Die Kolumne
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Selten war es so uninteressant, sich mit Meinungsumfragen zu beschäftigen, wie in dieser Schlussphase des amerikanischen Wahlkampfes. Nicht weil das Rennen schon gelaufen wäre – im Gegenteil: Es ist ganz außerordentlich knapp. Kamala Harris und Donald Trump liegen in den meisten Swing States, die für den Wahlsieg entscheidend sind, ungefähr gleichauf, und das seit Wochen. Aber genau das, was die Wahl – nach Unterhaltungskategorien – spannend macht, macht die Umfragen langweilig. Seriös lässt sich aus ihnen nicht mehr ablesen, als dass die Chancen ungefähr fifty-fifty stehen, und wenn nicht noch etwas Gravierendes, Überraschendes passiert, wird sich daran wohl auch in den nächsten zwei Wochen nichts ändern.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Ich liebe es eigentlich, mich mit Meinungsumfragen zu befassen. Ich mochte immer schon alles, was irgendwie mit Zahlen und Statistiken zu tun hat. Das bedeutet nicht, dass ich es nicht problematisch finde, in welchem Maße sich Medien von ihnen leiten lassen, wie oft sie sie zu billigem Content verwursten, wie sehr sie inhaltliche Auseinandersetzungen ersetzen.
Horse Race Journalism nennt man abwertend den Journalismus, der Politik nur als ein Wettrennen betrachtet, wobei das eigentlich noch ein Euphemismus ist. Der Politikwettrennenreporter ist in einer viel schlechteren Position als ein Sportreporter: Anders als bei einem Wettrennen kann er nicht sicher wissen, wer wirklich vorne liegt. Es ist, als würde man einen sehr weit entfernten Wettkampf durch eine sehr schmutzige Brille betrachten: Man kann eventuell erahnen, wer womöglich gerade in Führung liegt, aber es kann auch täuschen.
Meinungsumfragen sind naturgemäß ungenau. Sie versuchen mit allerlei Methoden sicherzustellen, dem tatsächlichen Wahlverhalten möglichst nahe zu kommen. Aber es bleiben Stichproben, die schon im idealen Fall nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Verhalten der Gesamtgröße abbilden.
Das amerikanische Wahlsystem ermöglicht es, dass Präsidentschaftswahlen durch sehr kleine Mehrheiten in sehr bestimmten Staaten entschieden werden. Aktuell liegen im Durchschnitt der Umfragen, den die „New York Times“ ermittelt, in North Carolina, Michigan, Pennsylvania, Nevada und Wisconsin Trump und Harris jeweils nicht mal einen Prozentpunkt auseinander. Man kann sich bei verschiedenen Seiten, die Umfragen sammeln und zusammenfassen, die Kurven der beiden Kandidaten angucken und freuen oder ärgern, wenn die eine oder die andere oben liegt (und wenn die falsche oben liegt, dass wenigstens die Tendenz der letzten Tage die richtige ist). Aber es ist alles müßig. Die Abstände sind so winzig, dass sich daraus keine auch nur halbwegs verlässliche Prognose ablesen lässt, wer nach Auszählung der Stimmen vorne liegt und dann, ob der Vorsprung eine oder 100.000 Stimmen beträgt, alle Wahlmänner und -frauen des jeweiligen Staates stellt.
Dabei bedeutet die Tatsache, dass die Umfragen in all diesen Staaten einen knappen Ausgang voraussagen, nicht einmal, dass es am Ende auch nur einen knappen Sieger im Electoral College geben wird: Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass einer der beiden Kandidaten all diese knappen Rennen für sich entscheidet und deshalb bei der Zahl der Wahlmänner einen großen Vorsprung hat.
Nate Silver, der amerikanische Statistiker, der nach mehreren korrekten Wahlvoraussagen weltweit berühmt wurde, twitterte vor knapp zwei Wochen:
Die Umfragen wird man für den Rest des Wahlkampfes wahrscheinlich statistisch gesehen kaum davon unterscheiden können, als würde ein Zufallsgenerator in den sieben Swing States einfach Zahlen zwischen +4 und -4 wählen.
Das Ironische daran ist, dass das kein Abschiedstweet war, mit dem er erklärt, warum er die nächsten Wochen etwas anderes, Sinnvolleres tun wird, als random Zahlenabweichungen zu interpretieren. Nate Silver veröffentlicht nach wie vor jeden Tag einen Newsletter, in dem er die neuesten Umfragen auswertet, in dem er Durchschnittszahlen für die wahrscheinlichen Wahlergebnisse jedes Bundesstaats veröffentlicht, daraus Wahrscheinlichkeiten für den Sieg dieses Bundesstaates hochrechnet und daraus wiederum Wahrscheinlichkeiten für den Sieg der Wahl hochrechnet; in dem er erklärt, warum der Eindruck, dass ein Kandidat gerade Schwung hat, momentum, vielleicht täuscht, vielleicht aber auch nicht; in dem er vorrechnet, warum es keinen großen Unterschied macht, wenn man zweifelhafte Umfragen, die von einer politischen Seite lanciert wurden, weglässt.
Es ist alles wahnsinnig faszinierend für Nerds, die sich mit Umfragen und ihrer Interpretation und dem Berechnen von Wahrscheinlichkeiten beschäftigen wollen. Aber es ist fast vollständig nutzlos für jeden, der wissen will, wie die Wahlen ausgehen werden.
Und die Tatsache, dass Nate Silver darauf besteht, die Wahrscheinlichkeiten mit Nachkommaprozentstellen anzugeben, macht alles noch schlimmer. Es ist, als würde man im dichten Nebel im Wald gesagt bekommen, dass es 0,1 Prozent wahrscheinlicher ist, dass das Tier, das auf einen zu galoppiert, ein Bär ist als ein Reh.
Und angesichts dessen, was im Falle eines Wahlsieges Trumps droht, ist das ein sehr verharmlosender Vergleich. Dass bei der Wahl zwischen einem Mann mit mentalen Schwächen und faschistischen Tendenzen und einer vielleicht nur mittelmäßigen Politikerin das Rennen überhaupt einigermaßen knapp ist – das ist Grund genug, nachts schweißgebadet wach zu liegen. Nicht, dass in den Prognosen die Siegwahrscheinlichkeit von 48 auf 52 Prozent steigt. Oder gar von 49,8 auf 50,1.
Hinzu kommt, dass Menschen und Medien ohnehin dazu neigen, solche Wahrscheinlichkeiten falsch zu interpretieren. Nate Silver ist nach der Wahl 2016 von vielen dafür kritisiert worden, dass er einen Wahlsieg Hillary Clintons prognostiziert hatte. Eine Antwort von ihm darauf lautet, dass er einem Wahlsieg Trumps damals immerhin eine Wahrscheinlichkeit von rund 29 Prozent gab.
Wenn ein Ereignis eintritt, das aufgrund eines Modells nur knapp halb so wahrscheinlich war wie ein anderes – bedeutet das, dass das Modell falsch lag? Nicht zwingend: Dinge, die eine Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent haben, treten ganz schön häufig ein. Im Alltag können wir mit solchen Wahrscheinlichkeiten auch umgehen: Wir hoffen bei „Mensch ärgere dich nicht“ darauf, eine Sechs zu würfeln, obwohl die Wahrscheinlichkeit, keine Sechs zu würfeln, überwältigende 83 Prozent beträgt. Wir wissen, dass wir wahrscheinlich keine Sechs würfeln, aber müssen den Würfel nicht zinken, um auf eine Sechs hoffen zu dürfen.
Das sollte Medien eine Warnung sein, aus einer Hochrechnung, dass ein Kandidat mit einer Wahrscheinlichkeit von 71 Prozent gewinnt, keine Schlagzeilen zu machen, die suggerieren, dass ein solcher Sieg so gut wie sicher ist. Das war eines der Probleme vor Hillary Clintons überraschender Wahlniederlage 2016. Und es relativiert natürlich überhaupt die Aussagekraft oder mindestens die Schlagzeilentauglichkeit solcher Prognosen.
Es macht diese Vorhersagen und die Meinungsumfragen, auf denen sie beruhen, nicht überflüssig. Auch aus Wahrscheinlichkeiten und der Art, wie sie sich verändern, lassen sich Schlüsse ziehen – selbst wenn diese Wahrscheinlichkeiten (anders als beim Würfel) ebenfalls nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stimmen, weil sie auf diversen Annahmen beruhen, die sich selbst im Nachhinein nur teilweise überprüfen lassen. Aber sie deuten zum Beispiel darauf hin, dass die Chancen für Kamala Harris erheblich größer sind, als sie es für Joe Biden waren, das ist nicht nichts.
Für die Wahlkämpfer selbst enthalten Umfragen außerdem Hinweise darauf, in welchen Bundesstaaten sie besonders kämpfen sollen oder welche Bevölkerungsgruppen besonders angesprochen werden müssen. Aber für jeden, der sich von ihnen Gewissheit oder auch nur einen Fingerzeig erhofft, wie die Wahl ausgehen wird, bieten die Umfragen bei dieser Wahl: nichts.
Und das ändert sich auch nicht, wenn man sie sich noch genauer anguckt oder noch tiefer einsteigt oder sogar, wie es die „New York Times“ gerade gemacht hat, ausarbeitet, in welchen Jahren die Umfragen in welchen Bundesstaaten bei welcher Art von Kandidat in welcher Richtung falsch lagen. Die Tatsache bleibt: Der Ausgang dieser Wahl ist offen und lässt sich nicht seriös vorhersagen. Jedenfalls nicht genauer als fifty-fifty.
Anders gesagt: Man kann getrost aufhören, auf die Umfragen zu starren, und einfach weiter schweißgebadet nachts wachliegen.
Sagen, was ist. Danke, Herr Niggemeier.
Zumal man jede Wahrscheinlichkeit angeben kann, wer wie hoch gewinnt. Selbst wenn man Trump nur 1 Prozent gibt, kann er gewinnen. Weil es ja nur eine einzige Wahl gibt. Die Wahrscheinlichkeiten lassen sich aber nur adäquat abbilden, wenn es sehr viele solcher Ereignisse gibt. Würde man 1.000 Wahlgänge haben, würde sich die Zahl der gewonnenen Wahlen für ihn der 10 annähern. Kann aber auch sein, dass er erst bei 10.000 Wahlgängen bei den 100 landet. Genau diese Zahl aber ist am wenigsten hilfreich, wie man auch 2016 bei Clinton vs. Trump gesehen hat.