Präsidentschaftswahl

Erdbeermilch und Astroturfing: Der digitale Stimmenfang in Frankreich

Der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon sitzt vor einem Café und schlürft mit einem Strohhalm Erdbeermilch aus einem Becher. Er wirkt damit nicht gerade wie ein Politiker, der vorhat, ein Land anzuführen. Dann blickt er ernst in die Kamera und droht seinem rechten Widersacher Éric Zemmour, ihn im anstehenden Fernsehduell „K.O.“ zu diskutieren. Das Video ging bei TikTok im September 2021 viral. Es steht sinnbildlich dafür, wie im Nachbarland Frankreich Wahlkampf gemacht wird. 

Besonders erfolgreich in diesem Social-Media-Wahlkampf ist Éric Zemmour. Kein anderer Anwärter und keine andere Anwärterin auf das Präsidentenamt überflutet die Sozialen Medien dermaßen wie der ehemalige Kolumnist. Das liegt jedoch weniger an seiner Polemik, mit der Zemmour im Wahlkampf auftritt, sondern vielmehr an seiner Digitalstrategie. Ihm folgen weniger Menschen als seinen Konkurrent:innen. Dennoch schafft er es wöchentlich in die Twitter-Trends. Wie funktioniert das?

Éric Zemmours Tweets werden von seinen Anhänger:innen koordiniert in die Höhe gepusht. Das ist kein allzu großes Geheimnis, sein Berater Samuel Lafont spricht offen darüber: „Wir haben Menschen aus der Zivilgesellschaft rekrutiert, also Feuerwehrleute, Polizisten und so weiter. Ich habe sie dann gefragt: ‚Hey du, willst du nicht einen neuen Kanal gründen?‘“

Auf Twitter gibt es Hunderte von Konten, die bestimmte Zielgruppen ansprechen. Sie sind zum Beispiel nach Berufen aufgeteilt: „Les Profs avec Zemmour“ (Lehrer:innen) oder „Les Pompiers avec Zemmour“ (Feuerwehrleute). Oder nach Glaubensausrichtung. Einen Account für die weibliche Gefolgschaft gibt es auch: „Les Femmes avec Zemmour“. Zemmours Partei „Reconquête“, auf Deutsch „Rückeroberung“, vernetzt sich außerdem international und regional.

Steuert die Kampagne des rechten Kandidaten Zemmour: Samuel Lafont. Foto: Leonardo Kahn

Die Strategie ist simpel: Immer, wenn der Kandidat ein Wahlvideo veröffentlicht oder ein Wahltreffen organisiert, rufen seine Anhänger:innen dazu auf, einen bestimmten Hashtag in den Twitter-Trends zu etablieren.

Die Tweets der erwähnten Zemmour-Fan-Konten sind teilweise identisch, inklusive Rechtschreibung und Kommasetzung. Die Konten „Reconquête Allemagne“ für in Deutschland lebende Franzosen und „Reconquête Les Français de l’étranger“ (Franzosen im Ausland) haben bis vor einem Monat sogar zum exakt selben Zeitpunkt dieselben Tweets abgesetzt. Unwahrscheinlich, dass das ohne interne Kommunikationsgruppen auf Telegram oder mit einem Computerprogramm funktioniert, das mehrere Konten gleichzeitig verwaltet. Samuel Lafont streitet jedoch beides ab.

In zwei Stunden in die Twitter Trends

Das künstliche Pushen von Tweets, also den Schein zu erwecken, als würde eine große Bewegung dahinter stehen, nennt man Astroturfing. Strafbar ist das zwar nicht, es verstößt aber gegen die Twitter-Richtlinien. Die Plattform reagiert meist zu langsam, um die Nutzer:innen auf frischer Tat zu ertappen, wie der Medienforscher und Mathematiker David Chavalarias in seinem Buch „Toxic Data“ schreibt. Oft dauert es nur knapp zwei Stunden bis Éric Zemmour und seine Anhänger:innen den Hashtag in die Twitter-Trends geschleust haben.

Astroturfing ist nicht die einzige fragwürdige Methode, die Éric Zemmours Kommunikationsabteilung anwendet. Über Monate hinweg haben Samuel Lafont und weitere Aktivist:innen den Wikipedia-Artikel des rechtsextremen Essayisten bearbeitet. So wurde zum Beispiel das Adjektiv „rechtsextrem“ aus der Einleitung der Biographie gestrichen. Digitalberater Lafont nennt das beschönigend „ausgleichen“. 

Die Online-Enzyklopädie hat Ende Februar den französischen Artikel über den Kandidaten für weitere Änderungen gesperrt. Außerdem werden Leser:innen auf der Seite vor „autobiografischen“ Elementen im Text gewarnt, also Stellen, die mutmaßlich Zemmour und sein Team dort eingefügt haben.

Samuel Lafont erklärt, dass die Plattform damit einen „schlimmen Fehler“ begangen habe. „Wikipedia sollte eine politisch neutrale Plattform sein. Doch sie haben sich selbst enttarnt, denn nun ist allen klar, dass die Seite von Linken geführt wird.“ Wikipedia ist ein wichtiger Bestandteil von Éric Zemmours Strategie. Mit über fünf Millionen Aufrufen war 2021 sein Wikipedia-Eintrag der meistgelesene Artikel Frankreichs – vor Königin Elisabeth und Cristiano Ronaldo. Dabei hat er seine Kandidatur erst im November offiziell angekündigt.

Samuel Lafont versucht seinen Kandidaten auch in Internetforen präsenter zu machen. Am 3. April haben sich Éric Zemmours Anhänger:innen auf „Reddit Place“ versammelt, einem Internetprojekt, bei dem Nutzer:innen gemeinsam ein digitales Bild malen. Heraus kam: eine naive Zeichnung, die in der Reddit-Community Aufsehen erregt hat.


Der rechtspopulistische Kandidat ist auf Strategien wie diese angewiesen, um die Jugend zu mobilisieren. In der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre ist er mit sieben Prozent eher unbeliebt. Samuel Lafont versucht ihn daher auf Plattformen wie Instagram (dort hat er 223.000 Follower) und TikTok (247.000) zu bringen. Für die weiblichen Nutzerinnen gibt es einen Pinterest-Account.

Ob das klappt? Antoine Léaument, Digital-Berater des linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon bezweifelt es. „Sie können Éric Zemmour ruhig einen Pinterest-Account erstellen. Fakt ist, dass sein Wahlprogramm für Frauenrechte so regressiv ist, dass er dort wohl kaum viele Wählerinnen mobilisieren wird.“ Der linke Online-Berater gibt jedoch zu, dass man auf den sozialen Netzwerken nur bedingt Frauen erreicht. Das trifft vor allem auf die Plattformen zu, auf denen Jean-Luc Mélenchon äußerst beliebt ist. Unter den zwölf Präsidentschaftskandidat:innen hat er die meisten Follower auf YouTube (734.000) und Twitch (91.071).

Medienberater Antoine Léaumont. Foto: Léonardo Kahn

Politiker als YouTuber?

Seine Online-Beliebtheit ließe sich dadurch begründen, dass man Jean-Luc Mélenchon hier endlich aussprechen lasse, meint Antoine Léaument. „Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Frankreich versuchen Journalisten immer, den Politikern Fallen zu stellen. Sie konfrontieren sie so lange mit einem Thema, bis ihnen irgendein Satz ausrutscht, den sie dann als Schlagzeilen benutzen können“, sagt Berater Léaument. „Auf Twitch und auf Twitter Space können die Nutzer:innen selbst entscheiden, über was sie mit Jean-Luc sprechen wollen.“

Mélenchon setzt damit aber auch seine Ernsthaftigkeit aufs Spiel. „Wenn du zu sehr einen machst auf ‚Hey, alle zusammen, hier ist Jean-Luc, wie geht es euch?‘, ist das vielleicht gut für deinen YouTube-Kanal, aber du verlierst in der Politik jede Glaubwürdigkeit. Es kann schwierig werden, eine Wahl zu gewinnen, wenn jeder denkt: ‚Wer ist dieser Clown?‘“, sagt Antoine Léaument. 

Ob Erdbeermilch trinken und Memes über seine Wahl-Konkurrenten erstellen nicht ansatzweise die Glaubwürdigkeit des Kandidaten ankratze? „Nö“, sagt der Digital-Beauftragte. „Das mit der Erdbeermilch ist einfach nur niedlich, und Éric Zemmour ist ein Faschist – über den darf man Memes machen.“

Macron-Welt bei Minecraft

Doch einer übertrifft sowohl Mélenchon als auch Zemmour: Präsident Emmanuel Macron.

Der Staatschef, der sich politisch nach „rechts und links“ orientiert, mobilisiert im Internet ebenfalls Massen an Usern. Der Soziologe Marc Lazar erkennt in Emmanuel Macrons Politik eine „neue Form des Populismus“. Dies erkläre auch seine Abneigung gegenüber Journalist:innen und seine Vorliebe zu direkten Kommunikationswegen wie sozialen Medien. Ende März hat Macrons Kommunikationsabteilung auf dem Computerspiel Minecraft eine „Macron-Welt“erschaffen. Um politische Inhalte geht es dabei, wie bei den meisten Social-Media-Aktivitäten der Kandidat:innen, nicht.


Der Mathematiker David Chavalarias beobachtet mit seiner Forschungsgruppe „Politoscope“, die zur nationalen französischen Forschungsorganisation CNRS gehört, seit 2016 politische Aktivist:innen auf Twitter. In seinen Kartografien entstehen oft drei Cluster: Anhänger:innen von Emmanuel Macrons Partei „La République en Marche“ (LREM), die linksextreme Szene und die rechtsextreme Szene. „Was bei der LREM-Gruppe auffällt: Macron spricht sich in seinen Tweets stets gegen Gewalt aus, seine Follower verhalten sich allerdings häufig aggressiv und teilen viele Falschinformationen. Bei keinem anderen Politiker ist die Kluft so groß“, erklärt Chavalarias.

Weniger Trolle, mehr Sympathie für Le Pen

Die Untersuchungen des Mathematikers zeigen auch, dass sich die rechtsextreme Internetblase aufspaltete, nachdem Marine Le Pen gegen Emmanuel Macron in der Stichwahl verloren hatte. Während 2017 noch viele rechte Trolle die Kandidatin des damaligen Front National (heute: Rassemblement National) zu ihrer „goldenen Queen“ ernannten, wechselte ein Großteil von ihnen in den vergangenen fünf Jahren zu Éric Zemmour. Marine Le Pen hat zwar eine hohe Social-Media-Reichweite (TikTok: 395.200), tritt im Vergleich zu Zemmour aber weniger aggressiv auf. Das lässt sie wiederum gemäßigter erscheinen.

Die Rechtspopulistin Le Pen profitiert im allgemeinen Ansehen also von der schwindenden Anerkennung durch die radikale Szene. Ihre konservative Rivalin Valérie Pécresse von „Les Républicains“ wird dagegen wie keine andere Kandidatin im Netz von Éric Zemmour und seinen Anhänger:innen angegriffen. Deshalb hat sie im rechten Spektrum, dort wo ihre Wähler:innen sind, weniger Social-Media-Erfolg.

Autor des Buches „Toxic Data“: David Chavalarias. Foto: Léonardo Kahn

Der Einfluss sozialer Medien auf die Demokratie beunruhigt David Chavalarias. Der Sturm auf das US-Kapitol war für den Mathematiker Auslöser, sein Buch „Toxic Data“ zu schreiben. Die Wut der Trump-Anhänger über die angeblich gefälschte Wahl hatte sich damals in Sozialen Medien gesammelt – und in der Realität entladen. „So lange sich soziale Plattformen nur nach Profitmaximierung richten, werden sie niemals genügend in die Einhaltung ihrer Nutzungsbedingungen investieren“, erklärt er.

Politiker:innen können mithilfe von Social Media ihre Präsenz in der öffentlichen Debatte künstlich hochhalten. Zemmour hat es geschafft, so den kompletten Wahlkampf zu vergiften und den Eindruck zu erwecken, dass ihm viel mehr Menschen folgen, als das tatsächlich der Fall ist.

Medienforscher Chavalarias fordert, man müsse entweder die sozialen Medien reformieren oder das politische System. Letzteres scheint ihm realistischer. Er plädiert deshalb für die Abschaffung der Stichwahl im französischen Wahlsystem.

Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon nämlich haben beide reelle Chancen, es in die Stichwahl zu schaffen – obwohl die Mehrheit der Franzosen sie komplett ablehnt. Bei dieser Stichwahl müssten sich die Wähler:innen zwischen den verbliebenen Kandidat:innen entscheiden – und da genügt es dann, wenn man vorher ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung mobilisiert. Mit der richtigen Social-Media-Taktik ist das machbar. Demokratisch ist es allerdings nicht.

1 Kommentare

  1. Wikipedia umschreiben ist richtig schlimm, weil damit der Wert der Sache geschädigt wird.
    Konzertierte Aktionen, um jemanden in die Twitter-Trends zu bringen, sind nicht so schlimm.
    Wenn Völkermord oder Elefantenpopel da landen, wird das ja auch nicht notwendigerweise mit „beliebt“ gleichgesetzt.

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