„Aufbruch, wohooou“

Do They Know It’s Kulturwandel Time im NDR?

Die dritte Adventswoche. Im Radio wechseln sich routiniert „Last Christmas“ und „White Christmas“ und „Driving Home for Christmas“ und „All I Want For Christmas“ ab. Nur im NDR erklingt eine ganz neue Weihnachtshymne. Auf die Melodie des Band-Aid-Klassikers „Do They Know It’s Christmas“ von 1984 singen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Senders die Freude über den wiedergefundenen Spaß an der Arbeit von der Seele.

Produktion ohne Midge Ure Screenshot: NDR

Das Lied beginnt im Dunkel der Krise – mehrere Enthüllungen über Missstände hatten den Sender bekanntlich Mitte vergangenen Jahres erschüttert. Als Erlöser taucht dann kein geringerer als Intendant Joachim Knuth höchstselbst auf:

Stimmung war schlecht
Seele braucht Re-Paratur
Vertrauen war weg
Wir brauchen neue Firm’kultur

Dann unser Chef gab uns den Auftrag
ein wichtiges Signal
gründet schnell ’nen Kulturkreis
ist das genial

Es sind Mitglieder dieses „Kulturkreises“, die in einem musikvideoartigen, dreieinhalbminütigem Film, der im Intranet als Teil eines Adventskalenders veröffentlicht wurde, zu hören und zu sehen sind. Inbrünstig besingen sie ein neues Sender-Glück:

Kein Stress, kein Schlips
Newsrooms voll Lockerheit
Raum voll Ideen
wirklich tolle Zusamm’arbeit

Kreative Meetings, Motivation
Energie, Inspiration
Vorgesetzte voll Vertrau’n
nicht kann die Zuversicht versau’n

Und der Teamgeist schützt vor Krach
die Hierarchie ist endlich flach
denn Kulturwandel ist daaaa
im NDR

Zur Vorgeschichte muss man wissen, dass Joachim Knuth als Reaktion auf externe und interne Kritik eine „Klimaanalyse“ in Auftrag gegeben hatte. Das Ergebnis war ein erstaunlich schonungsloser Bericht, und eine Konsequenz daraus die Gründung eben jenes „Kulturkreises“, der besetzt ist mit Vertretern verschiedener Gruppen und Prioritäten setzen soll, welche der vielen Baustellen wie angegangen wird.

Und der der Belegschaft nun große Freude verkündet:

Im Büro erklingt ein Lachen
Spaß wird nicht versteckt
Zusammenarbeit, Basis ist Respekt
Wo jeder nur noch schwärmt
der Wandel Herzen uns erwärmt
Wir wandeln Kultur im NDR!

Skeptische Stimmen mögen nun zweifelnd einwenden: Ist der NDR wirklich schon am Ziel? Aber für solche Fragen – und die Antworten! – gibt es ja die Bridge:

Ist’s so weit
sind wir wirklich schon am Ziel?
Nein noch nicht
doch noch immer läuft das Spiel
Wir wandeln Kultur im NDR!

Finale:

Jauchzet, frohlocket, kulturwandelt!Screnshot: NDR

Aufbruch
Wohooou
Aufbruch
Wohooou
Aufbruch
Wohooou
Lass uns Kultur zusammen wandeln!
Aufbruch
Wohooou
Lass uns Kultur zusammen wandeln!
Aufbruch
Wohooou
Lass uns Kultur zusammen wandelllln!

Man muss es vielleicht gehört haben:

 

Im Intranet schwanken die Reaktionen zwischen Begeisterung und Fassungslosigkeit. Manche fremdeln mit der Frohen Botschaft von dem Chef mit der genialen Idee, der „uns den Auftrag gab“. Andere finden das Signal, eine solche „Rockoper“ aufzunehmen, auch inhaltlich falsch. Und einer schreibt, dass die ernsthaften Probleme, die viele Mitarbeiter mit dem NDR und wegen seiner Unternehmenskultur haben, durch das Video bagatellisiert werden.

Böse Menschen meinen, die singenden Kulturwandler im weihnachtlichen Gewand müssten Geiseln von Joachim Knuth sein, anders ließe sich das gar nicht erklären. Das widerspricht aber natürlich eklatant der Besinnlichkeit der Jahreszeit und der Gutgemeintheit des Ganzen.

11 Kommentare

  1. Das ist schon beim Lesen so unfassbar peinlich, dass ich hoffe, es nie versehentlich hören zu müssen…

  2. Fremdschämlyrik vom Feinsten. Man windet sich buchstäblich 3 Minuten lang. Früher wurden für solche Employer-Branding-Katastrophen nur Azubis missbraucht:
    https://www.youtube.com/watch?v=zZwzjQdPzG8
    Heute sind wohl alle dran.

    Zum niveauhebenden Ausgleich ein paar wohltuende Zeilen aus dem Werk Lothar Frohweins:
    Krawehl, Krawehl!
    Taubtrüber Ginst am Musenhain!
    Trübtauber Hain am Musenginst!
    Krawehl, Krawehl!

  3. @MFD (#3):

    Früher wurden für solche Employer-Branding-Katastrophen nur Azubis missbraucht

    Hier muss ich an die grandiose Theater-Satire „Der Firmenhymnenhandel“ von Thomas Ebermann denken: Darin versucht ein schmieriger Hymnenhändler, gespielt von Robert Stadlober, den Kunden so einen Qutasch anzudrehen.

    Die Songs sind zum Umfallen komisch, allerdings auch um Längen besser als die echten Firmenhymnen – komponiert und eingespielt durch die Creme der Hamburger Popszene von Bernadette La Hengst bis Dirk von Lowtzow. Hätte sich der NDR vorher mal anschauen sollen, dann hätte er sich das hier verkniffen.

  4. Vorab, ich bin NDR Mitarbeiter und das Video trifft auch nicht ganz meinen Geschmack, aber ganz offensichtlich ist es eine interne Geschichte, keiner der Beteiligten musste davon ausgehen im WWW zur Schau gestellt zu werden. Daß ein NDR Mensch es schlau fand das an ÜM zu lancieren ist das Eine, dass die Redaktion es dann richtig fand daraus eine Story zu machen ist, meiner Meinung nach, ÖR Bashing um jeden Preis.

  5. @Georg Kowallek: Ich kann die Kritik nachvollziehen, aber es ging uns wirklich nicht um ÖR-Bashing um jeden Preis – ich hab auch versucht, sie nicht als solche aufzuschreiben.

    Das ist doch einerseits einfach eine schräge und lustige Geschichte. Und andererseits hat sie schon eine Relevanz, weil sie etwas aussagt über diesen ganzen Kulturwandel-Prozess im NDR und was daraus geworden ist. Wir haben uns auch bemüht, die einzelnen Beteiligten nicht zur Schau zu stellen durch Screenshots o.ä.

  6. Was aber ein bisschen untergeht, von ihnen in einem Nebensatz erwähnt, ist die Tatsache, dass es eben nicht eine Präsentation der Ergebnisse oder des Standes dieses Kulturkreises ist, sondern ein Beitrag, von ca 24, zu einem Adventskalender. Just saying.

  7. Aha, auch der NDR hat inzwischen Sekten-Charakter? Für den WDR gilt das schon länger. Da werden schon mal Fotos von Agentur-erfundenen Beispiel-Hörer*innen angebetet. Erinnert stark an alberne „Chakka“-Motivationsseminare für Führungskräfte und solche, die es werden wollen. Peinlich! Journalistische Inhalte, vertrauensvolles Miteinander aller Mitarbeitenden, Wertschätzung, geförderte Kreativität, Mut? Alles Werte von gestern, heute zählen nur noch Quote um absolut jeden Preis, billig & willig, Verpackung statt Inhalt! Die Tralalaisierung der ARD schreitet voran – mit schnellem Schritt der Eigen-Abschaffung entgegen. Anfangs fand ich das traurig, jetzt konsequent!

  8. Moin.

    Auch ich arbeite im NDR (und bin Übonnent) und fand das Video (vor allem den Text) gar nicht gelungen. Das ist aber etwas, was wir im Haus diskutieren sollten. Ich kann, auch nach Lesen der Kommentare, die Relevanz dieses Artikels nicht erkennen.

    Das interne Diskutieren über dieses Video war aber an der eigentlich richtigen Stelle plötzlich nicht mehr möglich. Grund: die Kommentarfunktion am Weihnachtskalenderblatt-Artikel zum Video wurde abgeschaltet, weil neu Kommentierende vor dem nicht unwahrscheinlichen Leak ihres Kommentars geschützt werden sollten.

    Apropos Leak: mir fehlt an diesem Artikel der deutliche Transparenzhinweis, dass Boris Rosenkranz regulär auf das Intranet des NDR zugreifen kann. Boris steht dort im Adressbuch, das automatisch mit den aktuellen Daten der IT gefüllt wird. Ich halte Boris für integer und denke, dass er diese Vertrauensstellung nicht ausgenutzt hat. Aber ich finde es schon wichtig, diesen Interessenskonflikt transparent zu erwähnen.

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