Angela Merkel hat ein Buch geschrieben. In „Freiheit“ erzählt sie von ihrer Kindheit in der DDR, wie es war, als sie das erste Mal auf Donald Trump traf, und wie sie den G20-Gipfel in Hamburg erlebt hat. Um das zu wissen, muss man ihr Buch noch gar nicht gelesen haben – das erscheint ja erst am heutigen Dienstag. Es genügt ein Abonnement der „Zeit“. Denn die veröffentlichte in der aktuellen Ausgabe einen großen, exklusiven, drei Seiten und 35.000 Zeichen langen Vorabdruck des Merkel-Buchs. Auf die Titelseite packte sie ein ikonisches (übrigens neun Jahre altes) Foto von Merkel:
Auf den ersten Blick scheint es wie eine Win-win-win-Situation: Die Leser bekommen einen Einblick in ein noch unveröffentlichtes Buch und können sich überlegen, ob sie es so spannend finden, dass sie es kaufen. Die „Zeit“ kann mit Merkel auf dem Cover und einem exklusiven Vorabdruck Auflage machen. Und Kiepenheuer & Witsch, der Verlag hinter Merkels Buch, kann sich über kostenlose PR freuen. Und damit sind wir auch schon beim Problem.
Es ist eine gängige Praxis, dass Teile aus Büchern, die man als gesellschaftlich relevant erachtet, in der Presse veröffentlicht werden. Neben Merkels Memoiren standen auch schon Auszüge aus Büchern von Robert Habeck, Altkanzler Helmut Schmidt und dem ehemaligen Vizekanzler Joschka Fischer in der „Zeit“. Vorabdrucke könnten „ein Gewinn sein, wenn der Text möglichst exklusiv und vor Erscheinen im Blatt und online veröffentlicht werden kann“, schreibt eine Verlagssprecherin der „Zeit“ auf Übermedien-Anfrage. Worin genau dieser Gewinn besteht, schreibt sie nicht. Sie teilt außerdem mit, dass die Redaktion bei Vorabdrucken in der Regel die entsprechenden Passagen selbst auswähle, „zumeist in Absprache mit den Autorinnen und Autoren sowie ihren Verlagen“. Wie das bei Merkels Buch genau war, führt sie nicht näher aus.
Auch in anderen Medien ist der Vorabdruck ein beliebtes Format. Bei der FAZ konnte man die Memoiren von Aktivistin Greta Thunberg in Auszügen lesen, die „Bild“ gab einst „Klartext-Politiker“ Thilo Sarrazin die große Bühne und veröffentlichte heute ebenfalls Teile aus Merkels neuem Buch.
Dabei stellt sich die Frage: Wo ist eigentlich der Unterschied zur Werbung?
Vorabdrucke sind Leseproben und Leseproben sind ein Marketing-Instrument von Buchverlagen und Buchhandlungen. Mit einem Blick in das Buch wollen sie Interessenten die Kaufentscheidung leichter machen. Die Aufgabe von Journalismus ist eine andere. Journalismus rezensiert, kritisiert, ordnet ein – und insbesondere wenn es um Politiker geht, sollte er nicht einfach blind deren Sichtweisen übernehmen. Kopiert man einfach sieben Kapitel aus Merkels Memoiren in die „Zeit“, findet weder Einordnung noch Kritik statt. Streng genommen müssten die drei Seiten im Dossier also als Anzeige geschaltet werden.
Das Dilemma mit der Aufmerksamkeit
Medien und Journalisten stehen vor dem unlösbaren Dilemma, dass sie in gewisser Weise immer für etwas werben, wenn sie einer Sache Aufmerksamkeit und eine öffentliche Debatte schenken. Das ist kein alleiniges Problem des Vorabdrucks: Auch Kritiken, Rezensionen und Interviews sind nicht davor gefeit – ganz egal, wie kritisch oder negativ sie sind. Wenn der „Spiegel“ ein langes Interview mit Angela Merkel zum Erscheinen ihres Buchs veröffentlicht und Merkel auf das Cover druckt, verschafft er dem Buch auch automatisch Aufmerksamkeit.
Aber Rezensionen und Interviews mit Autoren liefern einen Mehrwert – im Gegensatz zum reinen Vorabdruck des Buchs: Sie tragen durch Argumente zu einer Diskussion bei oder öffnen durch kritische Fragen eine andere Sichtweise auf ein Thema.
Abgesehen davon, dass Angela Merkel die Autorin ist, erfüllt der Vorabdruck in der „Zeit“ inhaltlich kaum ein Relevanzkriterium. Es steht nicht wirklich etwas Neues darin. Ein Text, der so ausführlich und teilweise zäh ist, würde ein klassisches Redigat kaum überleben. Und wenn, dann wäre er danach viel kürzer. „Spiegel“-Autor Stefan Kuzmany schreibt in seiner Rezension über die Langatmigkeit des Merkel-Werks:
„Die Lektüreerfahrung lässt sich zusammenfassend so beschreiben, wie Merkel selbst auf Seite 104 die zu DDR-Zeiten schwierige Besorgung wissenschaftlicher Fachliteratur aus dem westlichen Ausland charakterisiert: ‚Es war ein mühsamer Prozess.'“
Abgesehen davon hätte auch eine kritische Einordnung zu Merkels Text in der „Zeit“ nicht geschadet. Zum Beispiel an der Stelle, an der sie über den G20-Gipfel in Hamburg, der von Gewalt und Ausschreitungen überschattet wurde, folgendes schreibt:
„Die Hamburger Polizei bilanzierte nach dem G20-Treffen, dass 23.000 Polizisten eingesetzt und 592 von ihnen verletzt worden waren. Kritik an dem Einsatzkonzept der Hamburger Polizei wurde laut. Ich entschloss mich, mich an diesen Diskussionen nicht zu beteiligen und trotz der Fragen, die auch ich zu dem Einsatz hatte, den Schulterschluss mit Olaf Scholz zu suchen.“
Bereits vor dem Gipfel wurde Kritik an Merkels Wunsch laut, das Treffen unbedingt in Hamburg stattfinden zu lassen. Bedenken von Sicherheitsbehörden und Erkenntnisse über die starke autonome Szene der Stadt wies Merkel allerdings schon 2017 von sich. Auch in ihrem Buch wischt sie die Kritik schnell beiseite. Wenn dazu aber der Kontext fehlt, gibt es eigentlich gar keinen Grund für eine Zeitung, so etwas überhaupt zu veröffentlichen.
Angela Merkel breitet auf drei sehr großen „Zeit“-Seiten komplett unhinterfragt ihre Sichtweise auf 16 Jahre Kanzlerschaft aus. Es ist absurd: Sie wird zum Titelthema der „Zeit“, ohne sich in irgendeiner Art und Weise Journalisten stellen zu müssen.
Merkel hat die Wahl
Wenn Bücher gesellschaftlich relevant und es wert sind, in einer Zeitung besprochen zu werden, sollte das mit einer Buchkritik statt mit copy & paste geschehen. Der „Spiegel“ schreibt in einem Begleitartikel zum Merkel-Interview zwar, dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch „keine Vorabexemplare des Buchs an Rezensenten“ verschickt habe. Mindestens aber der „Spiegel“ selbst muss eins gehabt haben, sonst hätte er die Fragen im Interview mit der Altkanzlerin nicht so stellen können, wie er es getan hat. Genauso wie die „Bild“. Auf Übermedien-Anfrage schreibt auch die „Zeit“, dass der Redaktion das Buch vor Veröffentlichung vorlag. Eine Rezension wäre also drin gewesen.
Der „Spiegel“ beschreibt auch, wie sich sämtliche Verlage die Finger danach geleckt haben, Merkels Buch zu verlegen. Statt ewig auf die Suche zu gehen, konnten sich Merkel und ihre Co-Autorin Beate Baumann den Verlag einfach aussuchen. Gleiches gilt für die jetzige Vermarktung. So teilte die Comedienne Hazel Brugger am Dienstag in einem als Werbung gekennzeichneten Post bei Instagram mit: Merkel habe sich „gewünscht“, mit ihr, Brugger, über das Buch zu reden. Brugger ist diesem Wunsch im Auftrag des Verlags nachgekommen.
Die Vermutung liegt nahe, dass das bei der Zeitung, die die ersten Auszüge aus ihrem Buch veröffentlichen durfte, ähnlich war und Merkel die Wahl hatte. Doch die „Zeit“ hätte es Merkel nicht alleine überlassen sollen, ihre Geschichte zu erzählen. Wer das lesen will, sollte das Buch kaufen. Und nicht die „Zeit“.
Nachtrag, 27.11.24: Die „Zeit“ gehört wie der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der Merkels Buch verlegt hat, zur Holtzbrinck Publishing Group. Danke für den Hinweis in den Kommentaren.
Nachtrag, 02.12.24: Wir haben die „Zeit“ gefragt, warum die Redaktion die Verbindung beider Verlage nicht transparent gemacht hat. Eine Sprecherin ging in ihrer Antwort an uns auf diese Frage allerdings nicht ein. In der Stellungnahme heißt es bloß: „‘DIE ZEIT’ entscheidet über Vorabdrucke in völliger Eigenständigkeit – und unabhängig von den Gesellschafter-Strukturen der betreffenden Verlage.“
Andere Medien legen ähnliche Konstellationen durchaus offen. Unter einem Interview mit dem Historiker und Autor Yuval Noah Harari heißt es im „Stern“ etwa: „Transparenzhinweis: Der stern gehört wie die Verlagsgruppe Penguin Random House zum Bertelsmann-Konzern.“
Die Autorin
Johanna Bernklau studiert Datenjournalismus in Leipzig und schreibt nebenbei für die Medienkolumne „Das Altpapier“ beim MDR. In den Journalismus hat sie durch ein Volontariat bei der „Passauer Neuen Presse“ gefunden. 2022 und 2023 war sie Mitglied in der Jury des Grimme Online Awards. Für Übermedien betreut sie die Serie „Wieso ist das so?“.
5 Kommentare
Ich finde, es müsste bei uebermedien.de in diesem Titel auch recherchiert und klar dargelegt werden, dass DIE ZEIT und der Verlag der Memoiren Kiepenheuer und Witsch zum gleichen Konzern gehören und inwiefern die Zeitung das in der Berichterstattung und dem Voradruck nicht deutlich selbst thematisiert.
G20HH. Weil es ihre Heimatstadt ist?!
Und dann wieder die gefaketen Zahlen der Polizei-HH unter Polizeiführer Noske – ach nee, Pardon – Dudde.
Damit Dinner und Konzert in der Hafencity/Elbphilharmonie stattfinden konnten, wurden alle pot. Störer auf das Schulterblatt gelenkt und dort festgesetzt.
So konnte man die restlichen Kräfte auf die Hafencity konzentrieren und den Mob sich in der Schanze austoben lassen. Um das Nichteinschreiten ( solange das Dinner noch lief ) zu erklären, wurden dann schwerste Bewaffnungen erfunden ( Molotowcocktails vom Dach, Gerüststangen , Stahlkugeln … ) , deren Reste dann angeblich noch in der Nacht von den Chaoten heimlich wieder entfernt wurden. So daß man nichts vorweisen konnte.
Die Verletztenzahlen der Polizei lächerlich dramatisiert, Polizeigewalt gab es gleich gar nicht. In der Nacht streiften Spezialeinheiten aus Sachsen mit Laservisieren auf ihren automatischen Waffen durchs Viertel und zielten auf Menschen hinter Fensterscheiben.
Wir haben 2 Wochen unter Besatzung gelebt. 1 Woche mit 24/7 mindestens 8-10 Hubschrauber am Himmel. Bewegungsfreiheit nach Belieben eingeschränkt.
Weil es ihre Heimatstadt ist.
Ich habe in Hamburg schon eine Menge erlebt. Das war die Spitze.
Danke Angie!
Ich sag mal so: nur Zeitungen, die hoch und heilig versprechen, keine Rezension, Kritik oder sonstwas anderes als die Kapitel zu veröffentlichen die Merkel(s Verlag seine PR-Abteilung) für würdig befindet, wurden für würdig befunden, mit der Veröffentlichungserlaubnis beehrt zu werden.
Hofberichterstattung halt.
Ich würde gerne nochmal fragen: DIE ZEIT erscheint im gleichen Holtzbrink Unternehmens-Verbund wie Merkels Autobiografie. Ich bin sicher, die Redaktion arbeitet unabhängig. Aber wenn die Zeit einen großen Vorabdruck bringt, eine Vielzahl von Artikeln, die Buchvorstellung im Deutschen Theater live streamt und auf die Webseite stellt, gestern eine große Rezension von Timothy Garton Ash veröffentlicht und heute eine große Rezension von Navid Kermani und nirgendwo steht – jedenfalls online – der kleinste Hinweis auf diese unternehmerische Verbindung, wäre das nicht ein Thema, was uebermedien.de in diesem Artikel erwähnen und nachfragen müsste? Es kann ja viele Gründe geben, warum eine Redaktion gleich bei mehreren Edelfedern, die regelmäßig für DIE ZEIT arbeiten, Rezensionen in Auftrag gibt. Aber wenigstens zu sagen, es gibt eine Verbindung, wir haben nichts zu verbergen. Wir kümmern uns hier extrem intensiv um dieses Buch, aber nur weil wir es so interessant finden. Aber Aufmerksamkeit bedeutet auch Buchverkäufe. Machen andere Medienkonzerne auch. Aber nochmal: Hinweise wären schon das Mindeste, oder?
@ Thomas: Stimmt, danke für den Hinweis und die wichtigen Punkte! Wir haben das jetzt ergänzt und auch noch eine entsprechende Anfrage an „Die Zeit“ geschickt.
Ich finde, es müsste bei uebermedien.de in diesem Titel auch recherchiert und klar dargelegt werden, dass DIE ZEIT und der Verlag der Memoiren Kiepenheuer und Witsch zum gleichen Konzern gehören und inwiefern die Zeitung das in der Berichterstattung und dem Voradruck nicht deutlich selbst thematisiert.
G20HH. Weil es ihre Heimatstadt ist?!
Und dann wieder die gefaketen Zahlen der Polizei-HH unter Polizeiführer Noske – ach nee, Pardon – Dudde.
Damit Dinner und Konzert in der Hafencity/Elbphilharmonie stattfinden konnten, wurden alle pot. Störer auf das Schulterblatt gelenkt und dort festgesetzt.
So konnte man die restlichen Kräfte auf die Hafencity konzentrieren und den Mob sich in der Schanze austoben lassen. Um das Nichteinschreiten ( solange das Dinner noch lief ) zu erklären, wurden dann schwerste Bewaffnungen erfunden ( Molotowcocktails vom Dach, Gerüststangen , Stahlkugeln … ) , deren Reste dann angeblich noch in der Nacht von den Chaoten heimlich wieder entfernt wurden. So daß man nichts vorweisen konnte.
Die Verletztenzahlen der Polizei lächerlich dramatisiert, Polizeigewalt gab es gleich gar nicht. In der Nacht streiften Spezialeinheiten aus Sachsen mit Laservisieren auf ihren automatischen Waffen durchs Viertel und zielten auf Menschen hinter Fensterscheiben.
Wir haben 2 Wochen unter Besatzung gelebt. 1 Woche mit 24/7 mindestens 8-10 Hubschrauber am Himmel. Bewegungsfreiheit nach Belieben eingeschränkt.
Weil es ihre Heimatstadt ist.
Ich habe in Hamburg schon eine Menge erlebt. Das war die Spitze.
Danke Angie!
Ich sag mal so: nur Zeitungen, die hoch und heilig versprechen, keine Rezension, Kritik oder sonstwas anderes als die Kapitel zu veröffentlichen die Merkel(s Verlag seine PR-Abteilung) für würdig befindet, wurden für würdig befunden, mit der Veröffentlichungserlaubnis beehrt zu werden.
Hofberichterstattung halt.
Ich würde gerne nochmal fragen: DIE ZEIT erscheint im gleichen Holtzbrink Unternehmens-Verbund wie Merkels Autobiografie. Ich bin sicher, die Redaktion arbeitet unabhängig. Aber wenn die Zeit einen großen Vorabdruck bringt, eine Vielzahl von Artikeln, die Buchvorstellung im Deutschen Theater live streamt und auf die Webseite stellt, gestern eine große Rezension von Timothy Garton Ash veröffentlicht und heute eine große Rezension von Navid Kermani und nirgendwo steht – jedenfalls online – der kleinste Hinweis auf diese unternehmerische Verbindung, wäre das nicht ein Thema, was uebermedien.de in diesem Artikel erwähnen und nachfragen müsste? Es kann ja viele Gründe geben, warum eine Redaktion gleich bei mehreren Edelfedern, die regelmäßig für DIE ZEIT arbeiten, Rezensionen in Auftrag gibt. Aber wenigstens zu sagen, es gibt eine Verbindung, wir haben nichts zu verbergen. Wir kümmern uns hier extrem intensiv um dieses Buch, aber nur weil wir es so interessant finden. Aber Aufmerksamkeit bedeutet auch Buchverkäufe. Machen andere Medienkonzerne auch. Aber nochmal: Hinweise wären schon das Mindeste, oder?
@ Thomas: Stimmt, danke für den Hinweis und die wichtigen Punkte! Wir haben das jetzt ergänzt und auch noch eine entsprechende Anfrage an „Die Zeit“ geschickt.