AfD-Prozess

Die mündliche Verhandlung als bloßes Theater, weil das Urteil längst feststeht?

Merkwürdige Inszenierung
Die Kolumne von Ronen Steinke Ausriss: SZ

Alle zwei Wochen schreibt Ronen Steinke in der „Süddeutschen Zeitung“ im Wechsel mit einer Kollegin über seine Erlebnisse mit der deutschen Justiz. Die Kolumne heißt schlicht „Vor Gericht“ und kommt nicht besonders lautstark daher, aber vergangene Woche erzählte sie von einem ziemlichen Hammer: Bei einem Prozess in Köln vor zwei Jahren soll das Urteil schon im Detail festgestanden haben, bevor die mündliche Verhandlung überhaupt abgeschlossen war. Und nicht bei irgendeinem Prozess, sondern bei einem politisch besonders relevanten Verfahren, das viel Aufmerksamkeit erregte: vier Klagen der AfD gegen den Verfassungsschutz. Doch der ganze Tag der mündlichen Verhandlung vor Gericht, zehn „quälende“ Stunden in einem eigens angemieteten Saal in der Koelnmesse, er war laut Steinke nur: „Theater“.

Die Verhandlung, um die es geht, fand am 8. März 2022 vor dem Kölner Verwaltungsgericht statt. Es war die erste Instanz in dem Verfahren, dessen Berufung aktuell in Münster verhandelt wird.

Ronen Steinke, der rechtspolitische Korrespondent der SZ, berichtet, dass es damals zu einem Zwischenfall gekommen sei: Der Vorsitzende Richter habe die Sitzung am Abend, nach vielen anstrengenden Stunden in der warmen Halle, plötzlich unterbrochen und den Saal verlassen. Nach ein paar Minuten sei er zurückgekommen und habe kommentarlos weiter gemacht, „hatte es jetzt aber sehr eilig, fertig zu werden“.

Das war an sich wohl unproblematisch, aber dadurch, dass der übliche Ablauf durcheinander kam, fiel etwas anders auf: Die Pressemitteilung, die schon kurz danach verteilt wurde, passte nicht zum tatsächlichen Geschehen. Sie habe behauptet, schreibt Steinke, der Vorsitzende Richter habe „mit großer Geduld weitergemacht, er habe im Prozess noch sehr ausführlich dies und jenes erklärt, begründet, argumentiert.“ Er zitiert den Halbsatz „In der mündlichen Urteilsbegründung führte der Vorsitzende Richter der zuständigen 13. Kammer aus“, und urteilt: „Was das Verwaltungsgericht da als Pressemitteilung in die Welt hinausschickte, war an dieser Stelle einfach nicht wahr. Offenbar war diese Pressemitteilung schon vorab geschrieben worden.“

Und es wird noch schlimmer:

„Die Pressemitteilung lag außerdem schon in dem Moment fertig ausgedruckt bereit und wurde von den Pressesprechern verteilt, als der Prozess aufhörte. Das heißt: Das Urteil in all seinen Details war von den Richtern offenbar schon zu einer Zeit getroffen worden, als im Saal offiziell noch die Verhandlung lief.“

Das wäre ziemlich krass.

Es ist zwar richtig, wie auch Steinke erwähnt, dass im Vorfeld der mündlichen Verhandlung schon juristische Argumente zwischen den Parteien schriftlich ausgetauscht werden – in diesem Fall über Monate hinweg. Aber die zwei ehrenamtlichen Richter der fünfköpfigen Kammer befassen sich erstmals am Tag der mündlichen Verhandlung mit dem Fall. Und die mündliche Verhandlung in einem solchen Verfahren sollte nicht nur als Show für die Öffentlichkeit dienen, sondern Kern des Prozesses sein.

„Es trifft nicht zu“

Das Verwaltungsgericht widerspricht Steinkes Darstellung auf Anfrage von Übermedien: „Es trifft nicht zu, dass das Urteil in dem fraglichen Verfahren bereits zu einer Zeit getroffen worden wäre, zu der die mündliche Verhandlung noch lief.“

Aber wie konnte dann sofort eine Pressemitteilung vorliegen? Die stellvertretende Pressesprecherin des Gerichtes gibt den Ablauf so wieder: Nachdem die mündliche Verhandlung geschlossen war und die fünf Richter im Geheimen sich beraten und dann abgestimmt haben, habe der Vorsitzende Richter den Pressesprecher „in einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch in einem separaten Raum über den Ausgang der Klageverfahren informiert und ihm die wesentlichen Gründe für die Entscheidungen benannt. Auf der Grundlage dieser Angaben hat der Pressesprecher sodann den Entwurf einer Pressemitteilung zu allen vier Verfahren verfasst.“

Der Pressesprecher habe sich vorbereitet, indem er selbst die mündlichen Verhandlungen an jenem Tag verfolgte und schon mögliche Textpassagen und Versatzstücke für verschiedene Ausgänge der Verfahren vorbereitete. „Er hatte vor dem eben erwähnten Gespräch keinerlei Informationen von der zuständigen Kammer über den möglichen Ausgang der Verfahren oder auch nur über etwaige Voreinschätzungen zu einzelnen Streitpunkten erhalten.“ Den Entwurf der Pressemitteilung habe er sich dann durch den Vorsitzenden billigen lassen. „Damit war er legitimiert, die Pressemitteilung im Anschluss an die Urteilsverkündung zu veröffentlichen.“

Das sei übliche Praxis – nicht nur am Verwaltungsgericht Köln – und „Ausdruck einer professionellen Pressearbeit“, schreibt das Gericht. So könnten die Medienvertreter unmittelbar im Anschluss an eine Urteilsverkündung vom Gericht schriftliche Informationen über das Ergebnis eines Verfahrens und die wesentlichen Entscheidungsgründe bekommen. „Wir erläutern diese Abläufe auf Nachfrage jederzeit gerne, um etwaige Missverständnisse zu vermeiden.“

Laut Protokoll endete die mündliche Verhandlung des letzten der vier Verfahren – das war die, in der der Vorsitzende den kurzen Schwächeanfall erlitt – um 19:12 Uhr. Um 19:40 Uhr wurde das Urteil verkündet. In dieser Zeit müsste also auch das Vier-Augen-Gespräch stattgefunden haben.

„Das würde mich überraschen“

Ronen Steinke sagt zu diesem Ablauf, wie ihn das Gericht wiedergibt:

„Das kann so sein, aber mich würde das sehr überraschen. Mir hat sich sehr der Eindruck aufgedrängt, dass das Urteil vorher schon feststand. Das ist ziemlich naheliegend. Seit Monaten schreibt man sich ausführliche Briefe – da geht es in der mündlichen Verhandlung kurz vor Schluss, die mit einem Urteil am selben Tag endet, nicht mehr um neue Erkenntnisse oder Argumente: Das ist eher eine Aufführung für die Galerie.“

Er sagt auch, er habe gar nicht als Tatsache behauptet, dass dass das Urteil schon vorzeitig feststand, das sei nur sein Eindruck, eine Mutmaßung gewesen. Dann trägt das kleine Wort „offenbar“ allerdings eine große Last in dem Satz: „Das Urteil in all seinen Details war von den Richtern offenbar schon zu einer Zeit getroffen worden, als im Saal offiziell noch die Verhandlung lief.“

„Ich halte das nicht für einen Skandal, aber“

Das Verwaltungsgericht widerspricht Steinke auch in einem anderen Punkt: Seinem Vorwurf, dass in der Pressemitteilung wahrheitswidrig behauptet worden sei, der Richter habe (nach seinem Schwächeanfall) „mit großer Geduld weitergemacht, er habe im Prozess noch sehr ausführlich dies und jenes erklärt, begründet, argumentiert“.

Tatsächlich behauptet die Pressemitteilung das so nicht. Sie fasst aber zusammen, welche Gründe der Vorsitzende Richter „in der mündlichen Urteilsbegründung“ für die einzelnen Urteile genannt habe. Was er davon tatsächlich vorgetragen habe, sei im Wortlaut nicht mehr bekannt, teilt die Pressestelle mit, er habe aber sinngemäß gesagt, „die tragenden Erwägungen für die Urteile ergäben sich nach Maßgabe des Ausgangs der einzelnen Verfahren aus dem Inhalt der mündlichen Verhandlungen“.

Die vom Richter vor der Veröffentlichung autorisierte Pressemitteilung mit den Begründungen des Gerichtes ist insofern umfangreicher als das, was der Richter tatsächlich vor Ort gesagt hat. Das ist natürlich problematisch – aber rechtfertigt das die Behauptung Steinkes, alles sei nur ein abgekartetes Spiel gewesen, „Theater“, bei dem die „Inszenierung“ versehentlich sichtbar wurde?

Steinke sagt: „Ich halte das nicht für einen Skandal, aber so krass habe ich das noch nicht erlebt.“ Er beschreibt es auch in seiner Kolumne nicht im Tonfall eines Skandals. Aber was er beschreibt, klingt nach einem Skandal.

Die Pressestelle des Gerichts sagt, sie sei über das Erscheinen der Kolumne „mehr als zwei Jahre nach der Verhandlung“ überrascht gewesen. Eine mögliche Erklärung dafür ist das Berufungsverfahren, das gerade in Münster läuft. Die vermeintlich skandalöse Geschichte, dass das Urteil in der ersten Instanz schon im Detail festgestanden habe, während die mündliche Verhandlung noch lief, erzählt dort: die AfD. Dieser angebliche Verstoß gegen das Prozessrecht ist einer von vielen Punkten, mit denen sie versucht, das Urteil der ersten Instanz anzugreifen.

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