Kriegsreporter

Solidarität mit der Ukraine darf kein Filter für Nachrichten sein

Eine Klarstellung vorab: Was hier folgt, ist keine selbstgerechte Kollegenschelte, sondern eine Reflexion über die Arbeit als Reporter nach acht Monaten Krieg in der Ukraine. Mit all dem, was ich hier schreibe, meine ich immer auch mich selbst. Es sollen Denkanstöße sein für Kriegsreporter in der Ukraine und in anderen Konflikten.

Ich erinnere mich an keinen Krieg in der jüngeren Vergangenheit, in dem für uns Journalisten, auch für uns als Gesellschaft, so klar war, auf wessen Seite wir stehen: Die Ukraine wird am 24. Februar überfallen vom Nachbarstaat Russland, mit einer (scheinbaren) militärischen Übermacht, mit großer Rücksichtslosigkeit und Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung. Ziel ist die Unterwerfung des Landes, die Einrichtung einer moskautreuen Regierung. Der russische Präsident Wladimir Putin will so verhindern, dass ein Land unabhängig von Moskau seinen Weg geht, innenpolitisch, wirtschaftlich und außenpolitisch.

Emotional sind wir, die wir in der Ukraine unterwegs sind, angefasst: vom heroischen Kampf der Soldaten gegen einen übermächtigen Gegner, vom menschlichen Leid der Flucht, von den vielen Berichten über barbarische Kriegsverbrechen der russischen Truppen, ob in Butscha oder den anderen Orten der Ukraine, in denen nach der Befreiung die Leichen mutwillig erschossener Zivilisten gefunden wurden.

Wir wollen den Ukrainern in Deutschland eine Stimme zu geben, die deutsche Politik und Gesellschaft „bei der Stange“ zu halten. Denn angesichts der wachsenden Krisenstimmung in Deutschland besteht die Gefahr, dass die Kräfte an Zulauf gewinnen könnten, die einen faulen Kompromiss mit Putin anstreben, um hier bei uns wieder wirtschaftliche und soziale Ruhe zu haben. Die Ukrainer brauchen aber unseren Durchhaltewillen, weil sie ohne unsere politische, finanzielle und militärische Unterstützung im Kampf gegen Russland nicht bestehen können.

Hieraus erwächst aber ein journalistisches Problem: Was tun mit Informationen, die dem im allgemeinen positiven Bild der Ukraine schaden könnten?

Negative Tweets über die Ukraine sind nicht prorussisch

Der „Bild“-Journalist Julian Röpcke, demonstrativ proukrainisch, erntet auf Twitter regelmäßige Shitstorms – Vorwurf: russische Desinformation! – seiner Fanbase, wenn er neben allem anderen auch über militärische Misserfolge oder über Gräueltaten der ukrainischen Armee berichtet. Dass er es dennoch tut, ist richtig.


Das Verhalten von Ukraine-affinen Journalisten auf Twitter ist ein ganz eigenes Thema, die Grenze zwischen Aktivismus und Journalismus verschwimmt zu oft. Ich kenne ja von mir selber, wie sehr man geneigt ist, die eigene Reichweite dazu zu nutzen, um die Richtigkeit der Unterstützung für die Ukraine zu untermauern. Allerdings gibt es – rückblickend auf die letzten acht Monate – auch Dinge, die ich vielleicht besser nicht retweetet hätte, weil ich sie nicht überprüfen konnte.

Ein haarsträubendes Beispiel der vergangenen Wochen war die Sache mit den Goldzähnen: Unter Berufung auf einen hohen Ermittler der ukrainischen Polizei im Gebiet Charkiw verbreitete eine ukrainische Aktivistin Bilder einer Kiste mit „Goldzähnen“, die in einer Folterkammer gefunden wurden, dazu die Frage: Doesn’t remind you of anything from the past history? Laut „Bild“ wurden die Informationen auch vom ukrainischen Verteidigungsministerium verbreitet – und tausendfach geteilt. 

„Bild“-Journalist Paul Ronzheimer, im Osten der Ukraine unterwegs, fand schnell vor Ort heraus, dass die Zähne (im übrigen keine wirklichen Goldzähne) dem lokalen Zahnarzt gestohlen worden waren, also eben nicht Gefangenen oder Toten entnommen wurden. Die Episode sollte uns lehren: Auch Informationen, die von höchster ukrainischer Stelle kommen, sollten wir mit Vorsicht behandeln. Ungeachtet der zahllosen wahrheitsgetreuen Berichte, die wir liefern, braucht es nur wenige dieser journalistischen „Reinfälle“, um unsere Glaubwürdigkeit dauerhaft zu untergraben.

Ein anderes Beispiel dafür sind triumphale Tweets ukrainischer Offizieller, die von vielen Journalisten geteilt wurden, darauf zu sehen Straßen in Kyjiw und Dnipro, in die Raketen eingeschlagen waren und die noch am gleichen Tag repariert wurden. Das ist zweifellos ein Symbol der von uns so bewunderten Resilienz der Ukrainer, aber natürlich sind Informationen dieser Art Propaganda. Sie führen vom Thema weg: Denn die von Raketen getroffenen Kraftwerke, die das Hauptziel der russischen Angriffe waren, lassen sich nicht an einem Tag reparieren. Muss man das als Journalist wirklich teilen?

„Informationshygiene“ als Regel

In der Ukraine funktioniert seit Kriegsbeginn eine zuweilen ironisch als „Informationshygiene“ beschriebene Praxis: Informationen, die der Ukraine schaden könnten, werden zurückgehalten. Ob über Probleme in der Armee oder Korruption, darin sind sich die meisten einig, wird man wieder sprechen, wenn der Krieg beendet ist. Das ist aus ukrainischer Sicht verständlich: Man will der mächtigen gegnerischen Propaganda und jenen im Westen, die nur auf Argumente warten, um der Ukraine die Loyalität aufzukündigen, keine Munition liefern.

Wir stehen vor einem ähnlichen moralischen Problem. Aber, um ein bekanntes Zitat zu paraphrasieren: Wir sollten uns mit der Sache der Ukrainer gemein machen, und trotzdem die Grenze zwischen Aktivismus und Journalismus nicht verwischen.

Das betrifft etwa ukrainische Narrative: Wir sollten (verschiedenen) Ukrainern eine Stimme geben. Aber wir sollten ihre Narrative nicht eins zu eins zu übernehmen, sondern mit der Wirklichkeit abgleichen. Das betrifft etwa Urteile über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten.

Bis zu den jüngsten Befreiungen durch die ukrainische Armee war die Situation dort eine „black box“ für uns Journalisten. Bis auf wenige Beispiele traute sich kein Journalist dorthin, nicht unbedingt aus Sicherheitsbedenken, sondern aus ganz praktischen Gründen: Reisen in die besetzten Gebiete von Russland aus führen zu einer Einreisesperre in die Ukraine.

Straßenszene in Mariupol
Straßenszene in Mariupol Screenshot: YouTube

Aber wie, und diese Frage wurde mir zuletzt immer wieder in Deutschland gestellt, ist eigentlich die Lage in der Stadt Mariupol? Was denken die Menschen, die dort leben, über die Ukraine, über die Besatzung durch die Russen, über den Wiederaufbau durch die Russen? Es gab den ein oder anderen Versuch deutscher Medien, sich aus der Ferne ein Bild zu verschaffen, russische Staatsmedien oder in diesem Fall ein belarussischer Sender drehen Propaganda-Videos über den heroischen Wiederaufbau durch das russische Brudervolk. Ein ZDF-Reporter reiste im Juli mit einer vom russischen Militär organisierten Journalistengruppe nach Mariupol, entsprechend ohne die Möglichkeit, unabhängig zu berichten. Ein Team des Senders „France 2“ traute sich im Juni in die Stadt. Aber den wohl neutralsten Eindruck – zumindest visuell – bietet ein simples 19-minütiges Video einer Autofahrt durch das Stadtzentrum, aufgenommen von einem ortskundigen Bewohner.

Butscha ist nicht überall

Bis wir unabhängig aus Mariupol berichten können, wird es wohl noch etwas dauern. Seit die Ukraine aber Quadratkilometer um Quadratkilometer befreit, können wir Einblicke in das Leben unter der russischen Besatzung gewinnen. Wir sollten uns bemühen, an dieses Thema möglichst vorurteilsfrei heranzugehen. Auch wenn es fast überall in den besetzten Gebieten Repressionen gegenüber proukrainischen Politikern, Aktivisten oder jungen Männern, die in der Armee gedient haben, gab: Nicht jeder Ort verwandelte sich in ein Butscha. 

Junge mit Mutter und Oma in der Siedlung Shyroke, bis zuletzt Frontstadt
Eine Familie in der Siedlung Shyroke, bis zuletzt Frontstadt Foto: M. Gathmann

Meine Hypothese nach meinen Besuchen in befreiten Orten im Gebiet Cherson: Je weiter von der Front entfernt, je strategisch unbedeutender der Ort, desto ruhiger verlief die Zeit der Besatzung. Ein Beispiel dafür ist das Dorf Zolota Balka am Ufer des Flusses Dnipro, das ich vor kurzem besuchen konnte. Auch das gehört zum Bild. Ungeachtet aller Gräueltaten der russischen Besatzer und ihrer Hilfstruppen aus den „Volksrepubliken“: Butscha war und ist nicht überall.

So wie ich in Zolota Balka werden die Kollegen nun mehr und mehr auf das Thema der sogenannten „Kollaboration“ stoßen. In den von Russland (neu) besetzten Gebieten kommt es zu vielfältiger Zusammenarbeit mit den russischen Besatzern und den von ihnen eingesetzten Statthaltern. Die einen lassen sich locken von der Aussicht auf Macht, die sie unter normalen Umständen nie erlangt hätten, ob als Chefarzt einer Klinik, als Bürgermeister oder Gouverneur einer ganzen Region. Andere erwarten wirtschaftliche Vorteile: Im Gebiet Cherson bekamen große Landwirte, die zum Teil auch Abgeordnete des Regionalparlaments waren, Zugriff auf Technik und Ländereien ihrer Konkurrenten, die auf ukrainisch kontrolliertes Territorium geflohen waren. Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die sich mit den Gegebenheiten arrangieren: Wenn auf Pensionen aus der Ukraine kein Zugriff mehr besteht, nimmt man eben jene, die von den Russen ausgezahlt werden, gleiches gilt für humanitäre Hilfe. Und es gibt die „Überzeugten“: Menschen, die den Einmarsch der Russen begrüßten, die sogar in die russische Armee eintraten oder am 9. Mai mit einer russischen Flagge auf den zentralen Platz ihrer Stadt zogen.

Die Wirklichkeit ist komplexer als viele berichten

Zu diesem Thema gibt es Texte, in denen die Rollen klar verteilt sind: Hier die schönen, stolzen ukrainischen Patrioten, dort die hässlichen, gemeinen und zwielichtigen Kollaborateure. Es gibt aber auch Texte, etwa diesen aus der Süddeutschen oder jener aus der Morgenpost, welche die Situation in ihrer Komplexität beschreiben.

Sie entsprechen nur bedingt dem Narrativ, das in den sozialen Netzwerken zumeist von wohlmeinenden Aktivisten verbreitet wird: Dass die Ukraine bis in den letzten Winkel von Patrioten besiedelt ist, welche nun die ukrainischen Befreier mit Blumen begrüßen. Derartige Szenen werden gerne auf Twitter, Instagram und TikTok geteilt. Sie finden auch tatsächlich statt, aber entsprechen sie der komplexen Wirklichkeit? Auch in den ukrainisch kontrollierten Gebieten bin ich immer wieder auf Menschen getroffen, die – meist etwas verklausuliert – eine prorussische Haltung zu erkennen gaben. 

Ein befreundeter TV-Journalist mietete in Kramatorsk wochenlang eine Wohnung und verbrachte die Abende mit den anderen Bewohnern, meist Rentner, die sich allabendlich klar prorussisch äußerten. Vor die Kamera bekam er sie damit freilich nicht: Anders als vor dem 24. Februar traut sich in der Ukraine aus Angst vor sozialer Ächtung kaum jemand, zu diesem Thema offen zu sprechen. Aber diese Stimmungen – so wenig es in unser Bild passt – gibt es, gerade im Osten der Ukraine, und gerade unter Älteren. Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow, der mehrere Jahre in russischer Gefangenschaft verbracht hat und jetzt als Soldat im Donbass kämpft, hat diesen Eindruck in einem Interview jüngst bestätigt.

Wir Journalisten sollten – trotz aller Unterstützung der Ukraine – auf diesen Aspekt einen aufmerksamen Blick haben. Gerade wenn die Ukraine nun Gebiete einnehmen sollte, deren Bewohner seit 2014 in russisch kontrollierten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk leben, wird das Thema immer virulenter: Die militärische Eroberung ist womöglich der einfachere Teil als die Re-Integration dieser Menschen in einen ukrainischen Staat, der über die vergangenen acht Jahre politisch und kulturell deutlich ukrainischer geworden ist. Wie wird die Ukraine mit diesen Menschen umgehen? Der Gouverneur des (großteils besetzten) Gebiets Luhansk, Serhij Gayday, hat in einem Interview von einer „maximalen Bestrafung“ aller Kollaborateure und der nötigen „Assimilierung“ der Bevölkerung gesprochen.

Militärangriffe nüchtern einordnen

Ein diffiziles Thema ist die – so zynisch es klingen mag – nüchterne Einordnung militärischer Angriffe. Nehmen wir als Beispiel die massiven russische Angriffe vom 10. Oktober: Russland attackiert mit über 90 Raketen und Drohnen die Ukraine. Wir sehen – viele Journalisten leben in Hotels unweit der Einschläge – Bilder von attackierten Orten in Kiew: Live-Schalten, auch mit Bürgermeister Klitschko, vor dem Bombenkrater auf einem Spielplatz, zerstörte Autos und Häuser im Stadtzentrum. Aber wird mit dem Framing „Raketen auf Spielplätze, Kamikaze-Drohnen auf Wohnhäuser“ wirklich ein adäquates Bild des Angriffs vermittelt? Dass bei etwa 45 Raketeneinschlägen (etwa die Hälfte wurde abgefangen) mit 20 Todesopfern verhältnismäßig wenig Menschen ums Leben kamen, ist zumindest erwähnenswert. 

De facto trafen die Raketen größtenteils ihre Ziele, in erster Linie (Heiz)-Kraftwerke und Umspannwerke, kritische Infrastruktur der Ukraine also, um sie vor dem anstehenden Winter zu schwächen. Die Information, dass Russland in erster Linie auf kritische Infrastruktur, und eben nicht auf Spielplätze gezielt hat, gehört zum Gesamtbild. Ihre Erwähnung ändert zugleich nichts an der Tatsache, dass Russland einen völkerrechtswidrigen, brutalen Krieg in der Ukraine führt. Es geht um die korrekte, unverzerrte Darstellung von Tatsachen.

Bemerkenswert ist die geringe Opferzahl auch, wenn man sie im Vergleich setzt zur Situation in der Großstadt Saporischja im Südosten, die seit Wochen mit S-300-Raketen attackiert wird: Dort kamen im Oktober in einer Nacht durch russischen Raketenbeschuss fast ebenso viele Menschen ums Leben wie bei dem russischen Großangriff auf die Ukraine vom 10. Oktober.

Aber auch hier ist die Situation etwas komplexer als meist dargestellt: De facto ist Saporischja eine Frontstadt, durch die die Ukrainer sehr viel Personal und Technik Richtung Front südlich der Stadt bewegen. Die Russen attackieren Orte, an denen sie Soldaten oder Munitions- und Waffenlager vermuten, oder Orte, an denen Panzer und sonstige Militärtechnik repariert wird. Auch die Großfabrik „Motor Sitsch“, wo unter anderem die Motoren für die Bayraktar-Kampfdrohnen produziert werden, wurde mehrfach angegriffen. Leider, und das wird von den offiziellen ukrainischen Stellen aus guten Gründen so gut wie nie veröffentlicht, treffen die russischen Angriffe ihre Ziele durchaus.

Auch Ukrainer töten Zivilisten

Ein noch schwierigeres Thema ist der Umgang mit Meldungen über zivile Tote durch ukrainische Angriffe auf russisch besetztes Territorium. Die Vorstellung, dass die ukrainischen Raketen chirurgischen Eingriffen gleich nur die russischen Positionen treffen, ist unrealistisch. Außerhalb von Charkiw, in einem gerade befreiten Dorf, konnte ich mir im Mai einen Eindruck davon verschaffen: Dort hatten die Ukrainer die Positionen der russischen Armee – in diesem Fall eine Schule im Ortszentrum – über Wochen mit Artillerie und Raketen attackiert und dabei auch die Wohnhäuser in der Umgebung getroffen. In der Straße vor einem Wohnhaus steckte noch das Projektil eines ukrainischen Mehrfachraketenwerfers. 

Die ukrainische Kriegsführung ist weit entfernt von der russischen – das oben erwähnte, weitgehend zerstörte Mariupol ist nur das krasseste Beispiel dafür –, aber natürlich schießen auch die Ukrainer daneben und treffen Zivilisten. Bei uns erfährt man davon höchstens am Rande. Nur ein Beispiel: Am 7. Oktober traf –laut örtlichen Behörden – eine ukrainische Rakete einen Bus nahe der Darjewskij-Brücke unweit der Stadt Cherson, mindestens vier Menschen starben. Bilder von vor Ort zeigen einen ausgebrannten Bus, die Ukrainer haben diese – und andere Brücken – über die vergangenen Monate tatsächlich immer wieder attackiert. Das große Problem für uns ist, dass die Information kaum zu überprüfen ist.

Wie auch die Erzählungen von Zivilisten, dass die russischen Besatzer selbst auf die von ihnen besetzten Orte feuern würden, um die Bevölkerung gegen die ukrainische Armee aufzuhetzen. Derartige Geschichten wurden mir zuletzt im Gebiet Cherson erzählt, überprüfen lassen sie sich praktisch nicht. Was tut man mit derartigen Informationen?

Das Bild vom geschundenen Land

Zum Schluss eine weitere mediale Verzerrung, die mir gerade auf meiner letzten Reise aufgefallen ist: In Deutschland scheint das Bild verbreitet zu sein, dass die Ukraine ein zerstörtes Land voller geschundener Menschen sei. Wer aber in diesem Herbst in die Ukraine reist, der reist mit Menschen, die aus dem Ausland in ihre Städte zurückkehren, der findet vielerorts, selbst in Städten wie Saporischja, nur 40 Kilometer von der Front entfernt, ein sehr lebendiges Land: Fabriken, die – wenn auch nur mit halber Auslastung – produzieren, volle Restaurants, junge Paare, die Hochzeit feiern, Menschen, die auch im Hinblick auf die militärischen Erfolge der ukrainischen Armee vorsichtig optimistisch in die Zukunft blicken.

Auf dem Weg von Saporischja nach Kriwij Rih machte mein Bus eine Pause in Dnipro, die ich für eine kurze Schalte mit dem WDR nutzte. Im Hintergrund sieht man die Busse am Busbahnhof; Menschen, die dort einsteigen. Erst nach der Schalte fiel mir auf, dass der Busbahnhof zum Teil zerstört ist nach einem russischen Angriff Ende September. Im Normalfall würde sich ein TV-Journalist eher vor den zerstörten Busbahnhof stellen. Aber ist das nicht Teil des Problems? Zu viele Bilder von zerstörten Häusern und Leichen hinterlassen vielleicht am Ende beim Rezipienten den Eindruck, dass dieses Land ganz allgemein so aussieht, dass es nur noch täglich wachsendes Leid und Verzweiflung gibt. Aber das ist nicht wahr.

6 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen einsichtsvollen Beitrag! Ich teile das Anliegen des Artikels – Darstellung auch verwirrender Fakten bei gleichzeitiger Klarheit der völkerrechtlichen Beurteilung – voll und ganz. Ich glaube sofort, daß das eine immens schwierige Aufgabe für Journalisten ist. Und es ist eine ebensolche Herausforderung für Medienrezipienten.

  2. Der Spielplatz wurde zu symbolträchtig, das stimmt. Allerdings kann die Zerstörung der Infrastruktur den Winter über mehr Todesopfer bedeuten, als ein direkter Angriff mit diesen Drohnen auf die Zivilbevölkerung: Der Winter als Versuch einer Massenvernichtungswaffe.

  3. Guter Gastbeitrag.

    Hier ertappt sich ein deutscher Nationalist dabei, dass die komplexen Fakten nicht ins eindimensionale Weltbild passen und sucht den moralisch richtigen Standpunkt zwischen journalistischem Ideal und bedingungsloser Hingabe.

    > Der russische Präsident Wladimir Putin will so verhindern, dass ein Land unabhängig von Moskau seinen Weg geht, innenpolitisch, wirtschaftlich und außenpolitisch.

    Was der Filter auch schwer zu diskutieren zulässt, ist dass es sich hier um einen Stellvertreterkrieg handelt. Die Alternative zu einer russischen Ukraine ist nicht Neutralität, sondern Einbindung in EU und NATO. Dass „wir“ imperialistische Interessen verfolgen und die in der Ukraine den russischen entgegenstehen, das festzustellen gilt schon als Feindpropaganda. Imperialistisch seien immer die anderen, denn wir sind die Guten und nur im Auftrag von Demokratie und Menschenrecht in der Welt unterwegs.

    > Wir wollen den Ukrainern in Deutschland eine Stimme zu geben, die deutsche Politik und Gesellschaft „bei der Stange“ zu halten.

    Die Aufgabe von Journalismus ist also Propaganda.

    > Denn angesichts der wachsenden Krisenstimmung in Deutschland besteht die Gefahr, dass die Kräfte an Zulauf gewinnen könnten, die einen faulen Kompromiss mit Putin anstreben, um hier bei uns wieder wirtschaftliche und soziale Ruhe zu haben.

    Weg mit Diplomatie, denn Kompromisse sind faul! Praktischerweise hat man eingangs die Welt in gut und böse sortiert. Mit Orks macht man keinen Frieden. Dass die Forderung nach diplomatischen Lösungen, Kompromiss, Verhandlungen, gegenseitigen Zugeständnissen, also das, was sonst der Normalfall ist, so grundlegend abgelehnt und sogar verächtlich gemacht wird, das ist ein Armutszeugnis für den journalistischen „Filter“. In den USA haben sich gerade progressive Demokraten vorsichtig in einem Brief geäußert und mussten den dann nach einem Shitstorm zurückziehen. Hierzulande verweigert man sich auch schon seit Jahren einer Diskussion und beschimpft solche Leute als Putinversteher.

  4. @Erwinzk: War ja klar, dass ein solcher – im Übrigen sehr guter und immens wichtiger – Beitrag auch irgendwelche Relativierer auf den Plan ruft. Ob nun einem Land – eventuell, irgendwann – eine Mitgliedschaft in EU oder/und NATO in Aussicht gestellt wird oder ob ein Land militärisch überfallen und zu großen Teilen annektiert wird, ist ja irgendwie fast dasselbe und alles schlimmer Imperialismus. Falls Ihnen sonst kein Unterschied auffällt: in NATO und EU tritt man (zumindest die letzten 30 Jahre oder so) nicht nur freiwillig ein, man kann, wenn man blöd genug ist, auch wieder austreten – fragen Sie die Briten! Aus dem russischen Imperium auszutreten ist meistens etwas schwieriger.

    Der Ukrainekrieg ist nur insofern ein Stellvertreterkrieg, als dass Putin die Ukraine stellvertretend für den Westen angegriffen hat, als Strafe für den Westkurs der Ukraine seit 2014. Auch als Stellvertreterkrieg betrachtet ging die Aggression dabei ganz klar von Russland aus. Eine militärisch-imperialistische Bedrohung seitens der NATO hat es für Russland seit Ende des Kalten Krieges nie gegeben. Hinderlich war die NATO immer nur für Russlands imperiale Ambitionen jenseits seiner Grenzen.

    Und dann das ewige Gejammer, dass die Diplomatie zu kurz käme. Schon vergessen, dass acht Jahre lang mit Putin verhandelt wurde, von 2014 bis 2022? Das Ergebnis ist bekannt, denn dummerweise scheint Putin selbst zu denken, was Sie den deutschen Medien unterstellen: Kompromisse sind faul!
    Wie stellen Sie sich denn Verhandlungen unter den gegebenen Umständen vor? Sollen Biden und Putin unter sich über die Aufteilung der Ukraine verhandeln? Dann könnten Sie endlich mal zurecht über westlichen Imperialismus schimpfen!

  5. @erwinzk

    Unter dem letzten Artikel von Nils Minkmar habe ich Ihnen noch sachlich geantwortet, ohne dass etwas zurückkam. Jetzt muss ich feststellen, Sie spulen einfach unter jedem passenden Artikel ihren Blödsinn ab.

    Nur weil ein Staat in der Verteidigung von anderen Staaten unterstützt wird, ist das kein Stellvertreterkrieg (sonst hätten wir hier einen Stellvertreterkrieg zwischen Polen und dem Iran). Zu den geostrategischen Interessen: Weder die USA noch die EU haben großartig Bock auf diesen Krieg, den USA geht es sogar seit Jahren auf den Keks, dass nicht endlich Stabilität in Osteuropa herrscht und man sich ganz auf China konzentrieren kann. Insbesondere Deutschland hätte die Ukraine ohne Umschweife geopfert, wenn man dafür wieder 5 Jahre Ruhe gehabt hätte (Ruhe im Sinne von Friedhofsruhe, nicht im Sinne von Frieden).

    Zu Ihren gewünschten Kompromissen: Schließen Sie doch mal welche mit jemandem, der Sie nach eigener Aussage vernichten will. Und dann viel Spaß beim Herumschlagen mit Leuten, die sich darüber beklagen, dass Sie den Aggressor für böse halten und sich gar nicht diplomatisch betätigen.

    Schon die Sowjetunion war ein Drecksregime und Putins Russland ist es ebenso. Ein wahrer Putinversteher würde das begreifen.

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