Twitter-Übernahme

Es liegt nicht an Elon Musk. Es liegt an uns.

Elon Musk beugt sich über ein Handy mit Twitter-Logo

Was vor wenigen Wochen vielleicht noch als schlechter Witz durchgegangen wäre, ist seit gestern Wirklichkeit. Einer der reichsten Männer der Welt hat per Handstreich eines der bedeutendsten sozialen Netzwerke übernommen. Nicht, um damit Geld zu verdienen, wie er sagt, sondern angeblich um die Redefreiheit im Internet zu verteidigen.

Meinungsfreiheit sei das Fundament einer freien Demokratie, wird Elon Musk zitiert, und Twitter sei der digitale Marktplatz, auf dem die wesentlichen Angelegenheiten für die Zukunft der Menschheit diskutiert würden. Er wolle helfen, Twitter zu verbessern und sein ganzes Potential zu heben, sagt Musk.

Für manche mag das wie eine Drohung klingen.

Wenn Twitter heute ein Marktplatz ist, dann vor allem ein Marktplatz der Eitelkeiten. Ein elitärer Verein, in dem sich Politiker, Stars und gelangweilte Milliardäre tummeln, um für einen flüchtigen Moment ihr Ego auszuleben. Auf Twitter können sie – vorbei an der eigenen PR- und Rechtsabteilung – dummes Zeug posten, um gegenüber Kritikern und Gefolgschaft ihren Geltungsdrang auszuleben, ihr Revier zu markieren, ihren gesellschaftlichen Marktwert zu testen und ihre Meinungsmacht zu spüren.

Mit Demokratie und Meinungsfreiheit hat das alles wenig zu tun. Vielmehr erinnert die Diskussionskultur auf Twitter bisweilen an Gladiatorenkämpfe aus dem alten Rom. Dabei geben Musks bipolare Tweets oft den Ton an. Da wird ein US-Senator beiläufig mit einem Penis-Tweet verspottet. Den kanadischen Präsidenten Trudeau vergleicht Musk gleich mit Hitler (den Tweet hat er später wieder gelöscht). Im März fordert er Wladimir Putin zum Zweikampf um die Ukraine heraus. Goodbye, Zivilisation, willkommen im Fight Club!

Beim Publikum erzeugt diese direkte und ungehemmte Kommunikation oft ein Gefühl von Nähe, wie man das in der PR- und Teleprompter-geschulten Medienwelt von heute kaum noch kennt. Twitter gewährt einen seltenen Blick in die Psyche der Promis, die sich sonst eher gut abgeschirmt von der Öffentlichkeit bewegen. Auf Twitter halten sie dann Hof, im sicheren Abstand zu ihrem Publikum. Das blaue Blut von einst ersetzt durch das blaue Verifikationshäkchen.

Eine Art Fight Club, nur ohne Regeln

Auch ich habe mich in den 15 Jahren, die ich nun schon bei Twitter bin, oft zu dummen, manchmal sogar gehässigen Kommentare verleiten lassen, auf die ich heute nicht stolz bin. Sprüche, von denen ich wusste, dass sie gut in den Zeitgeist passen, die vielfach favorisiert oder retweetet werden, meine 15 Kilobyte of fame. Ruhm, der süchtig macht und den die Netzwerke mit ihren Geschmacklosigkeitsverstärkern geschickt gegen uns einsetzen.

Auch wenn er es heute noch abstreitet, es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis Donald Trump zu Twitter zurückkehrt und dann wie Musk wieder gehörig austeilt. Dass der damalige amerikanische Präsident de-platformt wurde (in meiner Schulzeit hätte man das wohl als „Ent-eiern“ bezeichnet), hatte Musk enorm gestunken. In einem TED-Interview Mitte April warnte er noch davor, zu viel in die Diskussionen einzugreifen oder gar Leute zu verbannen. Im Zweifel stehen lassen, so sein Credo.

Was Musk mit Twitter vorschwebt, ist eine Art Fight Club, nur ohne Regeln. Ich fürchte der Multimilliardär unterliegt hier – wie viele kluge Menschen vor ihm, die stets auf die Redefreiheit pochen – einem gewaltigen Irrtum. Redefreiheit ist nicht gleichzusetzen mit einem Recht auf unkontrollierte Verbreitung von Lügen und Hetze. Grenzenlose Redefreiheit ohne ein Mindestmaß an Regeln kann oft zum genauen Gegenteil führen: Nämlich zur Unterdrückung von Schwächeren und auch zur Selbstzensur.

Ein Zitat, das oft fälschlicherweise Mark Twain zugeschrieben wird, lautet: „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ In der digitalen Echtzeit-Kommunikation verbreiten sich Gerüchte, Hass und Hetze um ein Vielfaches rasanter und unreflektierter als je zuvor, nicht selten mit existenzbedrohenden und manchmal sogar tödlichen Folgen für die Opfer.

Die Schreispirale

Die Mainzer Soziologin und Gründerin des Allensbach-Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, hat den Siegeszug des Social Web selbst nicht mehr miterlebt. Ihre Theorie der Schweigespirale von 1974, wonach die Leisen in der öffentlichen Debatte aus Isolationsangst immer mehr verstummen, müsste heute um die „Schreispirale“ erweitert werden. In der Schlacht um Aufmerksamkeit gewinnt derjenige, der am lautesten brüllt und der die meisten Follower um sich schart.

Man mag meinen, wenn jeder alles sagen darf, gilt dann nicht gleiches Recht für alle? Wenn Elon Musk mit seiner Armee von über 80 Millionen Followern einen Zivilisten auf Twitter öffentlich als Pädophilen bezeichnet, hat das mit Sicherheit größere Konsequenzen für den Betroffenen als umgekehrt. Und wie genau es Elon Musk mit der grenzenlosen Redefreiheit hält, ließ sich erst im Februar beobachten, als es darum ging, sein eigenes Privatleben zu schützen. Musk soll einem Studenten 5000 Dollar geboten haben, damit dieser aufhört, die Flugbewegungen von Musks Privatjet zu twittern.

Wird Musk gelingen, was noch keinem Plattformbetreiber vor ihm gelungen ist, nämlich einen offenen, lebendigen Diskurs im Netz zu organisieren, ohne Zensur und ohne dass sich am Ende alle an die Gurgel gehen? Er mag zur ISS fliegen können und womöglich bald auch zum Mars. Die Lösung für ein gerechtes Internet wird Elon Musk dort nicht finden. Genauso wenig wie im Metaverse, an dem Mark Zuckerberg gerade arbeitet.

Ich fürchte, die Antwort ist tief programmiert in unserer eigenen Psyche, unserer unstillbaren Gier nach dem Neuen, nach dem Aufregenden, nach dem Skandalösen und Unsagbaren. Dieser dunkle Passagier, der in jedem von uns wohnt, hat durch soziale Netzwerke wie Twitter eine mächtige Waffe an die Hand bekommen und wir haben nie gelernt, damit verantwortungsvoll umzugehen.

Vielleicht sollten wir nicht länger warten und auf eine Lösung von Elon Musk oder auf Regulierungen aus Brüssel oder Washington hoffen, sondern lieber da ansetzen, wo es uns am schwersten fällt und wo es am meisten wehtut. Denn egal, ob wir nun aus Protest unsere Twitterprofile löschen und stattdessen dann auf Threema, Signal oder Mastodon ausweichen, am Ende begegnen wir auch dort, wie zum Ende von „Fight Club“, dem gleichen Gegner: uns selbst.

7 Kommentare

  1. Ehrlich gesagt, bei allem Quatsch, der auf Twitter oder sonstwo verbreitet wird, kann ich trotzdem nicht erkennen, wieso es ein „zuviel“ an Meinungsaustausch geben kann.
    Die Reaktion auf Quatsch, die „wir“ erlernen sollten, wäre die, nicht alles zu glauben, was man irgendwo lesen kann.
    Also insbesondere, dass Elon Musk nicht unbedingt glaubwürdiger ist als „Reptilienlord XOX“.

  2. Zu diesem Thema zitierte der Spiegel gestern einen treffenden Tweet von David Rothkopf:

    »The richest guy on the 2021 Forbes 400 owns the Washington Post. Number 2 now owns Twitter. Number 3 owns Facebook. Numbers 5 and 6 started Google. Numbers 4 and 9 started Microsoft. Number 10 owns Bloomberg. Free speech? You decide.«

  3. Haben Sie es vielleicht auch eine Spur kleiner, Herr Gutjahr?
    Die größte Verwerfungen der letzten Jahre sind Resultate der Medienmacht Murdochs oder Berlusconis, nicht wenige BRD Regierungen der Nachkriegszeit waren die Babies A. C. Springers. Selbst von Beust und Barnabas Schill haben wir der BILD Hamburg und deren grob verfälschter Kriminalitätskampagne zu verdanken.

    Mir macht der Angriff auf den ÖRR und die BBC weit größere Sorgen.

  4. Der durchweg negativen Darstellung von Twitter stimme ich nicht zu. Nicht alle nutzen Twitter als Ego Booster wie von Gutjahr behauptet.
    Ansonsten stimme ich aber dem Artikel zu – vor allem, dass uneingeschränkte Redefreiheit, die Hass, Hetze, Verleumdungen etc. freie Entfaltung gewährt, kein Gewinn sondern gesellschaftlich / individuell zerstörerisch ist.

  5. Schließe mich Michael (#4) an: Man das, was man sich anschaut. Wenn ich auf Schreihälse schaue, sehe ich Geschrei. Wenn ich mir eine fachlich orientierte Liste auf Twitter anlege, dann sehe ich vielleicht nur Neuigkeiten aus der JavaScript-Entwickler:innen-Szene oder das Neueste aus der Bubble der digitalen Geisteswissenschaften oder Promo-Blurbs der neuesten Jazz-Alben.
    Trotzdem ist es nicht von der Hand zu weisen, was Gutjahr schreibt und man als mindestens halb aktiverer Twitterer schon mal erlebt hat: Man wird dort schon manchmal zur Lust am launigen Bonmot, am Kalauer oder am Hundestöckchen, das man anderen hinwirft, angestachelt. Oder wie Robert Habeck es vor Jahren bei seinem Rückzug sagte: „Offenbar triggert Twitter in mir etwas an: aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein – und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen. Offenbar bin ich nicht immun dagegen.“ Darauf kann man mit Rückzug reagieren, mit Resignation, mit Achselzucken, oder mit dem Versuch, sich selbst unter Kontrolle zu bekommen, mit Selbsterziehung sozusagen. Ich glaube, dass es ausreichend kultivierte Leute gibt, um auf Twitter auch kultivierte Bubbles am Leben zu erhalten, egal, was die berühmten Schreier:innen auf der Plattform sonst so anstellen.

  6. Twitter Kritik lebt von der Illusion, dass es eine bestimmte Art von Meinungsäußerung ohne das Medium nicht gäbe. Als gäbe es eben genau dasjenige nicht, was mensch vorher einfach nur nicht gehört hat. Sei es, weil das eigene Niveau einen in der bürgerlichen Bubble ( ja auch die gab es lange vor dem Internet ) davor schützte ( just kidding, im Endeffekt sorgte die Bildung nur dafür, dass die gröbsten Fäkalausdrücke den Avantgarde-Künstlern vorbehalten blieben, für den wohlig intellektuellen Schauer am Abend), sei es, dass der Stammtisch Widerspruch per schweigender Bedrohung in der Luft ausschloss. Die anderen, die mit der Mettstulle und der BILD vielleicht sogar, denen hörte ja eh niemand zu. Aber der Ton dort war eines sicher nicht: Zivilisierter, langsamer oder gar netter.

  7. Die jeweilige Twitter-Erfahrung hängt davon ab, wem man folgt und ob man sich in den Kommentar-Schlachten verläuft. Ich erfahre dort vor allem Inspiration.

    Übrigens ist es keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn Musk jemandem 5000 Dollar dafür bietet, seine Flugrouten nicht zu veröffentlichen.

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