Hasswort (53)

Wählerwille

Welche Koalitionen sich Wählerinnen und Wähler wünschen, schreiben sie auf ihrem Wahlzettel nicht dazu. Trotzdem wissen manche Politikerinnen und Politiker ganz genau, was die Deutschen jetzt angeblich wollen.

Alle möglichen Leute erklären mir gerade, was ich an der Wahlurne angeblich gewollt habe. Sehr oft ist zur Zeit vom „Wählerwillen“ die Rede. Schon das Wort macht mich wütend.

„Wählerwille“ sei eine blau-schwarze Koalition, sagte Alice Weidel am Wahlabend. Der „Wählerwille“ müsse endlich respektiert und die demokratieverachtenden Brandmauern abgerissen werden, befand auch der AfD-Spitzenkandidat für die Hamburger Bürgerschaftswahl, Dirk Nockemann. Auch die CDU-Politikerin Julia Klöckner forderte vergangene Woche auf Instagram dazu auf, „den Wählerwillen ernst zu nehmen“, vor allem beim Thema Bürgergeld und Migrationspolitik.

In einer Demokratie wollen alle was Unterschiedliches

Dabei nennt die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach den „Wählerwillen“ im „Spiegel“ einen „Mythos“. Im besten Fall entspringt er einer Sehnsucht nach Einfachheit. Im schlimmsten Fall ist es eine von Populisten missbrauchte Floskel, die demokratische Prinzipien in Frage stellt: Eine repräsentative Demokratie beruht auf Vielfalt und Kompromissen, keinem einheitlichen Willen aller.

„Wille“ ist ein starkes Wort. Es umschreibt keine höfliche Präferenz, sondern tritt in bedeutungsschweren Zusammenhängen wie dem „Letzten Willen“ oder dem „Freien Willen“ auf. Der Wille bezieht sich nicht auf die Lieblingseissorte, sondern ist gerne eisern oder unerschütterlich. Wenn der Wille ein Objekt wäre, wäre es grau, eckig und steinhart – perfekt also, um es anderen in Diskussionen vor den Latz zu knallen.

Genau das passiert nun in den Debatten um die neue Regierung. Auf die Spitze treibt es die AfD, die vom „Wähler“ immer dann in der Einzahl spricht, wenn sie eigentlich das Volk mit seinem Volkswillen meint (und gerade mal nicht nach Nazi klingen möchte). Aber das Thema betrifft nicht nur die üblichen Populisten. Alle möglichen Experten, Politiker und Journalisten scheinen genau zu wissen, was die Wählerinnen und Wähler wollen. Als hätten die nicht nur eine Erst- und Zweitstimme vergeben, sondern auch noch ein Post-it neben ihre Wahlkreuze gepappt: „Ich wähle Partei X vor allem, damit sie später mit Y koaliert, aber auf keinen Fall mit Z.“

Der Wählerwille scheint unantastbar, ist aber dehnbar

Eine Partei und eine Person auf einem Wahlzettel anzukreuzen, ist eine sehr begrenzte Möglichkeit auszudrücken, was ich mir für die Zukunft wünsche. Und wir Wählerinnen und Wähler sind uns nicht nur uneins in den Parteien, die wir favorisieren, sondern auch darin, wie wir sie auswählen. Eine Bekannte erzählte mir, ihre Mutter habe die Erststimme an eine Pflegekraft vergeben, weil schon so viele Anwälte im Bundestag sitzen. Umfragen zufolge wünschen sich nicht einmal alle, die die AfD gewählt haben, eine Koalition der in Teilen rechtsextreme Partei mit der Union.

Von einem einheitlichen Wählerwillen zu sprechen, ist also absurd, aber nützlich. Das Wort suggeriert eine Autorität der Wählerschaft, der sich die Politikerinnen und Politiker angeblich nur beugen. Tatsächlich platzieren sie diese Autorität aber selbst genau dorthin, wo sie ihnen am besten in den Kram passt.

Was ich wirklich will

Mich degradiert das zur Demokratie-Zuschauerin. Gerade noch habe ich bei einem Sonntagsspaziergang ins Wahllokal meinen politischen Willen zum Ausdruck gebracht, und schon entreißen ihn mir irgendwelche Politiker wieder, um selbst anzusagen, was angeblich gewollt wird.

Und das hat quasi nie mit dem zu tun, was ich tatsächlich wollte und will: eine Regierung, die gemeinsam Entscheidungen treffen und umsetzen kann, dabei das Grundgesetz und die Menschenrechte ernst nimmt und das Wohl aller Menschen in diesem Land bestmöglich im Blick hat.

Ich nehme an, dass das auch sehr viele andere Wählerinnen und Wähler wollen. Alle sind es nicht, das zeigen die Wahlergebnisse. Ich weigere mich deshalb, meinen Willen mit deren Willen in einen Topf zu werfen.

10 Kommentare

  1. #1
    Und beide sind über zwei Ecken womöglich Verwandte vom gesunden Menschenverstand.

  2. Danke für den Artikel – volle Zustimmung!
    Und ich kann nachvollziehen, dass Politikerinnen und Politiker das für ihre Argumentation nutzen (ebenso wie die Beispiele von #1 und #2, auch solche Hasswörter), aber Medien müssten genau das regelmäßig hinterfragen…

    Wenn aber Hunderttausende z.B. auf die Straße gehen, um gegen Rechts zu demonstrieren, ist das plötzlich kein Ausdruck des Wählerwillens, sondern eine gesteuerte Kampagne von „Linksradikalen“…es macht mich wirklich traurig

  3. Volle Zustimmung
    Und ein extra Dankeschön für folgenden Vergleich:
    „Der Wille bezieht sich nicht auf die Lieblingseissorte, sondern ist gerne eisern oder unerschütterlich. Wenn der Wille ein Objekt wäre, wäre es grau, eckig und steinhart – perfekt also, um es anderen in Diskussionen vor den Latz zu knallen.“
    Klasse!

  4. Wenn überhaupt – aber bei differenzierter Betrachtung (wie oben) selbst dann nicht – könnte man vom Wählerwillen nur dann reden, wenn a) der Wille überhaupt bei konkreten Projekten abgefragte gewesen wäre (was er nicht ist) oder wenn zumindest die Willenverwirklichenwollenden eine Mehrheit darstellen, was sie ebenfalls nicht tun. Schwarz-Rot wurde von 61% der Wählenden nicht gewählt (Zweitstimme), die nicht genannt werden dürfende Koalition von 57%. Bei Einzelparteibetrachtung fällt das Ergebnis naturbedingt noch desaströser aus. Es hat also im Moment niemand die Berechtigung, von Wählerwillen zu schwafeln. Und selbst wenn es mal die Situation gibt: Ich möchte nicht wissen, wie viele Wählenden einer Partei ihre Stimme geben, obwohl sie nicht mit allem, was sie tut, zufrieden sind.

  5. Als noch größeres Hasswort empfinde ich immer den „klaren Auftrag“ des Wählers, der aus dem Wahlergebnis herausgelesen wird. Schön wär´s ja, wenn auf dem Zettel klare Aufträge erteilt werden könnten, ist aber leider nicht so.

  6. Der Artikel skpricht mir aus der Seele. Ich ärgere mich auch regelmäßig darüber, was aus meiner Entscheidung alles rausgelesen wird. Und ganzbesonders, da ich mich, wie so viele andere, bis zum letzten Moment damit quäle, welche Partei ich denn nun ankreuzen soll. Wie so viele, weiß ich zwar, wen ich sicher NICHT wähle, aber dann finde ich doch bei mehreren Pareien Aussagen, die ich unterschreiben würde, und andere, die ich nur schwer schlucken kann. Und dann kommen noch die wahltaktischen Überlegungen! Und Sympathien und Antipathien. Da lese mal einer den klaren Wählerwillen raus!

  7. Jawoll! Prima. Die Hasswort-Ecke spendet Trost.
    Vielleicht rafft sich mal jemand auf und verfasst ein neues Kompendium im Stile von Eckhard Henscheids „Dummdeutsch“ – mit „Dummdeutsch fürs Wahlvolk“ oder mit dem Sound von Stefan Gärtners „Terrorsprache“.

  8. Ein Text den ich mir schon vor Jahrzehnten gewünscht hatte zu lesen. Vielen Dank dafür. Es ist mit ein Grund warum ich mir keine Wahlabende mehr anschaue. Diese ewig gleichen Floskeln vom Wählerwille. Es ist wie eine ewige Wiederholung – bestenfalls mit wechselnden Akteuren.

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