KÖNNTEN (sic!), es aber nicht tun.“

Die „Bild“-Redaktion KÖNNTE korrekt über das Bürgergeld berichten, tut es aber nicht, das hatten wir bereits im Juni geschrieben. Der Presserat sagt nun: Sie hätte es auch müssen.

(Erwerbs-)Arbeiten oder Faulenzen, dazwischen gibt es nichts

Dumm ist natürlich nur, dass die Kampagne von „Bild“ längst ihre Auswirkungen gehabt haben dürfte: auf den Wahlkampf und auch die laufenden Koalitionsgespräche, in denen Kürzungen beim Sozialstaat, die Abschaffung des Bürgergelds und mehr Druck auf Leistungsbeziehende zu den großen Themen gehörten.

Ein wichtiger Kraftstoff dieser Debatten: Der – auch durch stigmatisierende Artikel geschürte – Eindruck, es gäbe da eine gewaltig große Zahl arbeitsfähiger Menschen, die einfach auf der faulen Haut liegt, während sie sich von einer Gesellschaft aushalten lässt, die für diese Ungerechtigkeit den Buckel krumm macht. Wie weit es dieses Zerrbild gebracht hat, ließ sich am vergangenen Sonntag in der ARD-Talkshow Caren Miosga bestaunen. Da unterschied sogar Lars Klingbeil, seines Zeichens Vorsitzender einer sozialdemokratischen Partei, zwischen Menschen, „die Geld vom Staat bekommen“, und solchen, „die jeden Tag fleißig sind und arbeiten gehen“.

Dass „Bild“ durchaus lernfähig sein kann, zumindest ein bisschen, zeigt ein neuer Artikel über den „Bürgergeld-Wahnsinn“ aus diesem März. Da schlüsselt bild.de die Zahlen einmal weiter auf. In einem kursiv gesetzten Absatz steht: „1,9 Millionen von ihnen sind arbeitslos, weitere 2,7 Millionen nicht erwerbsfähig – darunter Kinder, Pflegende und Menschen in Weiterbildung. 830.000 Aufstocker verdienen so wenig, dass es zum Leben nicht reicht.“

Allerdings lautet schon der nächste Satz: „Doch statt diese Menschen effektiv in Arbeit zu bringen, versagen die Jobcenter.“ Irgendwie will „Bild“ also Menschen, die gerade nicht arbeiten können, und vor allem solche, die bereits arbeiten (und deren Problem es vor allem ist, dass sie zu wenig verdienen), „effektiv“ in Arbeit bringen. Eine amüsante Verrenkung, die letztlich dazu führt, dass die Redaktion wieder bei ihrem traurigen Weltbild landet – in deren Zentrum dann wieder all die Menschen stehen, die „Bild“ schon die ganze Zeit auf dem Kieker hatte: „Diejenigen, die sich einer Arbeit verweigern“.

4 Kommentare

  1. Die Brandmauer existiert ja eh nicht

    Gerade wird vor aller Augen der Wahlsieger Union von der 16%-Partei zerquetscht.
    An der Brandmauer – die gar nicht existiert 😊

  2. Ich befürchte, die Interessen, die hinter dieser andauernden, nur als mutwillig verstehbaren Fehldarstellung stehen, sind zu groß, als dass sie sich durch eine Presserats-Rüge einhegen lassen würden: Please stärke die AfD!

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