Süddeutsche Zeitung

Die Mär, wie Portugal und Spanien vom „guten Weg“ abkamen

Das Narrativ kennt man: Konservative Regierungen führen Krisenländer mit eiserner Disziplin zurück zum Erfolg. Linke machen dann alles wieder kaputt. Die „Süddeutsche Zeitung“ erzählt diese Geschichte gerade wieder über Portugal und Spanien. Ein Widerspruch dazu aus Lissabon: von Paulo Pena, Reporter der Tageszeitung „Publico“ und Mitglied des Netzwerkes Investigate Europe.

Anti-Troika-Demonstration in Lissabon 2013 Foto: Pedro Ribeiro Simões

Thomas Urban, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Madrid, schrieb kürzlich, dass sowohl Portugal als auch Spaniens Reformen von dem „guten Weg“ abgekommen seien, auf dem sie sich befunden hätten. Seine Argumentation ist einfach:

1. Die Sozialisten haben in beiden Staaten wirtschaftliche Probleme ausgelöst. (Lassen wir das mal so stehen, obwohl man leicht bei Wikipedia nachlesen kann, dass in den vergangenen 26 Jahren, seit 1990, sowohl in Portugal als auch in Spanien Sozialisten und Konservative ungefähr jeweils 13 Jahre an der Regierung waren.)

2.Die Konservativen haben dann die Probleme beider Staaten „gelöst“.

3. Danach haben die Bürger sowohl in Lissabon als auch in Madrid, falsch gewählt.

Urban ist nicht der erste Autor, der den Wahlentscheidungen von Bürgern die Schuld gibt, und er wird nicht der letzte sein. Ich schätze, dass wenigstens einmal im Leben jeder von uns schon mal der Wahlentscheidung eines Volkes die Schuld gegeben hat.

Aber als Journalist sollte Urban zutreffende Belege für solche Behauptungen vorbringen. Stattdessen springt er in Treibsand:

(…) obwohl die Sparrezepte anschlugen, verloren bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015 in beiden Ländern die Konservativen ihre Mehrheiten im Parlament.

Zu behaupten, dass die Sparprogramme ein Erfolg waren, ist gewagt – und falsch. Im Gegenteil: Gegen Portugal und Spanien hat die Europäische Kommission Verfahren gerade wegen ihrer übermäßigen Defizite eingeleitet, weil die Sparprogramme – Überraschung! – nicht erfolgreich waren.

Haushaltsdefizit, Wachstum, Arbeitslosigkeit und Schulden – bei keinem dieser Punkte sind die Ziele erreicht worden, die in dem Vertrag („Memorandum of Understanding“) zwischen der portugiesischen Regierung und der Troika (Europäische Zentralbank, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds) festgelegt wurden. Man kann das leicht überprüfen an Hand der Prognosen des makroökonomischen Szenarios, das diesem Vertrag zu Grunde lag. Ein detaillierterer Überblick findet sich in diesem unverdächtigen Bericht des IWF über den Ablauf des Kreditprogramms.

Aber der schlimmste Teil des Artikels kommt danach. Konzentrieren wir uns auf Portugal, das Land, über das ich jeden Tag schreibe.

Urban zählt einige Beispiele auf, was in Portugal gerade falsch läuft. Aber seine Beispiele sind … falsch.

Er behauptet, dass die Gehalts- und Pensionskürzungen wieder rückgängig gemacht wurden. Es stimmt, dass sie allmählich wieder zurückgenommen werden. Aber das hat nichts mit dem Narrativ des Journalisten vom „richtigen“ oder „falschen Weg“ zu tun. Es ist die Folge einer Entscheidung des Verfassungsgerichtes, wonach die Gehalts- und Pensionskürzungen, die während der Troika-Jahre gemacht wurden, nur vorübergehend gelten dürfen. Selbst die Mitte-Rechts-Regierung, die diese Kürzungen vorgenommen hat, versprach, sie im Fall eines Wahlsieges allmählich rückgängig zu machen. Und: die „kräftige“ Anhebung des Mindestlohnes, wie der SZ-Korrespondent es nennt, entpuppt sich als Erhöhung um 25 Euro pro Monat. Er lag bei 505 Euro 2015, jetzt sind es 530 Euro.

Als Folge davon, behauptet Urban, „stagnieren saisonbereinigt die Arbeitslosenzahlen“. Das ist offenkundig falsch. Die Zahl der Arbeitslosen ist um zehn Prozent gefallen (in der Euro-Zone waren es sechs Prozent, in der EU insgesamt sieben Prozent).

Diese Tatsache kann jeder auf der englischsprachigen Seite des portugiesischen Statistikamtes überprüfen. Die Überschrift: „Arbeitslosenquote: Endgültige Schätzungen für Juni setzen Abwärtstrend fort.“ Die Arbeitslosenquote ist die niedrigste seit dem Beginn der Krise 2011. Gleichzeitig nimmt auch die Zahl der Auswanderer ab.

Schließlich behauptet Urban: „In den vergangenen Monaten wurden massenhaft portugiesische Bonds abgestoßen, sie werden wieder knapp über Ramschniveau notiert.“ Auch das ist falsch. Es gibt auch hier eine offizielle Seite, auf Englisch, wo jeder die Behauptung überprüfen kann anhand der portugiesischen Behörde für Staatskasse und Schulden.

Der letzte Teil des Satzes, die Formulierung „knapp über Ramschniveau“, ist ein bisschen lustig. Denn genau damit begann alles.

Nur eine Ratingagentur (DBRS) wertet portugiesische Anleihen über Ramschniveau. Alle anderen (S&P, Fitch und Moody’s) haben sie 2011 auf dieses Niveau gesenkt. Und obwohl der deutsche Journalist entschlossen war, „Erfolg“ in den Jahren der Anpassung danach zu finden, gab es keine Neubewertung dieser Ratings von den Agenturen. Portugiesische Anleihen liegen nach dem Urteil von drei von vier Ratingagenturen nicht über Ramschstatus, sondern darunter. Und das hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht geändert, also kann man alle Formulierungen von den „vergangenen Monaten“ oder dem „wieder gelistet“ vergessen.

Das ist vielleicht das Hauptproblem dieses Artikels. Der Korrespondent schreibt, als würde er Argumente für einen Gastbeitrag auf der Meinungsseite sammeln oder für eine politische Talkshow – ohne irgendeine Pflicht, sie auch zu belegen.

Im ersten Absatz beschreibt der Autor, was er sieht, aber das Bild ist verschwommen. Urban behauptet, dass die iberischen Metropolen boomen, mit „prachtvollen Wachstumszahlen“, über die sich die auf Renovierung von Altbauten spezialisierten Firmen angeblich freuen. Schaut man sich die tatsächlichen „Wachstumszahlen“ an, stellt man fest: Sie sind seit Jahren unter null.

Die Bautätigkeit ist in Portugal in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Der Anteil der Baubranche am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen drei Monaten erneut gefallen.

An zwei anderen Kennzahlen lässt sich dasselbe zeigen: Die Nachfrage nach Beton ist um 4,9 Prozent gefallen, und die nach Stahl sinkt auch, ganz zu schweigen von den Krediten, die der Baubranche gewährt werden. Kredite für Haushalte sind im April, Mai, Juni und Juli gefallen. Spricht das für einen Bauboom?

Thomas Urban sah eine Hypothese und setzte zum Sprung an. Er ist nicht sicher gelandet.

Auch seine nächsten Schlussfolgerungen sind gewagt: „Noch nie kamen so viele Urlauber an die Strände von der Costa Brava im Nordosten bis zur Algarve im Südwesten.“ Er erklärt nicht, was Tourismus mit dem angeblichen Rückkehr Portugals auf den falschen wirtschaftlichen Weg zu tun hat, eine Politik, die er einseitig so zusammenfasst: „In beiden Hauptstädten versuchten die regierenden Sozialisten das Desaster mit Konjunkturprogrammen abzuwenden, scheiterten aber und hinterließen nur gewaltige Haushaltslöcher.“

Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in Portugal und Spanien. Das liegt schon wegen der Lage und dem Wetter auf der Hand. Das ist keine politische Entscheidung: Jede Regierung kann die Strände und historischen Stätten ihres Landes in den internationalen Medien bewerben, aber davon kommen noch keine Touristen. Jeder deutsche SZ-Leser könnte mit gesundem Menschenverstand wissen, was wichtiger ist als die Entscheidungen der örtlichen Regierungen:  die geopolitische Situation. Die Bedrohung durch Terroristen, die Krise im südlichen Mittelmeer und die Unruhe in der Türkei sind gute Hinweise darauf, warum Portugal und Spanien von einem Wachstum im Tourismus profitieren.

Journalisten versuchen immer, eine knifflige Frage zu beantworten: Warum?

Ich habe im konkreten Fall keine Antwort darauf. Auch nicht, wie eine der einflussreichsten deutschen Zeitungen in einem Stück über die Wirtschaftssituation in Portugal und Spanien so viele falsche Tatsachenbehauptungen unterbringen kann. Kann eine ideologische Schieflage als journalistischer Bericht dargestellt werden? Und was sagt ein solcher Artikel darüber aus, in welchem Maß die gegenwärtigen europäischen Probleme falsch dargestellt werden?

Journalismus ist ein wichtiges Mittel, um Bürger mit zutreffenden Informationen zu versorgen, die es ihnen erlauben, informierte politische Entscheidungen zu treffen. Aber er kann auch ein Schleier sein, der die Wahrheit mit Vorurteilen und falschen Beheauptungen verdeckt. Auf diese Grundlage kann man keine echte Debatte führen.

Im Europa von heute steht zu viel auf dem Spiel, um eine solche Entstellung der Wirklichkeit zu ignorieren.

Nachtrag, 15. September. Die SZ hat zwei Details in ihrem Artikel korrigiert „aktualisiert“:

*Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Artikel an zwei Stellen aktualisiert. In einer früheren Version hieß es: „Saisonbereinigt stagnieren die Arbeitslosenzahlen“. Wir haben in dem Satz den Hinweis auf Zeitverträge ergänzt. Außerdem hieß es, portugiesische Bonds „werden wieder knapp über Ramschniveau notiert.“ Mehrere Rating-Agenturen bewerten Portugals Staatsanleihen seit Jahren als Ramsch. Wir haben präzisiert, dass nun die Renditen wieder steigen.

18 Kommentare

  1. Im Wirtschaftsteil der SZ läuft das so seit ich die SZ kenne.
    Anfangs war das ein eklatant auffälliger Niveaubruch im Vergleich zum Niveau der Arbeit der anderen SZ-Redaktionen. Ich habe es kopfschüttelnd in Kauf genommen wegen der damals ansonsten herausragenden Qualität der SZ:
    – Durchdringungstiefe und -Wille über die holzschnittartigen Spontan-Reflexe hinaus und
    – Ernsthafte Information über und Auseinandersetzung auch mit Fakten und Sichtweisen, welche nicht der eigenen Position argumentativ zuträglich waren

    Heute dominiert das eigene, fundamentalistisch anmutende, Sendungsbewußtsein derart penetrant Wahrnehmung und Wiedergabe in fast allen politisch relevanten Themengebieten, dass es einfach nur noch deprimierend ist. Ein anderes liberal-aufgeklärtes Massenmedium, welches sich auch vorsätzlich konsequent mit unbequemen-adversen Fakten, Interessen und Perspektiven auseinandersetzt, statt den kürzesten denkbaren Weg zur nächsten Totschlagparole für die Krone des modernen Journalismus zu halten, findet sich im deutschsprachigen Raum ja leider nicht mehr.

    Um mich dann selber mit einer Totschlagparole einzureihen: Neoliberale Ideologie kann man eben nur um den Preis diskursiver Degeneration und kognitiver Verödung propagieren und ernstnehmen.
    Und dieser selbstdestruktive Prozeß springt dann halt unvermeidlich erst aufs Wirtschaftsgeschehen und dann auch den generellen gesellschaftlichen Diskurs über.

    Mit derart farbigen Faktenhalluzinationen liefert man den interessierten Kreisen natürlich Futter für die Kampfparolen. Passt da jetzt eigentlich noch „Lückenpresse“, oder wäre für so was bereits „Lügenjournalismus“ angemessen?

  2. Was wir als Leser brauchen, sind Informationen, um uns ein Bild machen zu können, damit wir Verständnis entwickeln können , um politische und wirtschaftliche Zusammenhänge zu beurteilen.
    Das finde ich nicht in der deutschen Medienlandschaft. Offensichtlich gibt es keine Pressefreiheit mehr, das heißt Unabhängigkeit von staatlichen und anderen Einflüssen. Angebliche Informationen werden als Tatsachen dargestellt.
    Mich interessieren nicht die Meinungen von Journalisten und Zeitungsherausgebern, die nicht zu Unrecht mit dem Prädikat Lügenpresse tituliert wurden.
    Was würden wir ohne den investigativen Journalismus, wie wir ihn u.a. von Harald Schumann und Gabriele Krone-Schmalz bekommen, und der strikt an ihr Berufsethos geknüpft ist, machen? Wir würden auf der Atlantik -Brücke in die Falle der Medienkonzerne und ihrer herrschenden Ideologie taumeln. Danke Harald Schumann !

  3. @ Stefan

    sorry, ich hätte das deutlicher kennzeichnen sollen: war eine Antwort auf Constanze Chryssos (#3).

    Ich habe ja nicht immer etwas an Dir auszusetzen ;-)
    (eigentlich fast gar nicht)

  4. Mit Griechenland war es genauso, das Land angeblich „auf einem guten Weg“, bis die „dummen“ Bürger „linkspopulistisch“ gewählt haben. Nur Außenseiter-Medien wie flassbeck-economics haben die ganze Zeit berichtet, dass dort gar nichts auf gutem Weg war, sondern hinter einem dicken Schirm geschönter Statistiken.
    Jedem, der kein Propagandablatt wie die Süddeutsche Zeitung liest, ist klar, dass in Portugal, Spanien und Italien gar nichts auf einem gutem Weg sein kann, ohne dass die Portugiesen, Spanier und Italiener heute noch irgendetwas dafür könnten. Der Clou dabei ist, dass genau dieselben Propagandisten, die jeden zum Antieuropäer erklären, der EU-Murks EU-Murks nennt, keinerlei Hemmungen haben, gegen die geprügelten Bürger der südeuropäischen Staaten zu hetzen und ihnen die Schuld an einem Desaster in die Schuhe zu schieben, das u.a. durch Brüsseler Verträge und Regelungen seit Jahrzehnten von den „Eliten“ vorbereitet worden ist, begleitet von massiver Propaganda gegen alle Kritiker und (insbesondere in Deutschland) gegen den „populistischen“ Unwillen der Bürger. Ganz wenige haben es im Detail und hellsichtig prognostiziert:
    https://hintermbusch.wordpress.com/2016/02/10/erfindung-europas-vorwort-zur-2-auflage/
    „Die zentralisierte monetäre Steuerung von Gesellschaften, die so verschieden sind wie, zum Beispiel, Frankreich und Deutschland, muss zu einer massiven Fehlfunktion führen, in einer ersten Phase in der einen oder anderen Gesellschaft, in einer zweiten Phase aber in beiden. Es steckt in der Ideologie der Vereinigung ein Wille, die menschlichen und sozialen Realitäten zu brechen, der seltsam, aber unwiderstehlich an den Marxismus-Leninismus erinnert.“

  5. Danke, danke, danke. Der Artikel hat mich bewegt Abonnentin zu werden. Schon vor ca. 18 Monaten, als die Süddeutsche permanent Unsinn über Griechenland veröffentlich hat, habe ich nach einem solchen Widerspruch im deutschsprachigen Raum gesucht, und nichts bis kaum etwas gefunden. Eine großartige Idee, den Märchen über andere EU-Länder (von denen es ja viele gibt) von einem kompetenten einheimischen Journalisten widersprechen zu lassen. Mehr davon!

  6. Top!

    Und dasselbe jetzt bitte nochmal zu Griechenland, um Varoufakis zu rehabilitieren und den einen speziellen Christdemokraten in Stuttgrat bloßzustellen.

    Die eine Zeitung wirbt ja mit „bild dir deine Meinung“.
    Aber es ist schwierig, sich eine Meinung zu bilden, wenn gefühlt alle dasselbe schreiben und es somit wie die alleinige Wahrheit aussieht.

    Es ist wahrscheinlich so, dass alles so komplex ist, dass kein Journalist mehr in der Tagesberichterstattung eine gute Analyse bringen kann.

    Das dauert Wochen oder Monate und dann ist das Thema schon alt.

  7. #9 Karin
    „nach einem solchen Widerspruch im deutschsprachigen Raum gesucht, und nichts bis kaum etwas gefunden“
    Das gab es immer, aber eher nicht bei den großen Blättern, sondern auf kritischen Blogs und Portalen. Der deutsche Mainstream basht früher oder später jedes europäische Land, das sich deutscher Politik in den Weg stellt, er agiert eindeutig als Volksverdummer im Dienst der Regierungspolitik. Für ein Land, das durch den Euro (unfreiwillig) zum Hegemon der Eurozone aufgestiegen ist, und für diese Eurozone selbst ist das ein untragbarer Zustand, bei dem eine Mehrheit der Bürger von der Debatte und Mitbestimmung über ihre ureigenen Interessen ausgeschlossen ist. Die totale Knechtung Griechenlands im Jahr 2015 war augenfällig. Anderes Beispiel: Frankreich-Bashing
    http://www.nachdenkseiten.de/?p=15211
    https://makroskop.eu/2014/10/einpruegeln-auf-frankreich-ist-das-gebot-der-stunde/
    http://norberthaering.de/de/27-german/news/128-frankreich-kampagne
    http://think-beyondtheobvious.com/stelters-lektuere/frankreich-und-italien-am-abgrund/
    Diese 4 Alternativmedien sind nach ihrer ökonomischen Linksorientierung geordnet, Nachdenkseiten am klarsten links, Stelter am klarsten rechts. Das Interessante daran ist, dass sie sich in einem entscheidenden Urteil einig sind: die seit Jahren unter deutscher Führung betriebene Eurorettungspolitik wird unweigerlich an die Wand fahren, der Euro ist inzwischen nicht mehr zu retten. Strittig ist nur die Frage, ob er jemals zu retten gewesen wäre, wenn Deutschland unter Merkel und Schäuble eine andere Politik gemacht hätte.

    #10 CIVICHIEF
    Interessant ist auch hier, dass sich Varoufakis und H.W.Sinn in der Analyse (Griechenland ist pleite, neue Kredite und mehr Austerität deshalb völlig sinnlos) letztes Jahr völlig einig waren. In England und den USA ist das auch Common Sense, Varoufakis ein angesehener Mann, nur beim deutschen Wähler kommt es nicht an, weil der Medien-Mainstream in systematisch desinformiert.

  8. Mindestens so bedenklich wie die Faktenuntreue der SZ finde ich, dass auch hier im Kommentarbereich mit Begriffen wie „Propagandablatt“, „Hetze“, „Medien-Mainstream“ um sich geworfen wird.

  9. „Faktenuntreue“?

    Glückwunsch, semiotisch ist das einer der gelungensten euphemistischen Faktenwandlungs-Rhetoriktricks der mir zuletzt untergekommen ist. Das hat fast schon Rumsfeld-Niveau. Rein handwerklich ist meine Bewunderung dafür übrigens ehrlich.

    Es gibt Gründe, weshalb in vielen EU-Ländern in den letzten Jahren Merkel, Schäuble und deutsche Medientitel als Adolf oder sonstwie Nazig dargestellt wurden. (So unmöglich wir das vielleicht finden, sollte man nicht vergessen dass auch unsere Medien im Ausland gerne leichthin Adolfs und Nazis entdeckt)

    Abgesehen von der -als für Normalbürger brutal unsozial und deutschnational rücksichtslos dominant empfundenen- Austeritätspolitik hatte das auch etwas zu tun mit der Berichterstattung in deutschen Medien, die dort zumindest zeitweise von vielen eben so empfunden wurde:
    Propagandaartig anmutende Hetze eines enthemmt erscheinenden deutschen Medienmainstreams, z.B. gegen den faulen Südländer, der uns ausplündert, indem er sich auf unsere Kosten einen schönen faulen Lenz macht. Und das eben nicht nur aus dem Hause Springer. Sondern ziemlich von allen. Wäre Ihnen „Rudeljournalismus“ genehmer?

    Unter feinsinnigen Verbalgourmets kann man gerne um bessere, zutreffendere, Begrifflichkeiten ringen, die dann in den Diskurs einschleusen und schauen wie sie angenommen werden.
    Aber: Menschen, die unter den Folgen einer kreativen Realitätsauslegung im Stile Beise konkret leiden, sind halt nur nicht immer genau so zimperlich. Es war schon immer so, dass der „Pöbel“, wenn richtig auf Fahrt, gerne zur Mistgabel greift, ohne sich an der Etikette zu stören.

    Und das wird eben befeuert durch so eine irgendwie leicht unschöne faktenuntreue Ignoranz gegenüber existentiellen Notlagen und breiter Verarmung wesentlicher Bevölkerungssteile in den betreffenden Ländern. Früher verlor man seinen Kopf für den Ratschlag, dann halt einfach Kuchen zu fressen.

    Heute klatschen denjenigen, die das Fehlen von Brot schlicht leugnen, nur noch solche Kampfbegriffe an den Kopf. Ist doch ein zivilisatorischer Fortschritt.

  10. @Andreas Müller: „In England und den USA ist das auch Common Sense.“

    In England und den USA mag das Konsens sein, „common sense“ aber ganz bestimmt nicht, denn das bedeutet etwas völlig anderes. Einfach mal ins Wörterbuch gucken …

  11. @16
    Es ist nicht einfach nur irgendein Konsens, dass eine überschuldete Volkswirtschaft nicht durch Sparen allein aus der Misere kommen kann, sondern es folgt aus dem gesunden ökonomischen Menschenverstand, der Saldenmechanik. Das Gegenteil, die berüchtigte schwäbische Hausfrau, ist in Deutschland zwar (fast) Konsens, hat aber mit Common Sense trotzdem gar nichts zu tun. In Wörterbüchern werden Sie das aber vergeblich suchen.

  12. @16
    Diesen Konsens / ökonomischen Menschenverstand verstehe ich nicht! Wann hat eine Krise mit mehr Schulden zu bekämpfen schon mal langfristig Erfolg gehabt? Sind wir nicht in dieser Situation weil nach dieser Methode die nächste Krise nicht nur schneller wieder kommt sondern auch schlimmer ist und mit nur noch viel mehr Schulden behoben wird?!
    Wir leben über unsere Verhältnisse auf kosten der nächsten Generationen, und jede Krisen Bewältigung mit Schulden belastet nur eine weitere nachfolgende Generation.

  13. @18
    „Wann hat eine Krise mit mehr Schulden zu bekämpfen schon mal langfristig Erfolg gehabt?“
    Vorsicht: ich behaupte nicht, dass man die Krise mit mehr Schulden wirklich lösen kann. Jedem vernünftigen Menschen ist aber gleichzeitig klar, dass die Schuldner nicht durch Sparen aus den Schulden herauskommen können. Wer dauerhaft Handelsüberschüsse produziert, sorgt nämlich automatisch dafür, dass die anderen in Summe immer mehr Schulden bei ihm machen (müssen).
    Das Ganze läuft entweder auf einen Crash zu oder darauf, dass der Exportweltmeister seine Überschüsse verschenkt. Er kann das Verschenken auf viele Arten organisieren: regelmäßige Schuldenschnitte, Transfers oder mit EZB-Tricks. Weil es dort am schönsten zu verstecken ist, hat die Bundesregierung stillschweigend der letzten Option zugestimmt und kaschiert das zusätzlich dadurch, dass sie regelmäßig Kritik an der EZB heucheln lässt.
    Das Ganze ist ein faszinierendes Spiel, bei dem es in erster Linie darum geht, dass alle Regierungen weiter gemeinsam ihre Bürger hinters Licht führen oder unter der Knute halten können. Die Sparerei in Griechenland ist in der Sache ebenso sinnlos wie die narrische Schafferei in Deutschland. Jeden Unfug in Deutschland kann man mit Schafferei begründen. Es ist ja kein Zufall, dass die Millionen Einwanderer den Leuten zunächst als Arbeitskräfte am leichtesten aufzuschwatzen waren. Stimmte zwar nicht, aber was soll’s: auf eine Illusion mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.
    Man sieht daran, dass die Grundillusion eine ökonomische ist: Die Eliten haben den Deutschen jahrzehntelang eingeredet, dass sie sich eine glänzende Zukunft erwirtschaften können, wenn sie nur genug schaffen und produzieren. Dabei könnten wir vermutlich eine Menge Probleme gleichzeitig lösen, indem wir durch systematisches Bummeln die Überschüsse auf Null bringen.

  14. brechen wir doch einfach mal die Probleme innerhalb und außerhalb Europas auf das Wörtchen ‚teilen‘ herunter. Es könnte der Lösungsansatz für *jedes* Problem sein.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.