„Die wichtigste Insel der Welt“

Den Blick auf die Realität in Taiwan richten, nicht auf Chinas Propaganda

Foto: Privat

Klaus Bardenhagen lebt und arbeitet seit 2009 als freier Auslandskorrespondent in Taiwan. Jahrelang war er der einzige deutsche Reporter vor Ort. In Beiträgen für zahlreiche Print- und Onlinemedien sowie in Radio- und Fernsehbeiträgen und dem von ihm moderierten Podcast „Taiwancast“ berichtet er über seine zweite Heimat – und schaut immer wieder auch mit Verwunderung und Ärger wie Medien im Westen über Taiwan berichten, insbesondere über Taiwan und China.

Nun hat Bardenhagen ein Buch geschrieben: „Die wichtigste Insel der Welt – Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen“, in dem er sich auch damit befasst, wo westliche Medien zu kurz greifen und wo sie sich instrumentalisieren lassen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags veröffentlichen wir dieses Kapitel.


Ob beim Händeschütteln mit Taiwans Wissenschaftsminister oder bei der Unterzeichnung eines Abkommens zur Zusammenarbeit bei Wissenschaft und Technologie – der Besuch der Bundesforschungsministerin sei ein „historischer Moment“, versicherten die Gastgeber immer wieder. Im März 2023 war Bettina Stark-Watzinger nach Taiwan gereist, als erste amtierende deutsche Bundesministerin in diesem Jahrtausend. Seit Wirtschaftsminister Günter Rexrodt 1997 hatte sich Berlin nur noch getraut, Staatssekretäre zu schicken. Die FDP- Politikerin vereinbarte mehr Kooperation, ließ sich ein Halbleiterforschungszentrum zeigen und stellte wohl auch Weichen für die kein halbes Jahr später verkündete TSMC-Ansiedlung in Dresden. Doch das alles war deutschen Medien nicht wichtig genug, um es zuvorderst zu vermelden. Die Schlagzeilen setzten fast durchgängig andere Prioritäten: „Deutscher Besuch in Taiwan verärgert China“ („Tagesschau“), „Was sagt China?“ („Spiegel“), „China empört“ (ntv).

Nach dem Missverhältnis zwischen ihrem unspektakulären Besuch und der medialen Wahrnehmung daheim fragte ich Stark-Watzinger in ihrer abschließenden Pressekonferenz in Taipeh. Sie sei „nicht für Überschriften zuständig“, sagte die Ministerin. Da hat sie recht. Zuständig für Überschriften und andere Entscheidungen, die Berichten über Taiwan oft einen unnötig hysterischen Spin verleihen, sind die Medien selbst.

Stadtpanorama von Taipeh in Taiwan.
Taipeh Foto: Imago / Depositphotos

2008 schrieb ich meine ersten Berichte aus Taiwan. Seitdem beobachte ich schon aus beruflichem Interesse recht genau, was Deutsche aus ihren Medien über Taiwan erfahren. Schnell fielen mir gängige Ärgernisse auf. Einige davon verloren im Lauf der Jahre an Bedeutung – kaum jemand nennt zum Beispiel heute noch die Volksrepublik den „großen Bruder“. Einige hielten sich die ganze Zeit hartnäckig. Und einige stoßen mir verstärkt auf, seit der Ukrainekrieg Taiwan wieder ins globale Bewusstsein katapultierte.

Viele der Berichte zu Stark-Watzingers Besuch lieferten Paradebeispiele dafür, was seit der „Zeitenwende“ in der deutschen Taiwan-Berichterstattung zu oft falsch läuft: Sie waren sensationalistisch, denn sie bliesen vermeintliches Konfliktpotenzial unverhältnismäßig auf. Sie waren voreingenommen, denn sie machten sich Chinas Blick auf Taiwan zu eigen. Sie waren lückenhaft, denn die Konzentration auf Chinas „Verärgerung“ und ihre Folgen raubte relevanteren Fragen Zeit und Raum. Das alles beobachte ich besonders geballt in drei Bereichen: in den Meldungen von Nachrichtenagenturen, in Kurzbeiträgen von Fernsehsendern und in Überschriften, Teasern, Sendungstiteln und Anmoderationen so ziemlich überall. Schauen wir uns die Problemfelder der Reihe nach an.

Konfliktfixierung

„If it bleeds, it leads“ ist ein altes Zeitungsmachermotto. „Wenn Blut fließt, ist es der Aufmacher.“ Dass Krisen, Konflikte und Katastrophen die Nachrichten dominieren, ist grundsätzlich sinnvoll. Je schlimmer ein Ereignis oder eine Entwicklung ist, desto größer sind meist unmittelbare Betroffenheit, potenzielle Tragweite und andere klassische Nachrichtenfaktoren.

Seit chinesische Kampfflugzeuge inoffizielle Grenzen verletzen, Russlands Invasion der Ukraine die Möglichkeit eines Krieges in Fernost realer erscheinen lässt und Peking nach dem Pelosi-Besuch die Blockade probte, qualifiziert sich Taiwan medial als potenzieller Krisenherd. Also ungefähr seit 2020. Davor war es viel seltener eine Meldung oder einen Bericht wert. Besonders während der KMT-Regierungszeit ab 2008 drehte Peking seinen Erregungsregler so weit herunter, dass es für den Rest der Welt aussah, als lösten sich die Probleme auf – zumindest oberflächlich betrachtet. Tatsächlich bestand der grundlegende Konflikt die ganze Zeit weiter und war genauso ungelöst wie davor und danach: Peking will Taiwan der Volksrepublik unterordnen. Die Taiwaner wollen ihre Freiheiten bewahren. Die nach außen verkaufte „friedliche Annäherung“ dieser Zeit war ein Trugschluss, denn sie musste früher oder später an ihre Grenzen stoßen. 2014 war es dann ja so weit.

Die jahrelange mediale Vernachlässigung erklärt, warum es Lesern und Zuschauern in Ländern wie Deutschland so vorkommen muss, als sei Taiwan „plötzlich“ zum Krisenherd geworden. Wer so lange nicht hinschaut und gründlich berichtet, bis es sich beim besten Willen nicht mehr ignorieren lässt, der wird immer wieder genau so einen Eindruck erwecken.

Im medialen Herdentrieb scheint es stets die eine alles dominierende Krise zu geben. Als sei es dem Publikum kaum zu vermitteln, seine Aufmerksamkeit mehreren Brennpunkten gleichzeitig zu widmen. Ganz besonders gilt das für die TV-Nachrichten mit ihrer stets beschränkten Sendezeit. Aber auch Onlinemedien, die ja eigentlich unbegrenzt Raum zur Veröffentlichung haben, konzentrieren ihre Ressourcen meist auf die crise du jour. So eine massive Berichterstattung kann zu Überdruss führen. Das eben noch wichtigste Problem der Welt wird dann verblüffend schnell zur Randnotiz degradiert, auch wenn es noch immer ungelöst ist.

So dominierte zwei Jahre lang die Coronapandemie alles, bis der Angriff auf die Ukraine sie verdrängte. Es folgten mehr als 1,5 Jahre täglicher Kriegsberichterstattung, die jede taktische Volte so detailliert vermeldete, dass Leser sich fühlen mussten wie in einer Fortbildung zum Experten für moderne Waffensysteme. Das wiederum änderte sich von einem Tag auf den anderen mit der Eskalation der Krise im Nahen Osten nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel im Oktober 2023. Das Töten und Sterben an der ukrainischen Front ging weiter wie zuvor, doch es war westlichen Medien oft nicht mal mehr eine tägliche Zusammenfassung wert. Die Regierung um Präsident Selenskyj war darüber sicher nicht erfreut, bedeutet Aufmerksamkeit für ihr Land doch Unterstützung und damit Überleben. Die Frustration der Ukrainer könnte eines Tages die der Taiwaner werden, sollte China tatsächlich angreifen und der Kampf sich so lange hinziehen, bis der mediale Fokus wieder wegschwenkt.

In der aktuellen Lage saugt die Fixierung auf Chinas Drohungen und einen möglichen militärischen Konflikt anderen wichtigen Taiwan-Themen den Sauerstoff ab. So gab es vor 2020 etwa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zwar seltener Berichte aus Taiwan – aber dafür hatten sie öfter nichts mit China zu tun und stellten Taiwan in seinem eigenen Recht dar. Magazinbeiträge, die auf meinen Vorschlag hin und unter meiner Mitarbeit im Programm landeten, drehten sich etwa um die Ausbeutung von Gastarbeitern, Tierschutz, soziales Engagement oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Spätestens seit dem Pelosi-Besuch 2022 geht es fast nur noch um Kriegsgefahr, Kriegssorgen und Kriegsvorbereitungen. Paradoxerweise verengt sich also der thematische Horizont umso mehr, je größer die Aufmerksamkeit für Taiwan ist.

Screenshot eines Artikels auf Zeit.de mit der Überschrift: "Xi Jinping warnt Joe Biden vor 'Spiel mit dem Feuer'"
Screenshot: Zeit.de

China versteht diese Erregungszyklen, nach denen westliche Medien die Agenda setzen, sehr gut. Und es macht sie sich zunutze. Pekings Propagandisten haben herausgefunden, wie sie den Diskurs über Taiwan lenken können: durch Drehen am Regler ihres eigenen Konfliktlautsprechers. Dazu reicht es schon, vor einem „Spiel mit dem Feuer“ zu warnen. Das passierte 2020 nach dem Besuch des US-Gesundheitsministers, 2022 vor der Reise von Nancy Pelosi und 2023 nach einem Besuch von Bundestagsabgeordneten. Mal gab Xi persönlich den obersten Emotionsfeuerwehrmann, mal Chinas Botschafter in Berlin. Natürlich ist das eine vage und durchschaubare Floskel – aber sie funktioniert immer wieder. Zahlreiche Medien reproduzierten sie verlässlich in ihren Überschriften und eröffneten damit ihre Berichte.

Medien, die immer wieder auf solche Instrumentalisierungen hereinfallen und Chinas Botschaften ohne Kontext amplifizieren, machen sich ohne Not zu nützlichen Propagandahelfern. Es sollte sich endlich einmal herumsprechen, dass Chinas „Verärgerung“ kein Naturgesetz ist, an dem niemand etwas ändern kann, keine möglichst zu umschiffende und ansonsten nicht zu ändernde Realität – sondern eine bewusst eingesetzte Taktik, um den Diskurs zu bestimmen. Journalisten sollten sie nicht replizieren, sondern offenlegen und hinterfragen.

Das ginge sogar in Überschriften. Wer mehr Gewicht hat, kann lauter schreien. Und wer lauter schreit, bekommt mehr Aufmerksamkeit. Aber Chinas Regierung brüllt nicht nur ihre Botschaften in die Überschriften. Sie hat es durch ihre beharrlichen Wiederholungen inzwischen auch geschafft, nach dem Prinzip „Schere im Kopf“ das Framing zu definieren, mit dem viele Journalisten auf Taiwan blicken.

Framing-Übernahme

Der Begriff des Framing im Journalismus folgt aus der Einsicht, dass Medien immer die Wahrnehmung der Realität formen, auch wenn sie unvoreingenommen und ausgewogen berichten wollen. Absichtlich oder unbeabsichtigt schaffen Journalisten durch die Wahl der Worte, Zitate und Perspektiven in ihren Berichten einen Rahmen, der Lesern oder Zuschauer suggeriert, worum es bei einem Problem geht, wie es angegangen werden kann und wer dafür verantwortlich wäre, es zu lösen.

Im Fall Taiwans hat es Peking geschafft, dass Medien seine Narrative internalisiert haben und oft von sich aus durch Chinas Brille auf Taiwan blicken. Wer sich diese Perspektive zu eigen macht, für den sind Chinas Drohungen und Aggressionen gegen ein friedliches Land nicht das Hauptproblem oder auch nur besonders erwähnenswert – sondern dass Taiwan es wagt, etwas zu tun, das der Regierung in Peking nicht passt.

Ein Beispiel: „Taiwans neues U-Boot der ,Hai Kun‘-Klasse verärgert China“, betitelte die „Welt“ im Herbst 2023 den Onlinetext eines Redakteurs. Vielleicht wäre „Taiwans neues U-Boot soll Chinas Angriff unwahrscheinlicher machen“ weniger geklickt worden – ich zumindest hätte es angemessener gefunden. Oder ein Teaser auf „Zeit Online“ im Januar 2023: „Hochrangige FDP-Abgeordnete sind auf dem Weg zu politischen Gesprächen nach Taiwan. Die Reise könnte China verärgern.“ In einer Art vorauseilendem Gehorsam nehmen Journalisten chinesische Reaktionen vorweg, die noch gar nicht eingetreten sind. Platz und Aufmerksamkeit, die Taiwan gut gebrauchen könnte, opfern sie der chinesischen Regierung, als seien deren Positionen nicht längst bekannt. „They live in their heads rent-free“, beschreibt eine englische Redewendung ganz gut, was hier passiert.

Ein eklatantes Beispiel lieferte die Deutsche Presse-Agentur (dpa) beim Besuch von sechs Bundestagsabgeordneten aus dem Menschenrechtsausschuss im Oktober 2022. Die ersten Meldungen dazu machten noch mit ihrer Ankunft in Taipeh auf. „Die bereits zweite Visite einer Bundestagsdelegation in diesem Monat dürfte für neue Verärgerung in Peking sorgen“, hieß es weiter unten.

Eine spätere Meldung begann dann mit dem, was David Demes, ein deutscher Kollege in Taipeh, auf Twitter den „eingeübten Wutausbruch aus Peking“ nannte: einer Stellungnahme des chinesischen Außenministeriums. Die Abgeordneten sollten „ihre Interaktion mit den separatistischen Unabhängigkeitskräften“ einstellen und keine „falschen Signale“ senden. Gegen Ende konstatierte die dpa dann noch eine „neuerliche Verstimmung in den deutsch-chinesischen Beziehungen“. Diese Stellungnahme jedoch, bemerkte Demes, war weder von Chinas Außenministerium noch von der Botschaft in Berlin ins Netz gestellt worden.

Hatte also Deutschlands große Nachrichtenagentur, der die meisten Redaktionen nahezu blind vertrauen, selbst proaktiv in Peking einen Kommentar zur Reise deutscher Abgeordneter nach Taiwan angefragt – wohl wissend, wie dieser ausfallen würde? Auf meine entsprechende Frage antwortete der Leiter der dpa-Konzernkommunikation nur ausweichend:

„Die dpa berichtet mit Korrespondenten in Peking und Taipeh über die Volksrepublik und Taiwan. Es ist normale journalistische Arbeit, Stellungnahmen zu politischen Entwicklungen einzuholen und Hintergründe zu erklären. Grundsätzlich berichten wir über alle Seiten. Das gilt auch bei Aktivitäten deutscher Politiker im Ausland – besonders wenn sie in einem politisch komplizierten Umfeld stattfinden.“

Würden dpa-Korrespondenten ihren Gesprächspartnern so eine Nichtantwort durchgehen lassen? Auf meine Nachfrage kam keine Antwort mehr. Die dpa widerspricht also ausdrücklich nicht dem Eindruck: Sie kreierte selbst die Aufregung, mit der sie anschließend ihre Meldung aufmachte – auf Kosten Taiwans, das wieder einmal zum Nebendarsteller in seinen eigenen Angelegenheiten degradiert wurde.

Sprecher Jens Riewa in der "Tagesschau" vom 3.8.2022.
„Tagesschau“ vom 3.8.2022 Screenshot: Das Erste

„XY riskiert Ärger mit China“ ist keine Meldung, sondern ein Armutszeugnis. In diesem Framing ist nie China selbst schuld an einer Eskalation. Es hat keine agency, seine Aktionen und Reaktio- nen werden nicht hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen. Es ist halt so. „Chinesische Reaktion: Taiwan-Besuch Pelosis verschärft Spannungen“, betitelte die 20-Uhr-„Tagesschau“ ihren Aufmacher am 3. August 2022 am Vorabend der großen chinesischen Manöver. Dass diese natürlich nicht spontan stattfanden, sondern lange geplant waren und Peking jetzt nur einen passenden Vorwand gefunden hatte, wurde nicht thematisiert.

Der Begriff des victim blaming drängt sich auf. Nicht nur deutsche Journalisten scheinen auf Täter-Opfer-Umkehr konditioniert zu sein, wenn es um Taiwan und China geht. Als die „Bloomberg Businessweek“ im August 2023 ein Interview mit Präsidentschaftskandidat Lai Ching-te zum Titelthema machte, prangte auf dem Cover unter seinem Gesicht: „Er will Taiwan führen. Aber kann er den Frieden bewahren?“ Angemessenere Fragen wären: Wer droht hier eigentlich damit, wen anzugreifen? Kann und will Xi Jinping den Frieden wahren?

Viele Journalisten wären gut beraten, eine simple Tatsache nie zu vergessen: Extrem sind nicht die Taiwaner, die ihr Schicksal selbst bestimmen wollen. Der Unruhestifter, Aggressor und Status-quo-Verschieber ist Peking, das die Region und die Welt in einen Krieg zu reißen droht – wegen einer Insel, die nie zur Volksrepublik gehörte und deren Bewohner sich ihr mit parteiübergreifender Mehrheit auch nicht unterordnen wollen.

Doch haben sich Narrative erst einmal eingeschliffen, fällt es wohl schwer, davon abzuweichen. Wenn Medien lieber noch mal in die gleiche Kerbe schlagen, als ihre Leser und Zuschauer möglicherweise zu irritieren, unterschätzen sie im Grunde ihr Publikum. Ich glaube, viele Menschen wissen Berichte zu schätzen, die in die Tiefe gehen, aufklären und neue Perspektiven bieten. Und sie haben ein Gespür dafür, wer ihnen derartigen Journalismus anbieten kann – und wer austauschbar und überraschungsfrei nur ihre bestehenden Erwartun-gen bedienen will.

Leitmedien

Natürlich gibt es in deutschen Medien hervorragenden Journalismus über Taiwan. Man muss ihn aber zu finden wissen. Wer nicht gezielt Ausschau hält, kommt viel häufiger mit Überschriften, Meldungen und Kurzberichten in Kontakt, die die jeweils aktuelle Umdrehung, verkürzt und nahezu ohne Kontext, zu Nachrichtenmassenware verwursten. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Agenturen.

Dass es anders geht, zeigen die Asienkorrespondenten deutscher Medien. Sie müssen nicht in Taiwan leben – in Shanghai, Peking, Tokio und anderswo sitzen kenntnisreiche Kollegen, die Taiwan auf dem Schirm haben, regelmäßig besuchen und Entwicklungen einordnen können. Die Zeiten, als langgediente, eigentlich auch für Taiwan zuständige Chinakorrespondenten sich hier so gut wie nie blicken ließen, scheinen vorbei. Aufschlussreiche Hintergründe liefern auch der Deutschlandfunk und längere Fernsehdokumentationen, die seit einigen Jahren verstärkt auf Sendern wie Arte und 3sat laufen. Doch in der Meldungsflut gehen solche nur auf einem Medium veröffentlichten Highlights schnell unter, und wer sie beim Erscheinen verpasst, bekommt sie später kaum noch einmal zu Gesicht.

Und Qualität hat ihren Preis. Die meisten Medien leisten sich keine Korrespondenten, und selbst wenn, können diese nicht den Bedarf ihrer eigenen Websites nach ständigem News-Nachschub decken. Onlineredakteure in Deutschland beobachten permanent die Seiten der Konkurrenz. Taucht dort ein wichtig und/oder interessant klingendes Thema auf, das sie noch nicht haben, dann sorgen sie sich um entgangene Klicks (die ja Werbeeinnahmen bringen) und darum, dass Nutzer ihre kostbare Aufmerksamkeit künftig lieber der anderen Website widmen. Also ziehen sie schnell nach und bringen dasselbe Thema, möglichst mit einer noch knalligeren Überschrift – denn Überschrift und Teaser sind online das A und O, um Klicks zu generieren. Mehr bekommen die Nutzer beim Durchscrollen, oder wenn ein Bericht in sozialen Netzwerken geteilt wird, ja auch nicht zu lesen.

News-Seiten können sich so schnell aneinander abgleichen – und gleichen dadurch oft auch einander –, weil ein Großteil ihrer Texte auf Agenturmeldungen beruht. Die flattern ihnen allen identisch und gleichzeitig ins System. Weil Medienhäuser bei den Agenturen quasi Flatrate-Abos haben, kosten einzelne Berichte noch nicht mal Geld. Und dank des „Agenturprivilegs“ können Redaktionen alles, was dpa, Reuters, AP oder AFP senden, ungeprüft übernehmen.

In deutschen Redaktionen hat vor allem die dpa eine ungeheure Deutungsmacht. Manchmal müssen Korrespondenten sich ihren eigenen Redakteuren gegenüber rechtfertigen, weil ihre Beobachtungen vor Ort sich nicht mit den Berichten der Agenturen decken. Deren Meldungen sind zudem von Aufbau und Sprache her standardisiert und überraschungsfrei – oder anders ausgedrückt: Da kann der Redakteur nichts falsch machen.

Also schnell per Copy-and-paste ins Artikelformular kopiert, ein Bild dazu, dann noch Überschrift und Teaser leicht variiert, und der neue Onlineartikel wird freigeschaltet. Auf der Webseite nimmt er nun so viel Platz ein wie ein aufwendig recherchierter Korrespondentenbericht. Doch den meisten Nutzern ist der Unterschied nicht bewusst. Und so gehen oft journalistische Perlen in einer Flut austauschbarer Agenturtexte unter, die Aktualität versprechen und Relevanz dabei zuweilen nur vorgaukeln. Das funktioniert wiederum besonders gut, je konfliktträchtiger das Thema gedreht werden kann. Sie können sich denken, was das für Taiwan heißt.

Ein Beispiel: Am 22. September 2023 tagte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Taiwan war natürlich nicht eingeladen, tauchte aber in Schlagzeilen auf: „China bekräftigt in UN-Rede Anspruch auf Taiwan“, „China untermauert Anspruch auf Taiwan“. Was war passiert? Ein chinesischer Vizepräsident, dessen Namen Han Zheng kaum ein Leser zuvor gehört haben dürfte, hatte Pekings Standardsprachregelungen zu Taiwan vorgelesen. Also „friedliche Wiedervereinigung“, „territoriale Integrität“, „feste Entschlossenheit“. Nichts davon war neu oder überraschend. Aber die AFP sprang über Pekings Stöckchen, Redakteure dachten sich angesichts der Überschrift „Klingt wichtig!“, und schon raubte eine neue Taiwan-Meldung aus Chinas Perspektive anderen Themen den Platz. Wer das las, fühlte sich vielleicht zu Unrecht informiert und ignorierte an dem Tag andere Berichte über Taiwan, die tatsächlich Erkenntnisgewinn gebracht hätten.

Die meisten Ärgernisse, die ich hier beschreibe, haben nichts mit Inkompetenz, Desinteresse oder gar verkappten Sympathien für Xi Jinping zu tun. Jeder Journalist, den ich kenne, will anständige Arbeit abliefern und seinem Publikum wichtige Erkenntnisse bestmöglich verpackt vermitteln. (Zumindest bin ich fest entschlossen, das zu glauben.) Bleibt die Realität etwa in der Taiwan-Berichterstattung hinter diesem Anspruch zurück, dann liegt das meiner Beobachtung nach eher an Mutlosigkeit und Zögern, von eingefahrenen Wegen abzuweichen. Wie so viele Systeme belohnen auch große Redaktionen zunächst mal Verlässlichkeit, und wer nichts anders macht, macht auch weniger falsch. Statt sich aus der Deckung zu wagen, schaut man lieber, was Agenturen oder Mitbewerber bringen oder wie das eigene Medium in der Vergangenheit über das Thema berichtet hat. „Journalistische Co-Orientierung“ heißt ein Phänomen, das sich mit einem Bonmot beschreiben lässt: „Journalismus ist und bleibt, wenn einer ab vom andern schreibt.“

Doch es muss nicht mal geschrieben werden. Im Fernsehen, meiner journalistischen Heimat, sieht es ähnlich aus. Dabei sind die Zwänge, unter denen TV-Journalisten arbeiten, andere als bei Print und Online: Die strenge zeitliche Begrenzung von Beiträgen zwingt zu Reduktion, Sendeplätze für Auslandsthemen sind rar, und jede produzierte Sendeminute ist teuer. Zugleich müssen öffentlich-rechtliche Sender sich nicht über Werbereichweite finanzieren und sind zu Recht stolz auf ihre Auslandsstudios.

Seit 2022 lässt sich auch hier beobachten, dass sehr viele Magazinbeiträge über Taiwan auf Kriegsgefahr gebürstet werden.1)Magazinbeiträge sind das Brot-und-Butter-Format für TV-Korrespondenten. Sie sind aus- führlicher als Nachrichtenfilme, aber kürzer und weniger aufwendig als Dokumentationen und haben meist eine Länge von zwei bis zehn Minuten. „Wie bereiten sich Taiwaner auf einen möglichen Krieg vor, und was fühlen sie dabei?“ Auf diese Formel lassen sie sich meist reduzieren.

Titelgrafik der "Weltspiegel"-Doku "Krieg um Taiwan?"
Screenshot: ARD

Es wäre an der Zeit, öfter aus anderen Perspektiven auf Taiwan zu blicken. Dass trotzdem so viele Berichte dem gleichen Muster folgen, liegt weniger an den Korrespondenten in den Auslandsstudios, sondern an ihren Redaktionen in Deutschland. „Malen nach Zahlen“ nenne ich eine dort verbreitete Herangehensweise: Man macht vor Drehbeginn den Korrespondenten (teils auf Grundlage der Lektüre anderer Medien) Vorgaben, was im Bericht zu sehen sein soll. Und so geschieht es dann. Vielleicht trauen die Redaktionen ihren Zuschauern wenig zu, oder sie sorgen sich, deren vermeintliche Erwartungen nicht zu erfüllen. Jedenfalls bestimmt journalistische Co-Orientierung auch das TV-Programm.

Besonders plakativ zeigt sich diese Mutlosigkeit bei den Titeln von Beiträgen und Dokumentationen. „Angst vor China“, „Wie sich das Land auf Krieg vorbereitet“, „Vor Chinas Küste wächst die Angst“, so heißen Videos in den Mediatheken und auf YouTube. „Sonst schaltet keiner ein“, ist eine Begründung, warum China auf jeden Fall in den Titel muss. „Angst vor der Invasion“ und „Taiwan – Chinas Drohung an die Welt“, betitelten die Sender zwei Dokumentationen, an denen ich mitarbeitete und die eigentlich facettenreiche Bilder der Stimmung im Land zeichneten, sich jedenfalls nicht auf die Kriegsgefahr beschränkten. „Krieg um Taiwan?“, nennt die ARD auf YouTube eine hervorragende Reportage zur globalen Halbleiterindustrie, und auf das Thumbnail eines 3sat-Beitrags, den ich über Kulturschaffende in Taiwan drehte, schrieb das ZDF „Taiwan im Fadenkreuz“. Es ist paradox: Um auf Nummer sicher zu gehen, schüren die Sender Verunsicherung.

Warum es wichtig ist

Nicht alle Probleme, die ich geschildert habe, sind taiwanspezifisch. Aber manche eben schon.

China will Taiwan von jeder internationalen Bühne fernhalten und seine Existenz negieren. Medienberichte sind also besonders wichtig, um dem entgegenzuwirken und der Welt eine Chance zu geben, Taiwans Realität kennenzulernen.

Viele Journalisten aber übernehmen und verstärken unbewusst Narrative der chinesischen Propaganda. Oft unterschätzen sie ihr Publikum und meinen, ohne dieses Framing riskierten sie Unverständnis und vertrieben die Rezipienten zur Konkurrenz. So wird Peking zum Chefredakteur und Programmdirektor. Es bestimmt die Agenda und die Wahrnehmung Taiwans, ohne selbst etwas tun zu müssen.

Verschärfend wirken der Drang von Redakteuren in großen Medienorganisationen, bloß nichts falsch zu machen, sowie die Orientierung aneinander und an Nachrichtenagenturen. So bedeutet mehr Taiwan-Berichterstattung nicht zwangsläufig bessere Taiwan-Berichterstattung, sondern eher more of the same. Durch die Fixierung auf einen möglichen Konflikt erhalten viele interessante und wichtige Fragen rund um Taiwan kaum Aufmerksamkeit. Das führt nicht zu mehr Verständnis.

„Dann mach es doch besser, statt zu meckern“, mögen Sie einwenden. Das ist berechtigt. Es war auch stets mein Ziel, und in meiner Arbeit als Journalist tue ich, was ich kann – zum Beispiel habe ich dieses Buch geschrieben. Mittlerweile bin ich zum Glück nicht mehr allein als deutscher Reporter in Taiwan. Aber es ist ein sehr dickes Brett, an dem wir bohren. Eingefahrene Mechanismen des Mediensystems, fehlendes Wissen um und Verständnis für Taiwan, die Konkurrenz multipler Krisen um Aufmerksamkeit – es bleibt noch viel zu tun.

Seien Sie also sensibilisiert, wenn Sie Berichte verfolgen. Achten Sie auf die beschriebenen Konventionen und Mechanismen – was er- kennen Sie wieder? Schauen Sie immer als Erstes nach der Quelle – ist es ein Text aus Agenturmaterial (dpa, AFP, Reuters etc.) oder von einem namentlich genannten Autoren? Dann verrät ein Klick auf den Autorennamen oft bereits dessen Hintergrund, die letzten Beiträge und wie vertraut er oder sie mit dem Thema ist. Hinterfragen Sie kritisch, ohne „die Mainstreammedien“ pauschal abzuwerten. So eine Herangehensweise führt übrigens in jedem Bereich zu aufmerksamerer Mediennutzung, nicht nur in Sachen Taiwan.

Fußnoten

Fußnoten
1 Magazinbeiträge sind das Brot-und-Butter-Format für TV-Korrespondenten. Sie sind aus- führlicher als Nachrichtenfilme, aber kürzer und weniger aufwendig als Dokumentationen und haben meist eine Länge von zwei bis zehn Minuten.

2 Kommentare

  1. Ein leider sehr unausgewogener Artikel auf Übermedien. Meiner Wahrnehmung nach ist es genau andersrum. Die Sichtweise Chinas auf den Taiwan-Konflikt kommt so gut wie in den Medien vor. Daher sind die historischen Rahmenbedingungen in der Bevölkerung auch so gut wie unbekannt. Dementsprechend einseitig wird der Konflikt auch wahrgenommen und der Schuldige ist schnell gefunden: „Da ist ein großes, diktatorisch regiertes Land, das ein kleines, demokratisch regiertes Nachbarland einfach nicht in Ruhe lassen will.“

    Daher eine kleine Geschichtsstunde:
    Zur Zeit des zweiten Weltkriegs wird China vom Diktator Chiang Kai-shek regiert. Der ist zwar im Westen beliebt, weil er sich -ähnlich wie Hitler- mit Leib und Seele dem Kampf gegen den Kommunismus verschrieben hat; beim Volk aber eher weniger. Es ist halt auch problematisch, wenn man, um den Vormarsch der feindlichen Japaner zu verzögern, das Öffnen von Staudämmen anordnet und damit eine Million der eigenen Landsleute ertrinken lässt. 1949 gewinnt schließlich ein gewisser Mao die Revolution gegen Chiang Kai-shek. Chiang Kai-shek ist mit seinen verbliebenen Truppen und den gesamten chinesischen Goldreserven an der Küste eingekesselt. Mao befiehlt zwar, erst anzugreifen, wenn der Kessel komplett geschlossen ist und Chiang Kai-shek nicht mehr entkommen kann. Aber ein unbesonnener General wille zum Helden werden und greift zu früh an. Als Folge zieht sich Chiang Kai-shek nach Taiwan zurück, um dort eine neue Diktatur zu errichten. Dummerweise nimmt er auch noch die letzten verbliebenen Schiffe mit. Festland-China muss daher machtlos zusehen.

    Man sollte sich vielleicht einen Vergleich vorstellen: Hitler gelingt es Mitte 1945, mit seinen letzten Getreuen nach Helgoland zu flüchten um dort die „Republik Deutschland“ auszurufen. Von dort lacht er dann rüber und niemand kann etwas dagegen tun, weil es keine Schiffe gibt.

    Weil Chiang Kai-shek ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus war, wurde Taiwan auch gerne vom Westen gefördert. Dem Völkerrecht zum Trotz; denn das Taiwan ein Teil von China ist, war zu diesem Zeitpunkt eigentlich unstrittig. Diktator Chiang Kai-shek stirbt 1975, sein installiertes „Einparteien-System“ stirbt in den 1990er Jahren. Taiwan wird dann endlich demokratisch.

    Man sollte diese Tatsachen zumindest kennen, bevor man sich ein Urteil über Chinas Standpunkt erlaubt.
    Hat China deshalb einen legitimen Grund, Taiwan anzugreifen? Natürlich nicht. Man muss den Chinesen dringend klar machen, dass diese Dinge mittlerweile 80 Jahre her sind. Also de facto verjährt. Sollte Taiwan China Entschädigungen anbieten? Vielleicht. Denn Taiwans Wohlstand ist nicht nur auf westlicher Unterstützung aufgebaut sondern eben auch auf gestohlenem chinesischen Volksvermögen.

    Was man, wenn man sich in der Lage Taiwans befindet, hingegen nicht tun sollte: Auf der Landkarte im Abstand von 200 Meilen rund um die eigene Insel eine Linie zu ziehen, die bis an die Küste von Festlandchina reicht und dieses Gebiet als „Taiwanesischen Luftraum“ auszugeben. Andererseits funktioniert die Taktik ja recht gut, da westliche Medien das Narrativ von Taiwan nur allzu gerne übernehmen.

    Headline: „China verletzt Luftraum Taiwans“. Oder besser: „China provoziert mit Luftraumverletzung.“

  2. #1
    Da wird der Herr Bardenhagen aber gottfroh sein, dass ihm das endlich mitgeteilt wurde.

    Beste Grüße

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