MeToo in Frankreich

Die Angst vieler Medien vor der Macht der Stars

Jeden Tag erhält Marine Turchi E-Mails oder Anrufe von Frauen, die sagen, dass sie Opfer sexueller Gewalt geworden seien, rund 1000 sind es pro Jahr. Zuletzt erzählten ihr viele, sie seien von einem Filmstar belästigt worden, von Gérard Depardieu. Dass sie ihr das erzählen, hat einen Grund: „Viele Frauen haben heute ein größeres Vertrauen in die Presse als in die Justiz“, sagt Turchi, die für die französische Investigativ-Redaktion „Mediapart“ arbeitet. Vierzehn Schauspielerinnen brachen bei „Mediapart“ im Frühjahr ihr Schweigen und berichteten öffentlich, Depardieu habe sie belästigt, die Fälle reichen zurück bis ins Jahr 2002. Turchi sagt im Gespräch mit Übermedien: „Wir hätten diese Stimmen schon viel früher erhören müssen.“

Gérard Depardieu macht abwehrende Geste mit der flachen Hand Richtung Kamera.
Gérard Depardieu Foto: Imagao/Abacapress

Tatsächlich kursieren in Frankreich viele Geschichten von mutmaßlich übergriffigem Verhalten prominenter Männer schon lange unter Journalisten und Journalistinnen. Aber erst wenn sich viele der mutmaßlichen Opfer zusammentun, werden ihre Erzählungen auch publik gemacht. „Die französische Kulturbranche kannte das problematische Verhalten von Depardieu“, räumte der Produzent Marc Missonier in der Sondersendung „Complément d’enquête“ im französischen Fernsehen ein. Missonier ist zugleich der Präsident des Verbandes der französischen Filmproduzenten und sagt heute, dass alle mitschuldig seien, die Depardieus Ausfälle so lange toleriert hätten. Sein Status als Star habe Depardieu geschützt. „Das war ein Fehler.“

In der Sondersendung berichteten viele Frauen, wie der Weltstar Depardieu, der die Hauptrolle in mehr als 200 Filmen spielte, sie angeblich begrapscht und belästigt habe – und alle hätten geschwiegen. Er sei „ein heiliges Monster“, hieß es. Neu waren nun vor allem Szenen von Drehtagen mit Depardieu in Nordkorea, wo er 2018 eine Reportage produzierte. Die wurde zwar nie gesendet, aber über Umwege gelangte Filmmaterial rund um den Dreh an die Investigativ-Redaktion von „Complément d’enquête“. Von der zweieinhalb Stunden langen Sendung bleibt vor allem Depardieus Lachen nach seinen obszönen Sprüchen in Erinnerung. Etwa, wenn er einer zurückweichenden Dolmetscherin mitteilt, er wiege 124 Kilogramm – „mit Erektion 126“. Oder wenn er, lässig auf einer Bank sitzend, zu einer Frau sagt, er habe einen „Balken in seiner Unterhose“ – und sich lachend auf die Schenkel klopft.


Depardieu war in Frankreich lange Zeit so unantastbar wie ein Denkmal, auch im Ausland war er beliebt. Für seine Rolle als Cyrano de Bergerac wurde er in den USA für den Oscar nominiert, später verkörperte er den Obelix in zahlreichen Asterix-Filmen. Erst seit 2018 wird zunehmend über das Verhalten des heute 74-Jährigen gegenüber Frauen diskutiert. Damals zeigte ihn die 22-jährige Schauspielerin Charlotte Arnould an, im März diesen Jahres bestätigte die Staatsanwaltschaft die Anklage und Ermittlungen wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe.

Inzwischen beschuldigen Depardieu 16 Frauen öffentlich der sexuellen Belästigung. In einem ganzseitigen Brief, den die konservative Tageszeitung „Le Figaro“ Anfang Oktober abdruckte, dementierte Depardieu alle Vorwürfe der sexuellen Belästigung und der Vergewaltigung. Er habe nie eine Frau missbraucht, das wäre für ihn „wie ein Tritt in den Bauch seiner Mutter“.

Auf Anfrage von Übermedien wollte sich Depardieu nicht zu den Vorwürfen äußern. Sein Anwalt Christian Saint-Palais teilt mit, dass der Schauspieler wegen des laufenden Gerichtsverfahrens keine Fragen beantworte.

„Auch die Medien haben geschwiegen“

In der aktuellen Sendung erklärte eine zweite Schauspielerin, Depardieu wegen sexueller Belästigung bei einem Filmdreh im Jahr 2007 angezeigt zu haben: Laut Helene Darras soll er sie dort am Gesäß, an den Beinen und an der Hüfte begrapscht und gesagt haben, sie solle auf sein Zimmer kommen. Nein, habe sie erwidert, aber er habe unaufhörlich weiter an ihr rumgefummelt. „Niemand hat etwas gesagt.“ Sie sei in seinen Augen „ein Stück Fleisch“ gewesen, eine 26 Jahre alte Statistin, die nicht einmal ihre Schauspielausbildung beendet hatte, sagt Darras. Die meisten Vorfälle hätten sich vor aller Augen, vor Dutzenden Mitgliedern der Filmcrew abgespielt. Aber die französische Filmbranche schaute offenbar weg. Und nicht nur die.

„Auch die Medien haben trotz der vielen Gerüchte und Zeugen geschwiegen“, sagt die Soziologin Claire Ruffio. Sie forscht zur medialen Rezeption von sexueller Gewalt und Belästigung und hat für ihre Studien viele Journalistinnen und Journalisten interviewt. Ihr Fazit: Heute sei es schwerer als noch vor wenigen Jahren, über sexuelle Belästigung zu berichten.

Nach der weltweiten MeToo-Debatte 2017 habe es zunächst eine größere Präsenz und Offenheit für das Thema gegeben. Aber schon seit 2018 würden Medien, die darüber berichten, regelmäßig mit Anzeigen wegen Diffamierung überzogen, auch Depardieu habe Medien angezeigt. „Je mächtiger ein Star ist – und es gibt kaum jemand mächtigeren als Gerard Depardieu – umso höher sind die Risiken.“ Deshalb verzichteten viele, insbesondere regionale Medien, lieber auf Berichterstattung. „Dieses Totschweigen führt dazu, dass die erlebte Gewalt von Frauen unsichtbar wird.“

Frauen halten bei einer Demonstration gegen Gérard Depardieu Schilder hoch.
Demo gegen Depardieu im Juni 2023 in Marseille Foto: Imago/Zuma Wire

Trotz der Fülle an Vorwürfen hielten Medien und die Filmbranche Depardieu noch bis zuletzt die Treue. Innerhalb der vergangenen vier Jahre drehte er 18 Filme! „Er arbeitet, während ich meine Zeit damit verbringe, zu überleben“, klagte Schauspielerin Charlotte Arnould. Und Depardieu dreht nicht nur Filme, bis zu der Sondersendung trat er auch ständig in Samstagabendshows oder Literatursendungen auf – jedes Mal mit großen Ehren empfangen, als „außergewöhnlicher“ Gast oder „größter Schauspieler Frankreichs“.

Der bekannte Moderator Cyril Hanouna kritisierte nach den Enthüllungen der verstörenden Szenen vor Millionenpublikum nicht Depardieu – sondern, dass die Szenen aus Nordkorea öffentlich wurden. Sie seien „privater Natur“ gewesen. Ein Kommentator verstieg sich gar zu der Aussage, dass dieselben Kommentare Depardieus mit lustiger Hintergrundmusik zum Lachen gewesen seien, alleine die dramatische Musik mache die Szenen zu einem Horrorfilm. „Das ist Gérards Humor. Er ist amüsant und ein Spaßkopf.“

Das erinnert an eine typisch französische Debatte: Darüber, wie schwer es angeblich falle, eine Grenze zu ziehen zwischen einer missglückten Anmache, einem Flirt – und mutmaßlich kriminellem Verhalten. Eine Debatte, die besonders 2018 von einem offenen Brief verschiedener Schauspielerinnen, darunter Catherine Deneuve, angefacht wurde: Sie postulieren darin, „dass die Freiheit, Nein zu einem sexuellen Angebot zu sagen, nicht ohne die Freiheit zu belästigen“ auskomme.

Soziologin Ruffio weist darauf hin, dass es eine eindeutige Definitionen gebe: Als sexuelle Belästigung gelte jede Verhaltensweise mit sexuellem Bezug, die von einer Seite unerwünscht ist und die Personen aufgrund ihres Geschlechts herabwürdigt. „Auch Journalisten und Journalistinnen haben in ihren Debatten unnötige Verwirrung gestiftet“, findet Ruffio.

Wenn, dann treten Opfer zahlreich auf die Bühne

Vermutlich hat das einige Frauen davon abgehalten, ihre Stimme zu erheben. Inzwischen treten mutmaßliche Opfer wenn, dann immer zahlreich auf die Bühne. Etwa, um den Nachrichtenmoderator Patrick Poivre d’Arvor, genannt PPDA, sexueller Übergriffe zu bezichtigen. PPDA ist in Frankreich ein ähnlich mediales Schwergewicht wie Depardieu, er moderierte über Jahrzehnte die Hauptnachrichtensendung im Fernsehen.

Der Moderator Patrick Poivre d’Arvor läuft über eine Straße.
Patrick Poivre d’Arvor Foto: Imago/Abacapress

In der Tageszeitung „Libération“ beschuldigten ihn zunächst acht Frauen, sie sexuell belästigt oder vergewaltigt zu haben, später traten zwanzig Frauen gemeinsam bei „Mediapart“ vor die Kamera. Inzwischen haben insgesamt 24 Frauen Anzeige wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung erstattet, Dutzende weitere haben gegen PPDA ausgesagt. Viele von ihnen berichten, er habe sie nach der Nachrichtensendung in seinem Büro vergewaltigt. Die Ermittlungen laufen noch, es gilt die Unschuldsvermutung. PPDA bestreitet öffentlich alle Vorwürfe, auf Anfrage äußerte er sich nicht.

Auch gegen den Filmproduzenten Luc Besson treten inzwischen neun Frauen öffentlich auf. Sie werfen ihm sexuelle Belästigung vor. Auch für Besson gilt die Unschuldsvermutung, er bestreitet ebenfalls alle Vorwürfe und ließ eine Anfrage unbeantwortet.

Viele Frauen erheben nun ihre Stimme, aber auch über die Skandale von PPDA, Besson und über ihre mutmaßlichen Opfer wird bislang verhältnismäßig wenig berichtet. „Es gibt immer noch ein Ungleichgewicht zugunsten des potentiellen Täters: Redaktionen verstecken sich hinter der Unschuldsvermutung, um nicht zu über sexuelle Gewalt und Vergewaltigung zu berichten“, sagt Soziologin Ruffio. Und natürlich gelte die Unschuldvermutung, man sollte sie auch benennen. Aber sie hindere Redaktionen bei anderen Vorwürfen – etwa bei Mord, Diebstahl, Geldwäsche – auch nicht daran, über einen Verdacht zu berichten.

Viele Fragen, keine Antworten

Es gebe inzwischen, so analysiert es Ruffio, eine Arbeitsteilung in französischen Medien: Viele Redaktionen haben Angst vor den Klagen und überlassen häufig die großen Investigationen der spezialisierten Redaktion von „Mediapart“. Anschließend berichteten sie dann mehr oder weniger ausführlich über deren Recherchen.

Die meisten davon stammen von Marine Turchi. Die „Mediapart“-Journalistin erkennt ein Muster in den Reaktionen der Beschuldigten und der Öffentlichkeit: Zuerst recherchierten sie und ihre Kolleginnen über Monate oder Jahre. Sie würden dabei mutmaßlich Betroffene anhören, Kurznachrichten und Fotos sichten und schließlich entscheiden, ob die Vorwürfe stichhaltig sind, um veröffentlicht zu werden. „Dann bitten wir den beschuldigten Star um eine Stellungnahme, stellen ihm Fragen – diese werden aber nie beantwortet“, sagt sie. Nicht einer hätte das bisher getan. „Direkt nach der Publikation aber wendet sich die beschuldigte Person oder ihre Anwälte an gefällige Medien und streitet alles ab. Und das wird dann vornehmlich zitiert.“

Für Turchi verbirgt sich dahinter eine Strategie der Beschuldigten, eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe zu vermeiden. „Depardieu hat natürlich das Recht, seine Version der Geschichte publik zu machen. Ich bedauere aber, dass er nun lediglich einen Brief veröffentlicht – und ihm niemand Fragen stellen kann.“

In ihrer nunmehr fast zehnjährigen Recherchearbeit zu sexueller Gewalt haben die Beschuldigten zwar stets widersprochen und „Mediapart“ offiziell einer „Lynchjustiz“ beschuldigt, aber die Redaktion erreichte bislang noch keine Gegendarstellung oder Unterlassungserklärung. Häufig sei das Problem, sagt Marine Turchi, dass die öffentliche Haltung allein an den Gerichtsverfahren hänge. Käme es etwa zu keiner Anklage oder einem Freispruch, würden die Beschuldigungen anschließend als falsch eingeordnet. „Dabei werden Ermittlungsverfahren häufig aus Mangeln an Beweisen gestoppt – was allerdings weder heißt, dass die Anschuldigungen falsch, noch dass sie richtig sind.“ Ohnehin würden die meisten Opfer erst gar keine Anzeige erstatten. „Es geht bei diesen Anschuldigungen auch um eine Kombination aus sexueller Gewalt und Machtmissbrauch.“

Denn häufig werden die älteren Stars von sehr viel jüngeren Berufsanfängerinnen der Übergriffe bezichtigt. Das Durchschnittsalter der Frauen, die behaupten, von Ex-Fernsehmoderator PPDA sexuell belästigt oder vergewaltigt worden zu sein, liegt bei 26 Jahren. Die Schauspielerin und Tänzerin Arnould, die Depardieu wegen Vergewaltigung anzeigte, ist rund 50 Jahre jünger. Die Überwachungskameras in Depardieus Haus, so schreibt es „Le Monde“, hätten aufgezeichnet, wie der Star die junge Frau an seiner Tür mitten in Paris in Unterhosen empfing. Arnould war zu ihm gegangen, weil Depardieu ihren Eltern bekannt war und sie sich von ihm habe beraten lassen wollen, wie sie ihre Schauspielkarriere starten könne. Die französische Justiz entschied im März 2022, dass es „schwerwiegende und übereinstimmende Indizien“ für eine Vergewaltigung von Arnould gebe und hielt die Anklage gegen Depardieu aufrecht. Er bestreitet dies und behauptet, der Sex sei einvernehmlich verlaufen. Wann der Prozess beginnt, ist noch unklar.

Allerdings gibt es im Fall Depardieu schon seit Jahrzehnten öffentlich zugängliche Filme, die zeigen, wie sich der Schauspieler einzelnen Frauen gegenüber verhält. In einem Video von 1986, zum Beispiel, ist zu sehen, wie Depardieu eine Maskenbildnerin gegen ihren Willen abknutscht, als sie gerade seine Nase pudert. Anschließend wird die Film-Szene weitergedreht, als sei nichts vorgefallen. Oder 1999. In einem Interview mit einer argentinischen Journalistin küsst er sie ausdauernd auf Schultern, Wange und Lippen, obwohl sie 14 Mal „nein“ und abwehrend „S’il vous plaît, Gérard“ („Bitte, Gérard“) sagt. Alarmierend war auch ein Bericht des US-Magazins „Time“ von 1991, in dem ein früheres Interview mit Depardieu zitiert wurde, in dem er angab, als Jugendlicher an Vergewaltigungen teilgenommen zu haben. Ein Bericht, der von der französischen Presse als Angriff einer feministischen Autorin gewertet wurde. Depardieus damaliger Sprecher sagte, seine Aussagen seien missverstanden worden – Depardieu sei bei Vergewaltigungen zugegen gewesen, habe aber nicht daran teilgenommen.

Das ist nun mehr als drei Jahrzehnte her. Schwer vorstellbar, dass Depardieu auch dieses Mal rehabilitiert werden kann, dafür sind es inzwischen zu viele, die ihn beschuldigen.

Die aktuelle TV-Doku zeigt auch eine Szene an einer Pferdemanege. Von der Tribüne aus beobachtet Depardieu die reitenden Frauen und kommentiert, sie würden es lieben, auf dem Sattel zu sitzen, das reibe an ihrer Klitoris. Das seien alles „große Schlampen“, sagt er noch. Und als ein zehnjähriges Mädchen an der Tribüne vorbei galoppiert, bemerkt er: „Brav, mein Mädchen. Wenn Sie galoppiert, wird sie zum Orgasmus kommen.“ Wieder bricht er in lautstarkes Lachen aus. Noch in der Sendung sagte sein langjähriger Produzent: „Avec Gérard, c’est fini“ – „Es ist vorbei mit Gérard“.

6 Kommentare

  1. Ein Thema, mit dem die patriarchalische Weltordnung noch lange zu tun haben wird. Häufig und gerne fallen dann aus dem Umfeld noch Vokabeln wie „Hexenjagd“ und die Täter-Opfer Umkehr nimmt ihren Lauf.

  2. Kann man schon wieder Cover-Bilder von Journalisten mit Hand vorm Mund? 90% aller Journalisten (m/w/d) trauen sich nicht zu sagen, was ist.

  3. Puh, ça suffit, Gérard – es sei auch der französischen Filmbranche eine gute Veränderung gewünscht…
    und den Geschädigten alles Gute.

  4. Danke, das ist der beste Bericht zu den Vorwürfen, den ich bisher gelesen habe. Er liefert die meisten Details, die beste Einordnung, beschönigt nicht und redet nicht schlecht. Er zählt die Fakten auf und überlässt dem Leser das Urteil. Alle anderen Presseberichte bisher waren mir zu dünn und zu wenig aussagekräftig. Vielen Dank für diesen Beitrag.

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