Wieso ist das so? (15)

Warum beginnen so viele Artikel mit einer Szene?

Wie schafft man es, Leser:innen in einen Text zu ziehen? Oft wählen Reporter:innen dafür den szenischen Einstieg, das heißt, sie beschreiben bildhaft das, was sie vor Ort bei der Recherche mit eigenen Augen gesehen haben. Der Reporter sei wie eine Kamera, sagt Holger Gertz von der „Süddeutschen Zeitung“ im Übermedien-Interview. Gertz bildet Nachwuchsjournalist:innen an der Deutschen Journalistenschule und an der Akademie für Publizistik im Fach Reportage aus.

Wann ist ein szenischer Einstieg in einen Text sinnvoll? Wie notwendig sind bildhafte Beschreibungen in Texten überhaupt noch, wo es doch ein Überangebot an audiovisuellen Medien gibt? Und sollte man das Aussehen von Menschen beschreiben?


Foto: IMAGO / Shotshop

Übermedien: Angenommen wir würden so in dieses Interview einsteigen: Holger Gertz sitzt auf seinem Hotelzimmer in Bremen. Er ist für ein paar Interviews in der Stadt und schaut noch kurz bei seinem Vater vorbei, der in der Nähe lebt. Er klingt beschäftigt, aber auch gut gelaunt, als wir uns am Telefon begrüßen. Na, was würden Sie dazu sagen?

Gertz: Was Sie versuchen, ist, aus einem Telefongespräch eine Szene abzuleiten. Damit hätte ich ein Problem. Das ist ein bisschen so wie die Leute, die ein Interview führen mit jemandem und dann sitzen sie der Person gegenüber, im Café zum Beispiel, und schreiben: die Person XY rührt in der Kaffeetasse mit einer Wucht, als wolle sie die Abgründe dieser Geschichte ans Tageslicht befördern. Das ist natürlich Unsinn, weil ich rede mit jemandem und wir sitzen zusammen. Das ist aber im Prinzip nur ein Gespräch, ein Interview, und keine Szene.

Viele Texte, nicht nur Reportagen, beginnen mit einer Szene. Mal gekonnt, mal weniger. Warum eigentlich?

Ich will als Reporter den Lesern natürlich sagen, dass ich da war, an dem Ort, an dem etwas passiert, dass ich nicht vom Schreibtisch aus schreibe. Das ist ja schon mal ein Wert an sich. Ich finde aber nicht, dass Reportagen unbedingt mit Szenen anfangen müssen. Es geht genauso mit einer Reflexion oder einem guten Zitat.

Was ist ein guter szenischer Einstieg?

Es gibt ja diesen blöden Spruch: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Aber das trifft es manchmal. Am Beispiel kann man das immer am besten sagen. Es gibt eine berühmte Geschichte von Alexander Osang über den Radfahrer Täve Schur. Schur war ein Nationalheld in der DDR. Und er ist ein sehr bodenständiger Mensch, das zeichnet ihn aus. Osang geht in die Geschichte rein mit diesem Satz:

„Eigentlich erzählt der Briefkasten die ganze Geschichte. Ein Blech-Briefkasten, auf dem Täve steht. Nur Täve. Sonst nichts.“

Der Reporter ist wie eine Kamera. Er fährt da hin und sieht, dass auf diesem Briefkasten nur der Vorname steht. Das ist eine Szene, die sehr viel aussagt. Osang schreibt dann auch noch: „Niemals würde sich Boris Becker ‚Bobele‘ auf den Briefkasten schreiben. Oder Michael Schumacher ‚Schumi‘. Das ist der Unterschied. Das ist die Geschichte.“ Damit habe ich eine Szene, die programmatisch über dem Ganzen steht. Und dann bin ich natürlich total drin. Oder, ein aktuelleres Beispiel: Katharina Jakob berichtet bei der „Zeit“ über Schweinehaltung in Finnland, ein entlegeneres Thema kann es kaum geben, aber sie bringt es uns nahe durch eine originelle Szene und – ja, auch das ist wichtig – durch Witz. Die Szene schafft einen Leseanreiz, jeder will doch über diesen Schweineexperten noch mehr wissen, wenn er das liest:

„Wie sich ein Schwein fühlt, kann einem niemand sagen. Außer vielleicht der eigene Leib. Deshalb legt sich Timo Heikkilä, Finnlands größter Ferkelzüchter, in einem seiner Ställe flach auf den Rücken. Heikkilä, 56 Jahre alt, streckt die Beine auf dem Spaltenboden aus, kreuzt die Arme über der Brust. Starrt an die Decke. ‚Ich bin jetzt die Sau‘, sagt er.“

Sind szenische Beschreibungen durch das Überangebot an audiovisuellen Medien nicht auch überflüssiger geworden?

Beschreibungen, die früher noch originell waren, sind jetzt nicht mehr unbedingt originell. Das hat sich wesentlich verändert. Hans Ulrich Kempski, der frühere Chefkorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, ist nach China gefahren und hat geschrieben, wie es da so aussieht. Das wissen heute viele Leute, weil sie selber da waren, oder sie haben es im Fernsehen oder im Internet gesehen. Szenen zu finden, heißt im Prinzip, die Position des Fotografen einzunehmen. Und da ist es manchmal besser, wenn man eine Position findet, die vom Geschehen ein bisschen weggeht.

Zum Beispiel?

2010 war ich Reporter bei der Fußball-WM in Südafrika. Das Eröffnungsspiel fand in Johannesburg statt. Ich habe mir überlegt: Ist das Stadion für mich der richtige Ort, oder gibt es einen anderen Ort? Ich bin nach Soweto gefahren, ein Township einige Kilometer weiter, zum Public Viewing. Die zeigten die Show vor dem Eröffnungsspiel, und man sah auf der Leinwand Düsenjäger, die übers Stadion flogen und die Nationalfarben in den Himmel sprühten. Ein paar Augenblicke später flogen dieselben Düsenjäger, die man gerade auf der Leinwand gesehen hatte, über uns hinweg. Ein irrer Jubel setzte ein. Das war der Moment, in dem man gespürt hat: Das Stadionticket ist nicht bezahlbar für die Menschen vor Ort in Soweto. Die sind eigentlich weit weg, aber sie sind trotzdem ganz nah dran. Der Fußball und dieses Turnier, das ist zwar alles kommerzialisiert, aber es erreicht die Leute eben doch. Und deswegen war es für mich als Reporter viel wichtiger, nicht im Stadion zu sein, wo ich immer das Übliche kriege.

Wir alle haben schon Texte gelesen, in denen jemand mit „federndem Gang“ geht oder in dem ein Manager in einem lichtdurchfluteten Büro im obersten Stockwerk eines repräsentativen Hochhauses sitzt und den Reporter empfängt. Ist das nicht abgedroschen?

Wir haben manchmal so eine Tendenz, Klischees vermeiden zu wollen. Es gibt aber oft Klischees, die sich in der Realität darstellen. Oft sind Leute so wirklich. Also Manager in lichtdurchfluteten Gebäuden, die sitzen da tatsächlich und die sitzen ganz oben. Und es gibt auch welche, die legen beim Reden ihre Füße auf den Tisch. Das sind Klischeebilder. Aber ich kann ja nicht einfach sagen, nur weil ich die Klischeebilder vermeiden will, lasse ich sie weg. Es gibt in der Realität oft Klischees, die sich darstellen und dann sind sie sicherlich auch beschreibungswürdig.

Haben sich Schreiber früher mehr getraut und war das besser? Wie schreibt man zum Beispiel, dass jemand markant aussieht, ohne dass man ihn oder sie beleidigt?

Das ist eine ganz wichtige Frage. Wenn man ältere Reportagen anschaut, merkt man schon, dass da Reporter und Reporterinnen, vor allem Reporter, kräftig zugehauen haben, was Optik angeht. Da waren sie oft sehr gnadenlos. Im Moment habe ich das Gefühl, das höre ich auch aus Redaktionskonferenzen bei uns, dass es so eine Tendenz gibt, man sollte eigentlich gar nichts mehr schreiben über Äußerlichkeiten von Personen, weil sich die Leute dann beleidigt fühlen oder irgendwie übergriffig gebrandmarkt. Es gehört aber nun wirklich zum Auftrag von Reporterinnen und Reportern, Menschen, Orte und Dinge zu beschreiben. Und die Art, in der sich eine Person optisch darstellt, sagt ja auch etwas aus über diese Person. Wenn jemand im weißen Anzug zu einer Beerdigung geht, ist das beschreibungswürdig.

Aber einen weißen Anzug kann man schnell wieder ändern. Körpermaße oder die Form der Nase nicht.

Es ist eine Frage der Abwägung. Man muss sich immer selber fragen: Brauche ich das in der Situation? Ist es wichtig, ist es nicht wichtig? Es gibt sehr herablassende Beschreibungen von Menschen, bei denen ich dann auch sage: Puh, das geht jetzt aber in Richtung Schmähkritik. Ist natürlich trotzdem erlaubt. Kann ja auch Stil des Autors sein. Ich selbst bin da tatsächlich sehr vorsichtig, muss ich sagen. Ich bin da wirklich zurückhaltend, auch aus eigener Erfahrung. Ich habe als junger Reporter mal über einen Mann geschrieben, der einen sehr langen Bart hatte: „Er sieht aus wie ein Gartenzwerg.“ Danach gab es einen Riesenärger. Er hat sich danach den Bart rasiert, und mir wurde Fehlinformation vorgeworfen. Möglicherweise habe ich ihn mit meinem Text dazu veranlasst, sich von seinem Bart zu trennen. Aber so etwas will ich nicht mehr schreiben. Ich erinnere mich an einen Kollegen vom „Spiegel“, der über einen Sommelier aus Belgien geschrieben hat, dieser Satz hat sich mir sehr eingeprägt: Er sieht so aus, als hätte er „versehentlich einen kleinen Mond verschluckt.“ Wenn man das Bild von diesem Mann gesehen hat, hätte man auch sagen können: vielleicht hat er auch den echten Mond verschluckt. Das Wörtchen „klein“ schwächt das Ganze ein bisschen ab. Dann ist die Beschreibung nicht so heftig, wie sie hätte sein können. Das fand ich ganz geschickt gelöst.

Der ehemalige Spiegel-Journalist Claas Relotius wurde mit Reporterpreisen ausgezeichnet. Dann kam raus, dass er seine Geschichten gefälscht und Szenen erfunden hat. Was hat sich dadurch verändert und wie prüft man, ob so eine Szene, die ja nur der Reporter gesehen hat?

Relotius hat viel verändert. Wenn jemand wirklich Leute und Szenen erfindet, Geschichten zurechtbiegt, wirft das natürlich ein schlechtes Licht auf die ganze Branche und vor allem auf unsere Spielart der Reportage. Ich zeichne nach Möglichkeit meine Gespräche auf und ich mache auch nach Möglichkeit Fotos von Szenen, die bedeutsam sind. Ich habe zum Beispiel vor einigen Jahren etwas über den Mythos des FC Liverpool gemacht und habe gesehen, dass eine Trauer-Prozession mit Leichenwagen ums Stadion herumfährt. Das habe ich aufgeschrieben, um zu zeigen, was der Verein den Menschen bedeutet. Aber das kann ich natürlich nicht einfach hinschreiben, das musste ich fotografieren, erst dann habe ich einen Beleg. Von dem Typen, über den ich damals geschrieben habe, dass er aussieht wie ein Gartenzwerg, hätte ich auch ein Foto machen sollen.

Sie haben kürzlich einen Text über die deutsch-österreichische Showbranche am Wörthersee geschrieben. In einer Szene fährt ein Entsorgungswagen für Speiseöl-Reste vor dem Hotel vor. Warum haben Sie so eine Beobachtung ausgewählt?

Da wird ja so eine Herrlichkeit aufgebaut am Wörthersee. Da ist alles so schön. Da ist das tolle Schlosshotel. Und da ist das Roy-Black-Denkmal und dieser wunderbare See. Es kommt ein Lastwagen mit Altöl, der schiebt sich genau in die Sichtachse zwischen dem Denkmal und dem Hotel. Er zerschneidet sozusagen diese gewünschte Idylle und gibt einen Hinweis darauf, dass das alles eben gar nicht so idyllisch ist – eine Art Leitmotiv des Textes. Ich wollte auch die unterschwellige Traurigkeit des Moments illustrieren. Es hat geregnet, und ein Regentropfen hing wie eine verlorene Träne am Kinn von Roy Black. Ich hätte das übrigens nicht geschrieben, wenn ich nicht das entsprechende Foto gemacht hätte. Das glaubt mir ja sonst wieder keiner. Wenn Sie das Foto anschauen, werden Sie feststellen, dass auch dieser Regentropfen dort abgebildet ist.

6 Kommentare

  1. Interessantes Thema. Mir geht diese Pseudo-Szenenhaftigkeit vieler Reportagen oder auch Podcasts seit langem auf den Senkel. Drei Absätze „Ich treffe XY an einem trüben Samstagnachmittag in einem verfallenen Hinterhof in Berlin-Neukölln“ usw. – und dann zwei Sätze dazu, was XY eigentlich zum Gegenstand beizutragen hat.

    Leider ist mir das Interview zu anekdotenreich und oberflächlich geraten. Hatte mir einen tieferen und kritischeren Blick in die Werkstatt erhofft. Herr Gertz hat viel erlebt in Soweto und Liverpool (anscheinend meist auf Fußball bezogen). Ein bisschen Abstraktion vom eigenen Tun hätte hier mehr erklären können.

    „Eigentlich erzählt der Briefkasten die ganze Geschichte. Ein Blech-Briefkasten, auf dem Täve steht. Nur Täve. Sonst nichts.“

    So schön die Sache mit dem Briefkasten auch ist, den Stil mit seinen Kürzestsätzen und den inszenierten Wortwiederholungen finde ich prätentiös. Ist natürlich Geschmackssache, aber Stefan Gärtner nannte Osang mal den „Raunpfleger“. Trifft es ganz gut, finde ich.

  2. Ich sehe das ähnlich wie #1: Bei den meisten Reportagen, die ich in letzter Zeit gelesen habe, habe ich entweder beim Lesen des Einstiegs innerlich die Augen verdreht oder habe die Absätze übersprungen auf der Suche nach dem wesentlichen, dem interessanten Inhalt.

    Da unterscheiden sich Künstler von Handwerkern: Die einen schaffen es, am Beginn des Textes eine Stimmung zu erzeugen, die den/die Leser/in durch den Rest begleitet und die Reportage zu etwas Besonderem macht. Die Handwerker basteln was ähnlich aussehendes, was aber langweilig, selbstdarstellerisch oder beides ist.

  3. Das Problem mit den Szeneneinstiegen ist auch, das es nicht zwangsläufig das vermittelt, was man ausdrücken möchte. Ggf. einfach nur durch Kürzung oder Stilisierung, aber manchmal eben auch einfach, weil man Situationen ohne Zusammenhang unterschiedlich interpretiert.
    Beispiel Briefkasten mit nur dem Vornamen. Empfinde ich als eine herausragend schlechte Illustration von ‚bodenständig‘. Aus meiner Sicht ist es eher abgehoben. Egal wie man selbst gerne angesprochen wird, die meiste Post bekommt man von Institutionen, die einen mit vollem Namen, oder nur dem Nachnamen adressieren. Man erwartet also vom Briefträger, dass er weiß wer man ist – alle davon, auch die Aushilfen. Zumal Täve kein gewöhnlicher Vorname ist und locker auch ein Nachname sein könnte – selbst wenn es durch die Hausnummer eindeutig wird, ist es also schon beinahe Pflichtverletzung des Briefträgers einen Brief der an ‚Schur‘ adressiert ist, bei ‚Täve‘ einzuwerfen. Man erwartet also entweder, dass alle Briefträger wissen, wer man ist, oder man hat kein Problem damit, wenn Post nicht ankommt. Sicher kein riesen Problem, aber definitiv kein Ausdruck von Bodenständigkeit, die ja doch eher dadurch definiert ist, eben keine (kleinen) Extravaganzen abzuziehen.
    Und so ist es häufiger mal mit solchen Szenen, dass dann darauf aufgebaut wird, oder Schlüsse gezogen werden, die eher Verwirrung oder Widerspruch anregen.

  4. @Soronume (#3):

    „Zumal Täve kein gewöhnlicher Vorname ist…“

    Täve ist gar kein Vor-, sondern ein Spitzname. Eigentlich heißt der Mann Gustav Adolf Schur. Allerdings war er in der DDR als „Täve“ derart berühmt, dass ihn auf seinem Dorf wirklich jeder kennen dürfte. 1998, als die Reportage entstand, kandidierte er zudem gerade für den Bundestag. (Ob er bodenständig ist, kann ich nicht beurteilen.)

    Funfact: Uwe Johnson hat 1961 (!) einen Roman über Schur veröffentlicht, „Das dritte Buch über Achim“. Lohnt sich.

  5. Danke, dass das Thema mal beleuchtet wird. Szenische Einstiege überspringe ich entweder, oder sie sind Anlass gar nicht erst weiter zu lesen, ich finde sie in 95% aller Fälle einfach redundant. Vielleicht habe ich (und evtl auch andere) heute ein anderes Verhältnis zu journalistischen Texten, ich will da Informationen, keine Geschichten.

  6. Was meinen Blutdruck auch regelmäßig in die Höhe treibt, sind Beschreibungen der Kleidung, Frisur, Stimmung… Vollkomen sinnfreie Füllabsätze. Fast so schlimm wie der obligatorische Male Gaze in Filmen oder Serien.

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