Mit dem Label „bürgerlich“ wollen sich Parteien abgrenzen – von Rechtsextremen, aber auch von Grünen und Linken. Dabei sind Grünwählerinnen in Großstädten oder Arbeiter, die die SPD wählen, genauso „bürgerlich“ wie Unionsanhänger.
Das Wort „bürgerlich“ klingt wunderbar seriös und vernünftig. Ist aber im politischen Diskurs nichts anderes als ideologische Phrasen-Drescherei, die insbesondere rund um Wahlen anschwillt: Dann werden in Reden und Kommentaren wahlweise „bürgerliche Politik“ oder eine „bürgerliche Regierung“ beschworen. In einem Gastbeitrag in der FAZ warben im Dezember beispielsweise mit Kristina Schröder und Andreas Rödder zwei prominente Konservative für eine „bürgerliche Reformpolitik“ und meinten damit eine Koalition aus CDU und FDP.
In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Im Kern ist das Label der politischen Bürgerlichkeit ein konservativer Kampfbegriff, der gegen alles in Stellung gebracht wird, was als links, grün oder „woke“ gilt. Er gehört zum festen Sprachgebrauch von Christdemokraten und Lindner-Liberalen, um sich als seriöse, vernünftige Alternative zu der angeblich welt- und lebensfremden, öko- und links-ideologischen Politik von SPD, Grünen und Linken zu positionieren.
Medien übernehmen die Wortblase
Leider übernehmen auch journalistische Medien immer wieder diese Wortblase. „Merz gestattet der AfD den Eintritt in die bürgerliche Mitte“, war zuletzt ein Kommentar im Deutschlandfunk überschrieben. Über den grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck heißt es in einem „Tagesschau“-Porträt, im Wahlkampf setze er auf die „bürgerliche Mitte“. Auch im Lokaljournalismus taucht der Begriff auf: „CDU will ‚bürgerliche Politik‘ fortsetzen“, betitelte die „Rheinpfalz“ zum Beispiel eine lokalpolitische Entscheidung.
Nicht immer wird die Phrase im Journalismus derart unbedarft gedroschen, oft steht hinter der Wortwahl sogar ideologisches Kalkül. „Welt“-Redakteur Till-R. Stoldt fordert „anständige bürgerliche Politik“ gegen das behauptete „grün-rote Moralmonopol“. Und sein Herausgeber Ulf Poschardt erklärt die verhasste grüne Politik zur Strafe für „den Opportunismus der Bürgerlichen“. Der stramm konservative „Cicero“ verkündet angesichts von Ampel-Aus und Trump-Triumph das Scheitern des „progressiven Politikmodells“. Es sei nunmehr „Zeit für eine bürgerliche Renaissance“. Der Autor sieht in Deutschland aktuell die „bürgerlichen Parteien“ gefragt.
Eine Großstadtfamilie taugt nicht als „Bürgerschreck“
Historisch betrachtet macht ein Dualismus von Bürgertum und antibürgerlicher Linker durchaus Sinn, wenn man an ausgehängte Klo-Türen in Kommunen und basisdemokratische Lebensgemeinschaften zur Überwindung traditioneller Familienstrukturen der 68er-Generation denkt. Aber weder eine SPD-wählende VW-Facharbeiterschaft noch die vegan lebende und grün wählende Großstadtfamilie taugen heutzutage als Bürgerschreck, sondern sind im Zweifel genauso normalbürgerlich wie diejenigen, die sie verbal ausschließen wollen.
Als analytische Kategorie ist die Unterscheidung bürgerlich/nicht-bürgerlich also meistens eine Nullnummer. Mehr noch, die Floskel ist nicht selten eine strategische Nebelkerze, die eine Politik der „bürgerlichen“ Tugend suggeriert, ohne zu sagen, was das überhaupt sein soll. Solche Tugenden könnten Anstand, Verlässlichkeit, Gesetzestreue oder eine Orientierung am bildungsbürgerlichen Humanismus sein. Doch gemessen an diesen Idealen müssten „bürgerliche“ Lautsprecher eigentlich leisetreten. So hat CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz nicht nur Ressentiments gegen Geflüchtete aus der Ukraine geschürt (Stichwort: „Sozialtourismus“), sondern auch angedroht, eingebürgerten Deutschen mit Doppelpass, die kriminell werden, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder entziehen zu wollen – eine Idee aus dem völkischen Repertoire der extremen Rechten.
Der Autor
Foto: privat
Michael Kraske lebt als Journalist und Buchautor in Leipzig. Sein aktuelles Buch heißt „Angriff auf Deutschland – Die schleichende Machtergreifung der AfD“ (mit Dirk Laabs). Kraske wurde mehrfach für seine publizistische Arbeit ausgezeichnet, zuletzt mit dem Spezialpreis der Otto-Brenner-Stiftung für kritischen Journalismus. Seine Themen sind Rechtsextremismus, Radikalisierung der Gesellschaft und Medien.
Bürgerlich bedeutet also keineswegs per se demokratisch gesinnt oder humanistisch. Die Philosophin Henrike Kohpeiß erkennt in der „FAZ“ angesichts der westlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem täglichen Sterben auf dem Mittelmeer eine „bürgerliche Kälte“. Und das Schmierentheater von Christian Lindners FDP mit dem herbeieskalierten Ampel-Aus inklusive „D-Day“-Planspielen lässt sich auch nur unter großen Anstrengungen als tugendhafte Bürgerlichkeit verkaufen.
Die „bürgerliche Mitte“ wird verklärt
Journalist*innen sollten den Begriff daher ersatzlos aus ihrem Repertoire streichen, wenn sie nicht bereit sind, analytisch dahin zu gehen, wo es gesellschaftlich wehtut. Der große Bruder des vermeintlich guten Bürgers ist nämlich die verklärte „bürgerliche Mitte“ der Gesellschaft, die stets reflexhaft gegen die gefährlichen politischen Ränder links und rechts in Stellung gebracht wird. Die politische „Mitte“ wird dabei nicht nur als demokratischer und wirtschaftlicher Stabilitätsanker gepriesen, sondern auch als ideale gesellschaftliche Normalität, inklusive Argwohn gegenüber abweichenden Lebensentwürfen. Was dazu führt, dass die „bürgerliche Mitte“ sich gern am rechtsradikalen Kulturkampf gegen „Gender-Wahn“, Lastenfahrräder, vermeintliche Regenbogen-Ideologie und „linksgrüne Verbotspolitik“ beteiligt.
Denn dummerweise ist diese „bürgerliche Mitte“ gar nicht so stabil wie sie sich selbst verortet, sondern sogar Teil des wachsenden Demokratieproblems. Die Mitte-Studien über politische Einstellungen in Deutschland haben jahrelang einen dramatischen Anstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausgerechnet bei denjenigen gemessen, die über eine gute Ausbildung und ausreichend Einkommen verfügen.
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat das „rohe Bürgerlichkeit“ genannt. Hinter einer glatten „Stilfassade“ klaffen demnach menschenverachtende Abgründe, die Muslim*innen, Arbeitslosen und Migrant*innen schon mal die Menschenwürde absprechen. Nicht mal aus dem klassisch bildungsbürgerlichen Begriff der Vernunft lässt sich heutzutage eine wie auch immer geartete „bürgerliche Politik“ ableiten. Im Gegenteil sind es „bürgerliche“ Stimmen in Politik und Medien, die den menschengemachten Klimawandel permanent kleinreden und konsequenten Klimaschutz als linksgrüne Willkür verteufeln.
Keine brauchbare Kategorie
Als journalistische Kategorie taugt die konservative Selbstverortungsfloskel „bürgerlich“ also eher nicht. Bei Themen wie Migration, Klimaschutz, Ukraine-Hilfe und dem Schutz der Demokratie vor deren Feinden verläuft die Trennlinie eben nicht zwischen Bürgerlichen und allen anderen. Vielmehr verkleistert der Begriff inhaltliche Argumente, Interessen und Ideologie.
Wie sich Parteien und Personen politisch positionieren, ergibt sich keineswegs automatisch aus Herkunft, Bildungsstand, Einkommen, Habitus oder dem Beruf. Das zu suggerieren, ist eine Falle, in die Redaktionen nicht tappen dürfen. Schließlich geht auch die AfD mit der bürgerlichen Vita ihres Spitzenpersonals hausieren. Doch Migrantinnen als „Kopftuchmädchen“ zu diffamieren (Alice Weidel) oder den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ zu verharmlosen (Alexander Gauland) wird nicht weniger radikal, weil man mal in der CDU war oder Einstecktuch zum Business-Jackett trägt. So gesehen sollten die journalistischen Alarmglocken immer dann läuten, wenn jemand versucht, die eigenen politischen Absichten mit einer wie auch immer gearteten „bürgerlichen“ Pose zu legitimieren.
7 Kommentare
Wenn Weidel Hilter zum Kommunisten machen will, dann nur, um für die rechtsradikale AfD einen Platz im Bürgertum zu reklamieren.
Weil angeblich das Bürgertum immer auf der richtigen Seite steht, quasi unfähig, Fehler zu machen.
Und im Zirkelschluss ist dann alles, was im Namen des Bürgertums geschieht, per definitionem richtig.
Wie sagte Friedemann Karig in der letzten Episode des Piratensender Powerplay Podcast noch so richtig:
„Es braucht keine faschistische Mehrheit, für einen Systemwechsel zum Autoritarismus. Es braucht einen Teil Faschisten und einen noch größeren Teil an Opportunisten.“ ( nicht wörtlich, sondern aus der Erinnerung wiedergegeben. )
Und diese kamen bislang immer aus dem Bürgertum.
Der Merz Union ist imho genau das wieder zuzutrauen. Linnemann, Söder, Spahn, Merz … würden eher mit der AfD unter die Decke steigen, als auf die Macht, und diese zu ihren Bedingungen, zu verzichten.
Im Namen des Bürgertums.
Wenn man „bürgerlich“ im klassischen Sinne als „als Citoyen wirkend“ versteht, trifft diese Zuschreibung auch viel mehr auf Anhänger:innen der Grünen, auf Linksliberale und all die von rechts so gehassten Gutmenschen zu, die für Demokratie demonstrieren gehen, sich zivilgesellschaftlich engagieren und mitmachen, anstatt auf jene, die sich das Attribut gerne ankleben, um antidemokratische und zerstörerische Ansichten zu kaschieren.
Klar sind Grüne vom Lebenslauf her mehr Bürger als sonstwas. Insofern ist Klima- und Umweltschutz durchaus ein „bürgerliches“ Thema. Aus (selbst- oder fremdernannten) Bürgerlichen, die dagegen sind, ein allgemeines Bürgerbashing abzuleiten, funktioniert aber auch nicht.
Ansonsten funktioniert der Begriff „bürgerlich“ nur im Gegensatz zu einem anderen, insofern trifft die Kritik am Begriff schon, daher soll doch jeder, der „bürgerlich“ sagt, sagen, was denn „unbürgerlich“ wäre. Adeliger vs. Bürger, Arbeiter vs. Bürger, Staat vs. Bürger, Bürgerin vs. Bürger, nicht-Bürger vs. Bürger, wer ist es denn heute?
Wer das nicht sagen kann, soll einfach nicht „bürgerlich“ sagen.
Ich zitiere den Autor: So gesehen sollten die journalistischen Alarmglocken immer dann läuten, wenn jemand versucht, die eigenen politischen Absichten mit einer wie auch immer gearteten „bürgerlichen“ Pose zu legitimieren. Ende des Zitats. Frage: Stimmt der Satz auch, wenn ich „bürgerlich“ durch „demokratisch“ ersetze?
@Florian Blechschmied:
Im Gegensatz zu dem Wort „bürgerlich“, ist das Wort „demokratisch“ scharf definiert. Insofern macht der Vergleich wenig Sinn.
Was demokratisch ist und was nicht, läßt sich fein austarieren, aber nicht was bürgerlich ist.
Laut Duden kann dies „Staatsbürgerlich“ bedeuten, aber eben auch „dem Bürgertum angehörend“. Mit dieser Ambivalenz spielend, kann daraus ein Kampfbegriff werden, der vor allem der Exklusion dient. Wir, die Bürger, Die, die anderen.
The policy of us and them.
Kraske schreibt in dem Zusammenhang auch von der „bürgerlichen Mitte“. Hier wird der Begriff noch weiter aufgeladen. Wer der Mitte nicht mehr angehört, der kann ja nur schädlich für die Gesellschaft sein, vice versa sind diejenigen, die die Mitte für sich behaupten können, unbesehen im Recht.
Und dabei ist es ganz egal, wie absurd es wird. Der Bürger ( von „burga“ Schutz ) waren die Einwohner der Städte, die ersten freien Menschen außerhalb des Adels und des Klerus. Aus ihnen wurden die citoyen, nach der frz. Revolution ausgedehnter Begriff auf alle Staatsbürger.
Nicht wenige benutzen den Begriff in der Gegenwart exakt ins Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verdreht: Alle außerhalb der Städte, weil die Menschen in den Städten zu amoralisch und woke seien.
„Wenn Hitler wieder käme, würde sich alles wiederholen, nur würde er diesmal die Mitte für sich reklamieren. Aber mit aller Radikalität“.
Ich meine, das stammt von Dieter Hildebrandt.
Der Satz beschreibt diesen Kampfbegriff sehr gut. Bemerkenswert ist auch, dass viele meinen, dass das, was vor einem halben Jahrhundert unseren Wertekanon ausmachte, auf ewig der Inbegriff des Bürgerlichen wäre. Heteroehe, ius sanguinis, Patriarchat, christliches Bekenntnis … .
Als liesse sich die Thermodynamik einfrieren oder umdrehen.
Also wenn wir (ohne sie zu herabwürdigen!) die wissenschaftliche Betrachtung des Begriffs „bürgerlich“ beiseite lassen und die vulgärsprachliche Bedeutung, die sich in der aktuellen Alltagssprache (@4 eben nicht eingefroren, sondern dynamisch) widerspiegelt, würde ich sagen, „bürgerlich“ bedeutet in etwa:
– Wein statt Bier
– Oper statt Fußball
– Sacko statt Jogginghose
– Alt statt Jung
– Elitär statt Egalitär
– mit Matheschwäche kokettieren statt Geek zu sein
– usw. usf.
Womit ich mit allen Parteien, die mit dem Wort werben, schon per se nicht identifizieren mag :-p
Der Beitrag ist Balsam für die geschundene und strapazierte Leserseele in einer Welt, in der die radikale Mitte, die „Wohlgesinnten“, mal wieder die Deutungshoheit über den gesunden Menschenverstand übernehmen.
Und wieder als Vordenker mit dabei: die grunzkatholischen christlich Denker Schröder und Rödder.
Wenn Weidel Hilter zum Kommunisten machen will, dann nur, um für die rechtsradikale AfD einen Platz im Bürgertum zu reklamieren.
Weil angeblich das Bürgertum immer auf der richtigen Seite steht, quasi unfähig, Fehler zu machen.
Und im Zirkelschluss ist dann alles, was im Namen des Bürgertums geschieht, per definitionem richtig.
Wie sagte Friedemann Karig in der letzten Episode des Piratensender Powerplay Podcast noch so richtig:
„Es braucht keine faschistische Mehrheit, für einen Systemwechsel zum Autoritarismus. Es braucht einen Teil Faschisten und einen noch größeren Teil an Opportunisten.“ ( nicht wörtlich, sondern aus der Erinnerung wiedergegeben. )
Und diese kamen bislang immer aus dem Bürgertum.
Der Merz Union ist imho genau das wieder zuzutrauen. Linnemann, Söder, Spahn, Merz … würden eher mit der AfD unter die Decke steigen, als auf die Macht, und diese zu ihren Bedingungen, zu verzichten.
Im Namen des Bürgertums.
Wenn man „bürgerlich“ im klassischen Sinne als „als Citoyen wirkend“ versteht, trifft diese Zuschreibung auch viel mehr auf Anhänger:innen der Grünen, auf Linksliberale und all die von rechts so gehassten Gutmenschen zu, die für Demokratie demonstrieren gehen, sich zivilgesellschaftlich engagieren und mitmachen, anstatt auf jene, die sich das Attribut gerne ankleben, um antidemokratische und zerstörerische Ansichten zu kaschieren.
Klar sind Grüne vom Lebenslauf her mehr Bürger als sonstwas. Insofern ist Klima- und Umweltschutz durchaus ein „bürgerliches“ Thema. Aus (selbst- oder fremdernannten) Bürgerlichen, die dagegen sind, ein allgemeines Bürgerbashing abzuleiten, funktioniert aber auch nicht.
Ansonsten funktioniert der Begriff „bürgerlich“ nur im Gegensatz zu einem anderen, insofern trifft die Kritik am Begriff schon, daher soll doch jeder, der „bürgerlich“ sagt, sagen, was denn „unbürgerlich“ wäre. Adeliger vs. Bürger, Arbeiter vs. Bürger, Staat vs. Bürger, Bürgerin vs. Bürger, nicht-Bürger vs. Bürger, wer ist es denn heute?
Wer das nicht sagen kann, soll einfach nicht „bürgerlich“ sagen.
Ich zitiere den Autor: So gesehen sollten die journalistischen Alarmglocken immer dann läuten, wenn jemand versucht, die eigenen politischen Absichten mit einer wie auch immer gearteten „bürgerlichen“ Pose zu legitimieren. Ende des Zitats. Frage: Stimmt der Satz auch, wenn ich „bürgerlich“ durch „demokratisch“ ersetze?
@Florian Blechschmied:
Im Gegensatz zu dem Wort „bürgerlich“, ist das Wort „demokratisch“ scharf definiert. Insofern macht der Vergleich wenig Sinn.
Was demokratisch ist und was nicht, läßt sich fein austarieren, aber nicht was bürgerlich ist.
Laut Duden kann dies „Staatsbürgerlich“ bedeuten, aber eben auch „dem Bürgertum angehörend“. Mit dieser Ambivalenz spielend, kann daraus ein Kampfbegriff werden, der vor allem der Exklusion dient. Wir, die Bürger, Die, die anderen.
The policy of us and them.
Kraske schreibt in dem Zusammenhang auch von der „bürgerlichen Mitte“. Hier wird der Begriff noch weiter aufgeladen. Wer der Mitte nicht mehr angehört, der kann ja nur schädlich für die Gesellschaft sein, vice versa sind diejenigen, die die Mitte für sich behaupten können, unbesehen im Recht.
Und dabei ist es ganz egal, wie absurd es wird. Der Bürger ( von „burga“ Schutz ) waren die Einwohner der Städte, die ersten freien Menschen außerhalb des Adels und des Klerus. Aus ihnen wurden die citoyen, nach der frz. Revolution ausgedehnter Begriff auf alle Staatsbürger.
Nicht wenige benutzen den Begriff in der Gegenwart exakt ins Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verdreht: Alle außerhalb der Städte, weil die Menschen in den Städten zu amoralisch und woke seien.
„Wenn Hitler wieder käme, würde sich alles wiederholen, nur würde er diesmal die Mitte für sich reklamieren. Aber mit aller Radikalität“.
Ich meine, das stammt von Dieter Hildebrandt.
Der Satz beschreibt diesen Kampfbegriff sehr gut. Bemerkenswert ist auch, dass viele meinen, dass das, was vor einem halben Jahrhundert unseren Wertekanon ausmachte, auf ewig der Inbegriff des Bürgerlichen wäre. Heteroehe, ius sanguinis, Patriarchat, christliches Bekenntnis … .
Als liesse sich die Thermodynamik einfrieren oder umdrehen.
Also wenn wir (ohne sie zu herabwürdigen!) die wissenschaftliche Betrachtung des Begriffs „bürgerlich“ beiseite lassen und die vulgärsprachliche Bedeutung, die sich in der aktuellen Alltagssprache (@4 eben nicht eingefroren, sondern dynamisch) widerspiegelt, würde ich sagen, „bürgerlich“ bedeutet in etwa:
– Wein statt Bier
– Oper statt Fußball
– Sacko statt Jogginghose
– Alt statt Jung
– Elitär statt Egalitär
– mit Matheschwäche kokettieren statt Geek zu sein
– usw. usf.
Womit ich mit allen Parteien, die mit dem Wort werben, schon per se nicht identifizieren mag :-p
Der Beitrag ist Balsam für die geschundene und strapazierte Leserseele in einer Welt, in der die radikale Mitte, die „Wohlgesinnten“, mal wieder die Deutungshoheit über den gesunden Menschenverstand übernehmen.
Und wieder als Vordenker mit dabei: die grunzkatholischen christlich Denker Schröder und Rödder.