Visualisierungen des Ukraine-Krieges

Die Macht der Karten

Die Landkarten, die aktuell Russlands Einmarsch in der Ukraine abbilden, haben reale Konsequenzen. Neutrale Karten gibt es nicht, hinter jeder steckt immer eine Absicht. Sie sind Projektionen von Macht: die Macht, etwas zu zeigen oder wegzulassen. Die Macht, zugrunde liegende Daten nicht genau zu überprüfen.

Dabei vertrauen wir Karten instinktiv, wie nur wenigen anderen Darstellungen unserer Welt. Manchmal genügt es, sie umzudrehen, um diesen Instinkt in Frage zu stellen. Denn eine Karte zeigt immer nur eine Perspektive – und eine Auswahl von Informationen. Was wie abgebildet ist und was nicht, beruht auf subjektiven Entscheidungen. Ist eine Linie „eine Front“? Ist ein Gebiet „besetzt“? „Kontrolliert“? Oder nur ein „Aufmarschgebiet“? Obendrein zeigen diese Bilder immer nur eine Momentaufnahme – die tatsächliche Situation ist permanent in Bewegung.

Kontrolle, Besatzung, Vormarsch

Karten sind mächtig, damals wie heute. Wer sie erstellt, hat Verantwortung, gerade in einer komplizierten und komplexen Situation wie dem aktuellen Krieg in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund haben Redaktionen derzeit eine äußerst schwierige Aufgabe: Sie müssen all das in Medien darstellen, die dafür nie perfekt geeignet sind.

Das Kartenmaterial, das deutschsprachige Medien bisher anfertigten, um den Krieg in der Ukraine zu erklären, ist von gemischter Qualität. Anfangs behandelten viele Redaktionen den Krieg im Wesentlichen wie einen typischen Konflikt des 20. Jahrhunderts: Auf vielen Karten war militärischer Vormarsch gleichbedeutend mit Besetzung, vor allem aber mit „Kontrollzonen“, also Gebieten, zu denen das ukrainische Militär keinen Zugang hat. Doch im Vergleich zu damaligen Kriegen ist dieser Angriff multilateraler und mobiler, es gibt keine klare Frontlinie, mehrere Akteure können ein Gebiet kontrolllieren, wie etwa in Cherson. Der Glaube, dass Kriege heute denen des 20. Jahrhunderts entsprechen, führt daher zu ziemlich miserablen Karten. Ein Blick in die Kulturgeschichte der Karten und in die Logik moderner Kriegsführung hätte diesen Ansatz schnell als unangemessen erscheinen lassen.

Einige haben zumindest ihre Beschriftungen und Kartenlegenden präzisiert, um zu zeigen, wie unsicher die Lage ist; nun ist etwa nicht mehr von „von Russland eingenommenen Gebiete“ die Rede, sondern richtigerweise von „russischen Vormarschgebieten“. Einige verwenden immer noch den Begriff „besetzt“ für Gebiete, bei denen nicht klar ist, wie stark die russische Präsenz und Kontrolle vor Ort ist.

Dabei zeigt die Berichterstattung aus der Ukraine, dass die Realität vor Ort eher verschiedenen Graden von Herrschaftsausübung entspricht: Einige Gebiete befinden sich vollständig in der Hand des russischen Militärs, andere sind kaum mehr als Aufmarschgebiete – was zugleich nicht bedeutet, dass die Ukraine diese Gebiete kontrolliert. Die Situation ist nicht schwarz-weiß. Begriffe wie „Kontrolle“, „Besatzung“ oder sogar „Vormarsch“ stoßen daher an die Grenzen ihrer kartografischen Bedeutung.

Eine Stichprobe zeigt, wie unterschiedlich Redaktionen Informationen visualisieren – am Beispiel von Karten aus „Frankfurter Allgemeiner“, „Neuen Zürcher Zeitung“ und „Tagesspiegel“ vom 9. März.

FAZ: Alles dasselbe?

Screenshot: FAZ

Die FAZ stellt die Lage am wenigsten differenziert dar. Alle Gebiete, in denen Russland präsent ist (einschließlich der Krim und der Separatistengebiete), sind einheitlich abgebildet. Es wird nicht einmal unterschieden zwischen Gebieten, die vor des Krieges von Russland besetzt waren und während des Krieges besetzt wurden. Alle roten Gebiete sind bezeichnet als „von Russland und prorussischen Separatisten besetzte Gebiete“.

Das ist, offen gesagt, mehr als sich die Russen erhoffen: Sie selbst unterscheiden zumindest formal immer noch zwischen dem Status der Krim, Lukhansk und Donezk sowie neuen Angriffsgebieten. LeserInnen erhalten so ein sehr statisches Bild der Lage; lediglich Pfeile für russische Offensiven dynamisieren die Lage etwas. Die große Unsicherheit vor Ort, die die Situation immens beeinflusst, wird hier nicht deutlich.

NZZ: Vorsichtige Beurteilung

Screenshot: NZZ

Im Gegensatz dazu differenziert die NZZ gut zwischen der Krim (die tatsächlich von Russland besetzt ist), den Separatistengebieten im Osten und den Gebieten, in denen es neue russische Vorstöße gibt. Es fällt auf, dass die Redaktion die Bewegungen des russischen Militärs zurecht sehr vorsichtig beurteilt: Ihre Kartenbilder zeigen von Anfang an viel weniger rot eingefärbte Bereiche als die anderer Medien. Zudem bietet die NZZ eine großartige interaktive Option: LeserInnen bekommen direkt auf der Karte Ereignisse angezeigt, zu denen ein Popup-Fenster aktuelle Meldungen liefert. So können sie sich selbst ein Bild von der Situation machen.

Andererseits zeigt die Karte auch, wie nachlässig die Redaktion mit semantischen Unterschieden umgeht. Etwa weist sie die Gebiete des russischen Vormarsches als „neu besetzte Gebiete“ aus – inklusive der Bereiche entlang jener Fernstraßen, auf denen die russische Armee aktuell voranschreitet. Als ob all diese Gebiete bereits knapp zwei Wochen nach Kriegsbeginn „unter Kontrolle“ wären. Auch fehlen Pfeile oder andere Richtungssymbole, so dass offen bleibt, was sich in den folgenden Tagen ändern könnte.

„Tagesspiegel“: Versuchte Differenzierung

Screenshot: „Tagesspiegel“

Das drittes Beispiel ist vom „Tagesspiegel“. Diese Karte zeigt einen ernsthaften Versuch, zu differenzieren, etwa über Farbunterschiede und zusätzlichen Kontext. So ist etwa die Krim schraffiert und damit deutlich hervorgehoben. Die russische Offensive ist unterteilt in „russische Vormarschgebiete“ und „gemeldete russische Angriffe“. Zudem vermittelt die Karte die Dynamik des Geschehens, indem jeder einzelne Kriegstag seit dem 24.2. anzeigbar ist.

Alternativen

Alle drei Karten beruhen auf ähnlichen Quellen – doch die kartografischen Entscheidungen der drei Redaktionen vermitteln politisch wie militärisch ein sehr unterschiedliches Bild: Laut NZZ und FAZ hat Russland die Gebiete seiner Offensive in der Ukraine bereits besetzt – dem „Tagesspiegel“ zufolge kämpft Russland noch aktiv um eben jene Gebiete. Dieser Unterschied hat enorme Folgen; politisch wie für die öffentliche Meinungsbildung.

Zu den Anfängerfehlern kartengestützter Berichterstattung über die Ukraine gehören auch: Sprache nicht gleich Ethnizität. Und: Unterstützung für Russland ist nicht direkt gekoppelt an religiöse oder sprachliche Zugehörigkeit.

Parallel dazu gab es von Anfang an auch gelungene Alternativen:

  • Karten, deren wichtigste Kategorie nicht Gebiete sind, sondern die stattdessen militärische Stützpunkte verwenden, um Bewegungen darzustellen.
  • Karten, die Gebietskontrolle mit militärischen Vorstößen mischen.
  • Und Karten, die den Russen nur sehr spärlich Kontrollzonen zuweisen.

Die Karten der anderen

Wie mächtig Karten sind, zeigen auch die der anderen Seite. Das Kartenmaterial der russischen Staatsmedien sieht – wenig überraschend – ganz anders aus. Während der russischen Propagandakampagne, die zur Invasion führte, sollten die Karten belegen, dass die heutige Ukraine keinen Anspruch auf den größten Teil ihres Territoriums hat. Seit Beginn des Krieges werden die russischen Vorstöße stark übertrieben dargestellt und zu eindeutigen Kontrollzonen mit klarer russischer Herrschaftsgewalt gemacht. Sie untermauern Putins Propagandabemühungen und sind alles andere als ein Nebenprodukt: Sie sind ein Mittel, um der Öffentlichkeit im In- und Ausland schnell und eindringlich die Ziele und die ideologische Haltung Russlands zu vermitteln.

Das ist kein Zufall. Viele Experten sind sich einig, dass Putins Plan zumindest teilweise davon abhängt, möglichst rasch weitere Teile des Territoriums und große Städte zu besetzen; darunter Charkiw, bis 1934 die Hauptstadt der Sowjetukraine und daher in der russischen Lesart als Zentrum einer Marionettenregierung geeignet. Sollte Putins Ziel sein, die Ukraine zu teilen, wäre für ihn zentral, einen möglichst großen Teil der Ostukraine zu kontrollieren. Nur: Welche Gebiete tatsächlich in russischer Hand sind, ist schwierig festzustellen. Mit anderen Worten: Wer die Kartografie kontrolliert, kontrolliert nicht nur den Krieg – sondern auch den Frieden.

Kartenkriege

Die Strategie, Einflusssphären über Karten festzulegen, hat Tradition. Viele antike und mittelalterliche Karten waren Projektionen von Macht, die Weltanschauungen und Ambitionen vermittelten. So etwa der Vertrag von Tordesillas aus dem Jahr 1494, der die Welt zwischen Spanien und Portugal aufteilt: Die Grenzziehung ist in spanischen und portugiesischen Karten unterschiedlich interpretiert. Die Kolonialherrscher im 19. und 20. Jahrhundert zeichneten sich Landkarten (oft ohne Rücksicht auf die Situation vor Ort), die das Schicksal vieler afrikanischer und asiatischer Staaten bis heute beeinflussen.

Als Indien 1947 unabhängig wurde, brach ein wahrer Kartenkrieg aus: Als das ehemalige „Britisch-Indien“ aufgeteilt wurde, folgten die Linien demografischen, sprachlichen und religiösen Annahmen. Daraus entstand unvorstellbares menschliches Leid, wie der bis heute anhaltende Konflikt zwischen Indien und Pakistan zeigt. Auch die Sowjetunion hat schon früher die Kartografie erfolgreich als Mittel der politischen Kommunikation eingesetzt. Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan (1979–1989) stimmten die Karten der sowjetischen Kontrollzonen nur selten mit dem tatsächlich von der Roten Armee kontrollierten Gebiet überein.

Die Geschichten, die Karten erzählen und verschweigen, sind komplex. Und all diese Karten prägen unsere Sehgewohnheit bis heute. Dazu gehört auch, dass Abbildungen die tatsächliche Lage vereinfacht zeigen – und darauf verzichten, Unsicherheiten darzustellen. Das gilt auch für die aktuellen Beispiele über den Krieg in der Ukraine. Dabei gäbe es genug Optionen, Unschärfen und Unwägbarkeiten sichtbar zu machen.

Interpretationsspielräume

Jede Karte muss mit dem sogenannten „epistemischen Risiko“ umgehen: der Möglichkeit, falsch zu liegen. JournalistInnen müssen schwierige Entscheidungen treffen, um die verfügbaren Daten auf einer Karte in erkennbare Konturen zu bringen. Sie müssen abwägen, wieviel Interpretationsspielraum in Karten stecken darf.

Dabei ist wichtig, Landkarten als Standbilder eines bewegten Bildes zu verstehen: Zu jeder Karte gibt es ein Vorher und ein Nachher. Wo die Karte endet, was sie in den Mittelpunkt stellt und was sie auslässt, sind entscheidende Faktoren. Interessanterweise zeigen Studien, dass Menschen Visualisierungen nicht ablehnen, egal wieviel Unsicherheit oder Klarheit darin steckt. Redaktionen dürften daher mutiger sein, auch Unsicherheiten auf Karten zuzulassen.

Ebenso wichtig wäre, die Rolle von Karten in der Berichterstattung neu zu denken. Meist dienen sie als Beiwerk, das Ereignisse erklärt – stattdessen sollten sie das Zentrum der Erklärung sein: reich an Daten und Kontext. Und weil Karten automatisch immer auch Narrative sind, sollten Redaktionen eben jene Erzählungen, samt Rahmen und Kontext auch transparent machen.

Der Krieg ist im Gange. Solange ist es völlig in Ordnung, Gebiete als „unsicher“ zu bezeichnen, Worte wie „Besetzung“ oder „Kontrolle“ zu vermeiden, die in diesem Stadium ohne sichere Belege nicht zutreffen. Solange ist es sinnvoll, sich stattdessen für offenere Begriffe zu entscheiden. Die Kartensemantik bietet einen robusten Rahmen, um viele Schattierungen zu unterscheiden. So lässt sich auch leichter erkennen und anerkennen, dass Karten in der Tat alles andere als neutral sind. Denn wer sie zeichnet, hat die Macht.

2 Kommentare

  1. Allein die Farbgebung der Karte ist ja schon eine Entscheidung, die die Interpretation der Karte beeinflusst – die Gebiete, in der die russische Armee ist, sind in allen Karten rot eingefärbt. Kann, je nach Betrachtungsweise, für Gefahr oder eine negative Veränderung stehen, war aber in deutschen Atlanten auch die Farbe der Sowjetunion, in britischen Atlanten steht das Rot dagegen traditionell für das good old Empire.

  2. Diese latente Unsicherheitsgefühl bei Betrachtung der Spiegel-Karte, was davon nun genau zu halten ist, was die Pfeile nun bedeuten solllen, wunderbar ausdifferenziert und mit Hintergrund belegt. Starker Beitrag. Vielen Dank.

    Zur Sache selbst: Interessanterweise werden ja nie Positionen der Ukrainischen Armee auf den Karten verzeichnet. (Taktische Gründe?) Das allein schafft ja auch schon wieder ein sehr spezielle Perspektive und eine Asymmetrie in der Wahrnehmung.

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