SZ-Krimi-Serie

Content-Recycling ist kein Verbrechen (oder eben doch)

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat eine recht junge Rubrik auf ihrer Website. Und was für eine? Es ist 2022, natürlich handelt es sich um eine Serie von True-Crime-Artikeln. Und was für eine! Bei „Unvergessen – Deutschlands große Kriminalfälle“ wurde über den Sommer wöchentlich eine neue Folge hochgeladen; jetzt, am Staffelende, sind es zehn geworden, und die mittlere Lesezeit beträgt ungefähr 15 Minuten pro Text. Wenn man, wie es heute üblich ist, bei der Lektüre zwischendurch soziale Netzwerke und E-Mails checkt, dürften aus der Viertelstunde die 40 bis 50 Minuten werden, die man von Netflix kennt und schätzt.

Aha, denken Sie jetzt, das ist ja ganz interessant, vielleicht surfen Sie sogar mal vorbei, aber True-Crime ist doch seit Jahren überall, der Höhepunkt des Hypes erreicht oder bereits überschritten. Stimmt, aber es lohnt sich, „Unvergessen – Deutschlands große Kriminalfälle“ einmal genauer anzuschauen, um etwas über das ganze Genre zu erfahren.

Unvergessen: Deutschlands große Kriminalfälle
Screenshot: sz.de

Was als erstes ins Auge fällt bzw. eher kriecht, sind die lahmen Illustrationen, die im reduzierten Magazinstil den Geschmack eines breiten Publikums nicht verfehlen dürften. Weil es um Mord, Töten und Übertöten (so wird demnächst auch der neue Crime-Podcast von Übermedien heißen) geht, sind sie recht düster gehalten und zeigen als besonderen Kniff pro Folge eine grelle Farbe, die eine mystische Funktion einnimmt und, indem sie bei jedem Motiv ein Element hervorhebt, als Verbildlichung von Schuld, Gefahr, Reue und so weiter herhalten muss. Der Strich des Illustrators fügt sich perfekt in das ein, was man heute Digitales Storytelling nennt. Und wenn man will, kann man der SZ dieses Kompliment machen: Die Serie ist perfekt produziert, das sieht auf allen möglichen Endgeräten richtig gut aus, da ist optimiert, was optimiert werden kann.

Wen würde es da wundern, wenn man bei „Unvergessen – Deutschlands große Kriminalfälle“ jetzt aufwendig recherchierte Strecken zu Gladbeck, zur Entführung Jakob von Metzlers, zum Diebstahl der 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bode-Museum oder zu den Erpresserschreiben Dagoberts lesen würde? Neu aufgerollt, frische Erkenntnisse dank neuer Ermittlungsverfahren und so weiter. Niemanden würde das wundern!

Das hat man sich wohl auch bei der SZ gedacht und deshalb für „Unvergessen – Deutschlands große […]“ nur Fälle herausgekramt, die gewiss vieles sind (blutrünstig, abscheulich, angsteinflößend), aber nicht unvergessen. Das heißt: Zwei oder drei Fälle werden einem als Medienfreak vielleicht bekannt vorkommen oder irgendwie in Erinnerung sein. Aber „unvergessen“ im Sinne, dass morgens bei Tchibo alle „Na klar!“ rufen, wenn man „Erinnert ihr euch an den Fall von Körperverletzung mit Todesfolge in Mannheim 2015?“ (Folge 6) fragt – das sind die meisten dieser zehn Kriminalgeschichten bestimmt nicht.

Man darf sich an dieser Stelle sogar zu der Vermutung hinreißen lassen, dass ein paar dieser Fälle auch bei den Damen und Herren von der „Süddeutschen“ nicht unvergessen waren, sondern dass man in München-Zamdorf halt mal im Archiv gewühlt hat, als es an die Konzeption dieser Serie ging. Es mag kleinlich wirken, der Serientitel ist an sich kein Verbrechen – irreführend ist er durchaus. Allerdings: Vielleicht sind die Texte der Serie ja so toll geschrieben und neu recherchiert, dass die Fälle sich durch die Serie nachträglich ins kollektive Gedächtnis der SZ-Plus-Abonnent:innen brennen.

Ramelsberger reloaded

Spoiler: Das ist nicht der Fall. Nichts gegen die Artikel, das sind durchschnittliche Kriminalreportagen, die routiniert mit den bekannten Stilmitteln dieses Genres verfasst wurden: „Sie geht ins Wohnzimmer. Niemand da. Sie geht in die Küche. Da steht Christoph vor ihr. Er hält ihr ein aufgeklapptes Taschenmesser vor den Bauch.“ (Folge 1). Aber es erhärtet sich der Verdacht. Dass die Verantwortlichen bei der SZ. Nur mal schnell ins Archiv geschlichen sind. Denn alle zehn Folgen sind alte Texte. Die hauptsächlich in der 2010er Jahren in der „Süddeutschen“ erschienen sind. Der älteste Text ist von 2002. Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger, die fünf der zehn Artikel verantwortet, musste für diese Serie, die man auch „Ramelsberger reloaded“ hätte nennen können, nicht an die Tatorte zurückkehren, sondern nur ihr OK für die aufwendige Digitalisierung geben.

Neu sind bei „Unvergessen – Deutschlands große Kriminalfälle“ also die furchtbaren, aber eben auch idealen Illustrationen, die über Instagram trotz und dank zeitgemäßer Content Warnungen für ordentlich Traffic gesorgt haben dürften.

SZ-Instagram-Post mit Content-Warnung: "Hinweis: Dieser Post thematisiert den gewaltsamen Tod eines Menschen"

Und schließlich, das sei nicht verschwiegen, wurde jeder Text am Ende mit einem neu recherchierten Kasten namens „Was seitdem geschehen ist“ ausgestattet. Der Witz: Die spärlichen, äußerst nüchternen Infos, die diese wenigen Absätze jeweils hergeben, muss man per Click anwählen und ausklappen, bevor sie auf dem Display erscheinen. Warum? Natürlich wissen die Kriminalexperten von der SZ ganz genau, was ein Alibi ist. Dass diese schlichten Kästen kein besonders gutes für eine faule True-Crime-Serie darstellen, wissen sie auch. Und dass das Publikum „Was seitdem geschehen ist“ eh nicht lesen wird, weil der darüberstehende Artikel aus dem Archiv die Mordlust ja schon befriedigt hat.

Die Natur des Menschen

Von Sabine Rückert und ihrem Ehemann Podcastpartner Andreas Sentker wissen wir: Die schwersten Verbrechen, die grausamsten Mörder und perfidesten Betrügerinnen lehren uns etwas über die Natur des Menschen. Es lohnt, über diese Fälle zu schreiben und danach noch einmal eine knappe Stunde lang über sie zu sprechen. Weil wir dadurch unter anderem lernen, dass wir alle Täter:in werden können, wenn wir nur in eine heikle Situation geraten, die uns scheinbar keine andere Wahl lässt.

Aber zur Natur des Menschen gehört auch, dass manche von uns ohne jede Not, allein von Gewinnstreben motiviert schlechte True-Crime-Serien wie „Unvergessen – Deutschlands große Kriminalfälle“ lieblos zusammendengeln und dabei längst tote Fälle ausschlachten. Gelernt wird dadurch wenig, aber unterhalten werden wir gut. Natürlich ist die „Süddeutsche Zeitung“ bei weitem nicht das einzige Medium, das man für diese Praxis schelten kann. Aber diese Killerserie ist halt ein sehr gutes Beispiel.

3 Kommentare

  1. Ehrlich gesagt halte ich die spärliche „was seitdem geschah“-Kästchen für das größere Problem, als dass man eigene True-Crime-Geschichten nochmal veröffentlicht.

    Wenn man selbst einfach bei Wikipedia nachschlägt, sieht man, dass in den letzten 10 Jahren oder so viele alte Verbrechen, vllt. nicht immer die spektakulärsten, aufgeklärt wurden, weil z.B. DNS-Tests Tote identifizieren, die seit Jahrzehnten unbekannt waren.
    Und dann halte ich es für legitim, dass man sich freut, weil ein Verbrechen aufgeklärt wird, und wenn es nur noch hilft, dass die Angehörigen einen Grabstein für Blumen und Kerzen haben. Und das scheint hier ja zu fehlen.

    Weil wir dadurch unter anderem lernen, dass wir alle Täter:in werden können

    Wer ist „wir“? _Ich_ lerne durch True Crime mehr, dass wir alle Opfer werden können. Aber kommt vllt. auch auf die Aufmachung an.

  2. „Weil es um Mord, Töten und Übertöten (so wird demnächst auch der neue Crime-Podcast von Übermedien heißen) geht“

    Ich musste bei der Lektüre direkt nach dem Aufwachen sehr prusten.

    @Mycroft

    Ich habe das als ironische Aussage verstanden. Mich persönlich nervt es schon länger, wenn mir irgendwelche selbsterklärten Profiler oder Schriftsteller, die mal nen Krimi gesehen haben, erklären, dass auch ich ein potenzieller Mörder bin.

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