Fehler, Erfolge, Lehren

Wer hat hier versagt? Wie Medienleute auf zwei Jahre Corona-Journalismus zurückblicken

„Öffentliches Leben soll pausieren“, „Kontaktverbot in Deutschland“, „‚Größte Herausforderung seit 1945“, „Merkel ruft zu ‚Verzicht und Opfern‘ auf“. Das waren die Überschriften, mit denen „Süddeutsche Zeitung“ und „Frankfurter Allgemeine“ Mitte März 2020 aufmachten. Sechs Wochen, nachdem das Coronavirus offiziell Deutschland erreicht hatte, begannen damals die ersten einschneidenden Maßnahmen gegen die Ausbreitung.

Seitdem wird heftig gestritten – über die geeigneten Mittel und das richtige Maß im Kampf gegen die Pandemie. Und auch über die Rolle der Medien.

Die dänische Boulevardzeitung „Ekstra Bladet“ hat vor einigen Wochen weltweit Aufsehen erregt, weil sie sich bei ihren Leser:innen für ihre Corona-Berichterstattung entschuldigt hat: „Wir haben versagt“, schrieb sie, weil sie die Angaben der Regierung nicht genug hinterfragt habe.

Gäbe es auch in Deutschland Grund für Medien, sich beim Publikum zu entschuldigen? Wurden Journalistinnen und Journalisten ihrer Verantwortung gerecht, wie hat sich ihre Rolle, ihre Arbeit verändert?

Rund zwei Jahre nach dem ersten Lockdown haben wir Medienleute danach gefragt. Einige, darunter „Bild“-Chefredakteur Johannes Boie, „Welt“-Corona-Zähler Olaf Gersemann und ZDF-Talker Markus Lanz, wollten nicht persönlich an dieser Umfrage teilnehmen. Hier sind Auszüge aus den Antworten, die wir bekommen haben:


Gäbe es in Ihren Augen auch in Deutschland Grund für Medien, sich beim Publikum zu entschuldigen?

Peter Kloeppel, Chefmoderator von "RTL Aktuell".
Peter Kloeppel, Chefmoderator von „RTL Aktuell“. Foto: Stefan Gregorowius, RTL

Peter Kloeppel, RTL-Anchorman: „Soweit ich das beurteilen kann, haben die klassischen deutschen Medien nicht versagt, sondern gute Arbeit geleistet – eine Entschuldigung wäre bzw. war nur in Ausnahmen nötig, und ist in Teilen bereits erfolgt.“

Korinna Hennig, NDR-Redakteurin und Moderatorin des Podcasts „Coronavirus Update“: „Ich glaube nicht, dass ‚versagt‘ da wirklich die richtige Vokabel wäre, denn es gab ja auch viel Gutes. Aber ja, manchmal wurde Meinungsvielfalt mit Lust am Krawall verwechselt. Und wir sind dem Publikum ein paar wichtige Themen schuldig geblieben. Die frühzeitige Impfaufklärung im Detail haben auch wir vernachlässigt, nun ist es schwierig, viele Fake News wieder einzufangen.

Ebenso die Situation der Kinder und Jugendlichen jenseits des Zankapfels „Schulen auf oder zu“ und die Pflegedefizite: Das sind Themen, die wir mehr in den Blick nehmen sollten; auch jetzt können wir das noch tun. Ich glaube, wir müssen alle aufpassen, nicht zu sehr Echoraum zu sein – bei der Themenauswahl haben wir zu oft einen Herdentrieb an den Tag gelegt. Und immer wieder bieten wir Journalist:innen politischen Forderungen auf wackliger sachlicher Grundlage ein Verlautbarungsforum, während Modellierer und Intensivmediziner eine Warnung nach der anderen in den Wind rufen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir dem Publikum mehr zutrauen, innovativer sind, vor der Welle schwimmen, antizipierend, vorausschauender berichten.“

Jan Fleischhauer, „Focus“-Kolumnist: „Ach, ‚versagt‘, das ist ein großes Wort. Mir würde es schon reichen, wenn Stefan Niggemeier endlich einräumen würde, dass er schrecklich daneben gegriffen hat, als er mich und meinen Freund Jakob Augstein anlässlich unseres Podcasts ‚The Curve‘ bezichtigte, wir hätten Nichtwissen zur Kernkompetenz erhoben. Das hat geschmerzt! Insofern betrachte ich es als heimliches Schuldeingeständnis von ‚Übermedien‘, dass ich hier auftauche.“

Anna Behrend, Wissenschafts- und Datenjournalistin beim NDR: „Ich finde, die Corona-Berichterstattung in Deutschland ist viel zu heterogen, um darauf eine pauschale Antwort zu geben. Bei manchen Medien gäbe es aber sicher Grund zur Entschuldigung – immer dann etwa, wenn Verunsicherung genutzt wird, um Reichweite oder Abo-Abschlüsse zu generieren.“

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der „Zeit“: „Im italienischen Fernsehen gab es lange Zeit obszönste Auftritte, etwa von No-Vax-Vertretern, die neben seriösen Fachleuten die abenteuerlichsten Thesen vertreten haben – eingeladen wurden sie, weil das Krawall und Quote garantierte. Das ist verantwortungslos – und in der Tat ein eklatantes Beispiel für False Balance. Aber sowas hatten wir in keiner öffentlich-rechtlichen Diskussion in Deutschland. Es sei denn, man hält schon Fernsehauftritte von Hendrik Streeck oder Alexander Kekulé, der in den meisten Punkten richtig lag, für False Balance – was in meinen Augen wiederum total schräg ist.

Allerdings haben wir alle uns in den vergangenen zwei Jahren auch geirrt: Journalisten, Politiker, Wissenschaftler. In dem einen oder anderen Fall finde ich, dass Medien um Verzeihung bitten könnten für Fehler, die sie in der Berichterstattung über die Corona-Pandemie gemacht haben. Aber ich fände es anmaßend, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich schaue lieber auf unsere Zeitung: Dass wir etwa das Medikament Remdesivir als große Hoffnung auf den Titel gepackt haben, hat sich als Fehler herausgestellt. Das würde ich heute nicht mehr machen, auch wenn das damals in redlichster Absicht recherchiert und beschrieben war. Es gab Studien, die Hoffnung machten, aber diese Hoffnung war verfrüht. Wir hätten das zurückhaltender präsentieren müssen. Das gilt für vieles in unserer Branche: Die Tonlage ist immer wieder ein Problem. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht weitere Angst schüren, die ist ja ohnehin da. Und es gibt einen Überdruss an dieser Art der Berichterstattung.“


Wie hat die Pandemie die Rolle der Journalistinnen und Journalisten verändert? Welche Verantwortung haben sie?

David Biesinger
rbb-Chefredakteur David Biesinger Foto: Gundula Krause, rbb

David Biesinger, Chefredakteur rbb: „Wenn die Erwartungen und der Bedarf an Information größer werden, weil sich die Lage über einen Zeitraum von zwei Jahren ständig ändert, dann steigt natürlich auch die journalistische Verantwortung. Im ersten Pandemiejahr haben die Redaktionen allein im rbb zusätzlich zum aktuellen Tagesgeschäft über 100 Sondersendungen gestemmt, und zwar ohne zusätzliches Geld. Die Politik hat Maßnahmen in Dimensionen getroffen, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht erlebt haben. Das alles seriös und kritisch einzuordnen war eine erhebliche Herausforderung. Die Kolleginnen und Kollegen haben das sehr gut gemeistert. Und man darf nicht vergessen, dass sie nicht nur Berichterstatter, sondern eben auch selbst Betroffene waren.“

Korinna Hennig: „Die Verantwortung der Journalist:innen ist deutlich größer geworden. Das liegt zum einen an der schnellen und massiven Verbreitung von Fake News via Social Media in der Pandemie, auch deutlich unterhalb der üblichen Schwelle zur Verschwörungserzählung (beispielsweise die vermeintliche Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit durch die Impfung), der wir aufklärerisch oder korrigierend entgegen wirken müssen.“

Peter Kloeppel: „Die wenigsten Journalist:innen sind Virologen, Epidemiologen, Hygieniker oder Mediziner, vielmehr mussten sie sich in kürzester Zeit Fachwissen aneignen, um ihrer Aufgabe der Informationsvermittlung halbwegs gerecht zu werden. Und das in einer sich ständig verschärfenden epidemischen Lage, bei der auch Wissenschaftler selten von medizinischen Gewissheiten ausgehen konnten, sondern permanent mit neuen Forschungsergebnissen konfrontiert wurden. Ein Teil der journalistischen Verantwortung lag und liegt deshalb auch darin, sich selber und den Zuschauer:innen gegenüber ehrlich zu sein und zu sagen: Wir wissen auch nicht alles, und schon gar nicht wissen wir alles besser. Dieses wichtige Eingeständnis fällt nicht immer leicht.“

Christian Endt, Datenjournalist bei „Zeit Online“: „Die meisten Journalist:innen haben sich vor Februar 2020 kaum mit Viren und Pandemien beschäftigt. Plötzlich mussten wir sehr komplizierte Zusammenhänge in hohem Tempo recherchieren und vermitteln. Eine besondere Rolle spielt dabei der datengetriebene Journalismus. Mit den Corona-Dashboards haben wir ein völlig neues Format, das extrem stark nachgefragt wird und laufend gepflegt werden muss. Die Verantwortung besteht darin, erstens diesen Informationsauftrag gut zu erfüllen, zweitens das Regierungshandeln kritisch zu begleiten, auch wenn man den grundsätzlichen Kurs vielleicht richtig findet – und drittens all die anderen Themen, die es neben Corona ja weiterhin gibt, nicht übermäßig zu vernachlässigen.“

Anna Behrend
Anna Behrend, Wissenschafts- und Datenjournalistin beim NDR Foto: privat

Anna Behrend: „Die Pandemie hatte ein bisher ungekanntes Informationsbedürfnis des Publikums zur Folge. Ich denke, dass damit schon eine besondere Verantwortung für die Berichterstattung einhergeht. Die Rolle von Journalist:innen ist dabei aber meines Erachtens gleich geblieben, nämlich verlässliche Informationen zu recherchieren, diese verständlich aufzubereiten und den gesellschaftlichen Akteur:innen kritisch auf die Finger zu schauen. Was sich verändert hat, sind die Fähigkeiten, die man braucht, um das leisten zu können. Denn die Pandemie ist ein stark wissenschafts- und datenbezogener Berichterstattungsgegenstand.“


Wie war die Resonanz von Zuschauer:innen und Leser:innen?

Peter Kloeppel: „Natürlich erhoffen sich Zuschauer:innen und Leser:innen, dass sie bei Ansicht einer Nachrichtensendung oder beim Lesen einer Zeitung, Zeitschrift oder Online-Publikation unumstößliche Fakten und finale Erkenntnisse präsentiert bekommen. Das konnten und können wir in dieser Pandemie nicht immer leisten. Mein Eindruck ist aber, dass der größte Teil des Publikums dies auch akzeptiert.“

Medienprofessorin Alexandra Borchardt
Medienprofessorin Alexandra Borchardt Foto: Jacobia Dahm

Alexandra Borchardt, Medienprofessorin: „Das Verhältnis zwischen Publikum und Medien hat sich definitiv zum Besseren verändert. Das Vertrauen in Journalismus ist global in fast allen Märkten gestiegen, das belegen Studien wie der ‚Digital News Report‘ des Reuters Institutes. Das heißt aber auch, dass die Menschen von den Medien mehr erwarten. Sie möchten mehr Erklärung, verständliche, verwertbare Informationen, weniger vom ‚der hat gesagt, die hat gesagt‘, das vor allem den politischen Journalismus prägt. Der Wissenschaftsjournalismus hatte und hat seine große Stunde. Das werden Redaktionen nutzen müssen, wenn es darum geht, den Klima-Wandel journalistisch zu begleiten.“

Jan Fleischhauer: „Wenn wir auf die Einschätzung des Publikums schauen, dann hat das Ansehen des Journalismus in den vergangenen Monaten stark gelitten. Am Anfang der Pandemie überwog das Zutrauen in die Medien. Inzwischen ist der Anteil der Leute, die der Meinung sind, dass Journalisten ein wirklichkeitsgetreues Bild der Lage zeichnen, deutlich zurückgegangen. Das ist halt der Preis, den man zahlt, wenn die geschilderte Bedrohung (‚mit Omikron droht die ultimative Katastrophe!‘) und das Bedrohungsgefühl der Leser und Zuschauer zu weit auseinanderklaffen.“

Peter Kloeppel: „Die Menschen wollen wissen, was in ihrer Welt passiert, und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hat. Eine ‚Übersättigung‘ durch Informationen bei diesem Thema können wir nicht beobachten. Allerdings: Eine globale medizinische Krise wie diese kann das Vertrauen in Medien erschüttern, weil die vermittelten Informationen nicht dem eigenen Erwartungshorizont entsprechen. Ein Teil der Bevölkerung wendet sich deshalb von den klassischen und vertrauenswürdigen Informationsquellen ab und solchen Publikationen zu, die eine vorgefertigte Weltsicht bestätigen, dabei aber auch bewusst mit Falschinformationen arbeiten. Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder Informationsquellen überprüfen und dabei auch die politischen Entscheider kritisch beobachten – denn deren Handeln beeinflusst unsere Gesellschaft in hohem Maße.“

Giovanni di Lorenzo: „Wir hatten einen auch für uns überraschenden Auflagensprung in den vergangenen zwei Jahren – allein 100.000 vollbezahlte Abos sind dazugekommen. Wir haben mehr als 5.000 Leserinnen und Leser befragt, wieso sie uns lesen. Eine der wichtigsten Antworten: ‚Die Zeit‘ sei eine Stimme der Vernunft in der Pandemie, wir haben also offenbar weder Panik geschürt noch verharmlost. Die Menschen haben diese Position in der Mitte honoriert. Vielleicht ist das eine Antwort auf die Frage, wie wir uns insgesamt als Branche verhalten sollten in solchen Krisenzeiten. Und uns fragen: Haben wir Ängste noch verstärkt? Oder haben wir sinnvolle Maßnahmen madig gemacht? Da haben wir in der Branche das ganze Spektrum.“

6 Titelseiten der "Zeit" von 2020
Eine kleine Auswahl der „Zeit“-Corona-Titelseiten 2020

David Biesinger: „Die Resonanz von Zuschauer:innen, Nutzer:innen und Zuhörer:innen war und ist bis heute sehr unterschiedlich. Uns haben in den vergangenen zwei Jahren wesentlich mehr Rückmeldungen als jemals zuvor erreicht. Ein Großteil bezieht sich auf die Corona-Berichterstattung. Die einen finden, dass wir zu viel über Impfgegnerinnen und -gegner sowie Maßnahmenkritiker berichten. Andere kritisieren uns für genau das Gegenteil. Und es gibt viele Sachfragen. Der große Zuspruch freut uns: Wir versuchen, noch mehr mit unserem Publikum zu sprechen und noch mehr hinzuhören als bisher. Wir sind an einem intensiven, kritischen Dialog interessiert. Andererseits gibt es auch Kritik an unseren Angeboten, die nicht faktenorientiert ist, die radikal ist und manchmal in Beschimpfungen mündet. Das ist ein kleiner Teil, aber diese Reaktionen zeigen, wie sehr sich der Umgang miteinander an einigen Stellen negativ verändert hat.“

Korinna Hennig: „Ich empfinde auch ein massives Defizit in der öffentlichen/politischen Kommunikation, zum Beispiel (aber nicht nur) rund ums Impfen. Wir erleben das auch in der Resonanz unserer Hörer:innen: Es gibt viele Fragen, für die wir eigentlich gar nicht der richtige Ansprechpartner sind (sondern etwa die Politik, wenn es um Pandemiemaßnahmen geht, oft auch Ärzt:innen, weil individuelle medizinische Fragen gestellt werden).

Hinzu kommt aber auch, dass Journalist:innen in der Pandemie viel mehr als sonst mitdenken müssen, an welcher Stelle man uns falsch verstehen könnte bzw. uns vor Augen führen müssen, was wir mit unserer Berichterstattung auslösen. Es gilt, jedes Wort genau abzuwägen, weil wir schon ahnen, in welcher Weise Beiträge zu manchen Themen möglicherweise verzerrend zitiert und damit missbraucht werden.

Unterm Strich: Es war noch nie egal, was, wie und mit welcher Gewichtung wir Journalist:innen berichten. Aber die Pandemie hat es besonders wenig verziehen, wenn der Blick darauf zu oberflächlich war.“

Malte Kreutzfeldt
„taz“-Journalist Malte Kreutzfeldt Foto: privat

Malte Kreutzfeldt: „Die Resonanz beim Corona-Thema war gewaltig – und zwar sowohl die positive als auch die negative. Die Zugriffszahlen auf meine Texte waren so hoch wie nie zuvor und die Leserresonanz so groß wie selten. Dabei gab es einerseits viel Lob für die Berichterstattung, aber auch viel Kritik von Leser*innen, die unseren Kurs zu ‚regierungsnah‘ fanden. Und das war ja auch tatsächlich eine neue Rolle: Für einen ‚taz‘-Redakteur, der es gewohnt ist, erst mal alles zu hinterfragen und vieles zu kritisieren, ist es ein seltsames Gefühl, ein Papier aus dem Innenministerium oder eine Ansprache der Kanzlerin einfach nur zu loben. Aber wenn man nach sorgfältiger Abwägung aller Fakten zum Ergebnis kommt, dass die Regierung richtig handelt, kann man sie ja nicht nur deshalb kritisieren, um sich vom sogenannten ‚Mainstream‘ abzuheben.

Aus meiner Sicht hatten Journalist*innen bei der Berichterstattung über die Pandemie eine größere Verantwortung als bei anderen Themen – denn was man beispielsweise über Masken, Ansteckungswege oder Impfungen geschrieben hat, konnte unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen haben.“


An welchen Stellen finden Sie die Berichterstattung über die Pandemie und deren Bekämpfung kritikwürdig?

Korinna Hennig im Studio, im Hintergrund ist Christian Drosten auf einem Bildschirm zu sehen
Korinna Hennig hat im Podcast „Coronavirus Update“ regelmäßig mit Christian Drosten gesprochen. Foto: Christian Spielmann, NDR

Korinna Hennig: „Wir Journalist:innen müssen uns selbstkritisch befragen, wie viele wichtige Themen wir vernachlässigt haben. Nach dem ersten ‚Lockdown‘ konnten wir im Fernsehen reihenweise Schalten zum Friseur sehen. Aber wie oft wurde wirklich ausführlich über die Nöte der Studierenden berichtet? Über die sozioökonomische Seite der Pandemie, also über die Menschen, die in jeder gesundheitlichen Frage ohnehin benachteiligt sind?“

Jan Fleischhauer: „Eine der ersten Entscheidungen von Olaf Scholz als Bundeskanzler war es, einen General ins Kanzleramt holen, um die Anti-Corona-Kampagne zu organisieren. Nach allem, was man hört, fand er ein ziemliches Chaos vor. Wo war die Berichterstattung über den seltsamen Attentismus der Regierung Merkel, die zwar immer eindringlich warnte, wie schlimm es kommen werde, wenn man nicht auf sie höre, die aber merkwürdig untätig blieb, wenn es darum ging, Konkretes auf den Weg zu bringen? Wo war der Pharma-Gipfel, als es ihn gebraucht hätte? Der Altenheim-Gipfel? Der Schul-Gipfel? Der Impfstoff-Gipfel? Wie man der Kanzlerin ihre Versäumnisse mehr oder weniger kommentarlos hat durchgehen lassen, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich dachte, unser Job wäre es, genauer hinzusehen.“

Giovanni di Lorenzo: „Es gab eine Zeit lang die komplette Delegitimierung jeglicher Maßnahmen, vor allem durch ein Blatt. Ich würde das nicht pauschal verantwortungslos nennen, man muss Corona-Beschlüsse unbedingt auch kritisieren können. Aber da wurde jede Autorität und jede Institution, die Einschränkungen verhängt oder mitgetragen hat, in Frage gestellt und zum Teil diskreditiert. Und es gab, in anderen Medien, Kolleginnen und Kollegen, die sehr stark in der No-Covid-Bewegung embedded zu sein schienen und für noch strengere Einschränkungen getrommelt haben.“

Alexandra Borchardt: „Der Journalismus fokussiert sich noch immer zu viel auf politischen Streit und Funktionäre aller Richtungen, er geht zu wenig dorthin, wo Menschen die Folgen von Politik erleben. Dies hat auch die sehr gute Studie der Augstein-Stiftung ergeben, die im November zur Corona-Berichterstattung erschienen war. Zweiter Kritikpunkt: Es ist kontraproduktiv, Menschen mit zu vielen Zahlen zu erschlagen. Diese Tendenz sah man häufig dort, wo einmal ein schickes Grafik-Format gefunden wurde, darauf ruhten sich viele Redaktionen aus, statt innovative Animationen oder Visualisierungen zu entwickeln. Diese sind zweifellos aufwändiger, aber Qualität sticht Quantität. Masse führt dazu, dass Menschen abschalten.“

Malte Kreutzfeldt: „Insgesamt finde ich, dass viele Medien sehr kompetent und detailliert über die Corona-Krise berichtet haben. Dass viele große Häuser den Datenjournalismus stark ausgebaut haben, hat bei der Vermittlung der Fakten eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings gab es auch viele Defizite. Zudem hatten vor allem zu Beginn der Epidemie viele Medien Probleme damit, exponentielles Wachstum zu erkennen, solange die absoluten Zahlen noch klein waren. Neben den Fällen, wo Zahlen und Fakten schlicht nicht richtig verstanden worden sind, gab es leider auch Beiträge, wo sie wohl bewusst falsch dargestellt werden – wenn etwa die ‚Bild‘-Zeitung titelt: ‚Intensivstationen waren NIE überlastet‘ – obwohl im Text dann nur die völlig unstrittige Tatsache berichtet wird, dass sie nie in ganz Deutschland gleichzeitig überlastet waren. Das sieht dann schon so aus, als ob Fakten absichtlich verdreht werden, um politische Stimmung zu erzeugen. Das mag nicht neu sein, aber dass so offensichtlich Fakten verdreht werden, finde ich besorgniserregend.“

Korinna Hennig: „Die Rolle der Talkshows sehe ich sehr kritisch. Der False-Balance-Effekt ist ja schon breit diskutiert worden. Das ist sicher auch ein Lernprozess, den wir alle durchmachen mussten und müssen: Denn in der Wissenschaft gelten ganz andere Prinzipien, als wir Medienschaffenden sie klassischerweise gelernt haben. Anders als im politischen Diskurs ist es kein Ausweis von Meinungsvielfalt, wenn Minderheitenpositionen viel Raum gegeben wird.

Wenn Markus Lanz in seiner Talkshow phasenweise wirklich kritische Fragen stellt und dabei nicht locker lässt – dann ist das begrüßenswert. Wenn er anschließend aber in seinem Podcast mit Richard David Precht seinen Gesprächspartner weitgehend ungehindert Missinformation betreiben lässt, dann muss man an seinem Interesse an verantwortungsvoller Berichterstattung zweifeln.“

Christian Endt: „Problematisch fand ich die Neigung unseres Berufsstands, in Antagonisten zu denken. Den einen Virologen als Gegenspieler des anderen zu inszenieren, bringt zwar eine gute Geschichte, aber keinen Erkenntnisgewinn.“


Und was würden Sie positiv hervorheben?

Christian Endt
„Zeit“-Datenjournalist Christian Endt Foto: Michael Pfister, Zeit Online

Christian Endt: „Ich bin immer wieder überrascht, wie gut viele Leser:innen über Dinge Bescheid wissen, die vor zwei Jahren sehr spezielles Expertenwissen waren. Das hat mit einem erklärenden Journalismus zu tun, der offenbar einiges richtig gemacht hat.“

Korinna Hennig: „Einen der heikelsten Jobs haben in der Pandemie die Social-Media-Redaktionen, weil in der Kürze jedes einzelne Wort schwer wiegt. Ich beobachte da aber eine wirklich positive Entwicklung. Viele Kolleg:innen wiegen mittlerweile sorgfältig ab, über welches Thema man in dem Format überhaupt berichten kann und welche Wortwahl, welche Überschrift und welchen Tonfall man dafür wählen muss – und in welchen Fällen man nicht über jedes Stöckchen springen muss.

Und es hat tolle Langformate gegeben: Die ‚Charité intensiv‘-Doku in der ARD zum Beispiel, die Recherchen von NDR, WDR und SZ, große Reportagen in der ZEIT, den ‚Pandemia-Podcast‘. Wirklich großartige Arbeit haben meiner Meinung nach die Wissenschaftsredaktionen geleistet, allen voran die ‚Zeit‘ und ‚Spektrum.de‘, auch die ‚Faktenfinder‘-Redaktion der ‚Tagesschau‘ und der ‚Faktenfuchs‘ vom BR sowie die datenjournalistischen Kolleg:innen, auch bei uns im NDR.“

Alexandra Borchardt: „Positiv hervorheben möchte ich auf jeden Fall die Diversität neuer Formate. Über den preisgekrönten Podcast „Coronavirus Update“ ist schon genug gesprochen worden, aber es fasziniert mich, dass so viele auch junge Menschen ein monothematisches langes Format regelmäßig bis zum Ende hören. Was mir auch gefällt, ist das kurze Covid-Update der ‚Tagesschau‘ auf Instagram. Auch hier zeigt sich: Weniger kann mehr sein. Und dann haben vor allem große Häuser wie ‚New York Times‘ oder ‚Washington Post‘ viele Facetten der Pandemie großartig visualisiert. Da zeigt sich, was digitaler Journalismus kann.“


Inwiefern wurden Journalist:innen ihrer Rolle gerecht, die Arbeit von Regierenden, Wissenschaftler:innen etc. kritisch zu begleiten? Wo gab und gibt es Defizite? Wo war oder ist Kritik überzogen?

Christian Endt: „Diese Debatte wird mir oft zu vereinfacht geführt. Die Infektionsschutzmaßnahmen pauschal abzulehnen und ein Ende der Maskenpflicht zu fordern, ist zwar eine, aber nicht die einzige Möglichkeit, das Regierungshandeln kritisch zu begleiten. Schwieriger und wichtiger ist es aus meiner Sicht, genau hinzusehen: Wie sind die Regeln im Detail ausgestaltet, wie gut läuft die Umsetzung? Erheben wir die nötigen Daten, um durch die Pandemie zu steuern?“

Peter Kloeppel: „Ich finde, dass die meisten Journalist:innen im Großen und Ganzen angemessen und abgewogen über die Pandemie berichten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Eine weltweite Gesundheitskrise dieser Dimension hat keiner von uns je erlebt. Was dazu kommt: Auch wir sind Menschen mit Sorgen und Ängsten, so gut wie jeder Berichterstatter fühlte oder ist persönlich betroffen – dieses Sein prägt das Bewusstsein im Umgang mit der Krise. Deshalb finde ich es (emotional) nachvollziehbar, wenn Kritik bisweilen schärfer artikuliert wurde als das in ‚normalen Zeiten‘ geschehen wäre. Einen Mangel an Kritik konnte und kann ich nicht beobachten. Wenn das aber – wie geschehen – zu persönlichen Angriffen auf Entscheidungsträger führte, zu einem ‚an den Pranger stellen‘, dann ist das völlig inakzeptabel.“

Korinna Hennig: „Es gab sinnvolle und ausgewogene Kritik. Doch die Wortwahl bewirkte oft ein wohl unfreiwilliges Framing: Als ‚Maßnahmenkritiker‘ galten stets die, denen die nicht-pharmazeutischen Interventionen wie Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Geschäftsschließungen zu weit gingen. Dabei waren auch die Befürworter härterer, dafür kürzerer Eingriffe streng genommen ja Kritiker der Maßnahmen (in ihrer konkreten Ausgestaltung). Auch das hat phasenweise einen False-Balance-Eindruck hervorgerufen.

Die Verantwortungsbereiche wurden oft nicht sauber getrennt. Da gab es wissenschaftliche Fragen an Politiker, die folgerichtig oft sachlich ungenaue und damit manchmal falsche Antworten gegeben haben. Und viel zu oft wurden Wissenschaftler für politische Maßnahmen in die Pflicht genommen, die sie selbst gar nicht beschlossen, oft noch nicht einmal in der konkreten Form befürwortet hatten.

Die Rolle der Stiko hätte kritischer begleitet werden können. Das hätte man konstruktiv und ohne Anfeindungen machen können, einfach, indem die richtigen Fragen gestellt werden. Auch die staatliche Impfkommunikation haben wir meines Erachtens immer noch zu wenig hinterfragt.“

Anna Behrend: „Es gibt ja sehr gute Beispiele kritischer Berichterstattung, wie etwa von den Kolleginnen und Kollegen der Recherchekooperation von NDR, WDR und SZ. Da wurde über falsch abgerechnete Testzahlen berichtet, über nicht auffindbare Intensivbetten oder auch die Profiteure der Pandemie.

Auch wir im Datenteam haben immer wieder politische Aussagen und Entscheidungen kritisch begleitet. So haben wir zum Beispiel mehrfach erklärt, warum wir die Hospitalisierungsrate – so wie sie derzeit erhoben wird – als Indikator für den Pandemieverlauf für ungeeignet halten. Generell haben wir und andere immer wieder Kritik an der mangelhaften Datenlage geübt. Wir merken aber auch, dass die große Nachfrage nach aktuellen Daten zur Pandemie uns ein Stück vor sich hertreibt und unsere Ressourcen bindet, sodass andere kritische Berichterstattungsansätze teilweise zu kurz kommen. Ich glaube, dass diese Erfahrung auch viele andere Daten-Kolleginnen und -Kollegen teilen.“

Alexandra Borchardt: „Ich bin da milde mit meinem Urteil. Am Anfang der Pandemie gab es so viele Unbekannte und definitiv eine Wissenslücke, da konnten Journalist:innen vieles schwer unabhängig überprüfen. Oft ging es um schnelles Handeln, tatsächlich um Leben und Tod, da tastete man sich weltweit nur langsam voran. Die sozialen Folgen bestimmter Maßnahmen wurden definitiv zu wenig beleuchtet. Ich denke vor allem an das schreckliche Verbot, sterbende Familienangehörige zu begleiten und würdig Abschied zu nehmen. Da hätte man von Anfang an kritischer nachfragen müssen. Gleiches gilt für das unsägliche, vom Föderalismus geprägte Management der Schul-Schließungen und deren Folgen. Ich hätte mir außerdem gewünscht, dass die Profile von Wissenschaftlern transparenter gemacht worden wären. Was qualifiziert wen, Stellung zu nehmen? Arzt ist nicht gleich Arzt, Virologin nicht gleich Virologin.“

Jan Fleischhauer
„Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer Foto: M.C. Hurek

Jan Fleischhauer: „Wir haben uns etwas zu sehr auf dem ‚False-Balance‘-Argument ausgeruht. Klar, man will nicht jedem Spinner eine Bühne geben, verstehe ich. Natürlich ist auch etwas an dem Argument dran, dass man Leute, die an die Erde als Scheibe glauben, nicht gleichgewichtig mit Menschen auftreten lassen sollte, die die Erde als Kugel sehen. Aber die ‚False Balance‘-Geschichte wurde immer mehr dazu benutzt, jede Meinung, die man nicht teilt, als Außenseitermeinung abzutun, mit der man sich dann nicht weiter beschäftigen muss. Ich erinnere mich an eine Zeit im Journalismus, wo man durchaus interessiert an Außenseitern war, und sei es nur, weil sie Leben in die Diskussion brachten. Es war nicht die schlechteste Zeit.“

Peter Kloeppel: „Wenn Redaktionen grundsätzlich eine wissenschaftsfeindliche Haltung an den Tag legen, wenn stattdessen Corona-Skeptikern oder gar -Leugnern unangemessen viel Platz eingeräumt wird, dann werden die ohnehin schon verunsicherten Bürger zusätzlich in die Irre geführt. Zum Glück blieb das in den klassischen Medien mit ihren etablierten Kontrollmechanismen die Ausnahme.“

Giovanni di Lorenzo: „Unterschiedliche Meinungen abzubilden, heißt nicht: alle Meinungen. Ein Coronaleugner zum Beispiel hat in der ‚Zeit‘ nichts zu suchen. Oder ein militanter Querdenker. Oder ein Schönheitschirurg, der allen Ernstes verbreitet, Corona sei nur ein Schnupfen, darf das gerne im Netz herausposaunen, den aber als ernstzunehmende Stimme neben angesehene Virologen zu stellen, wäre ohne Zweifel False Balance. Solche Leute kann man als Phänomen beschreiben, eine freie Bühne darf man ihnen aber nicht geben. Aber wenn ein Virologe sagt, dass wir lernen müssen, mit der Pandemie zu leben, dann leistet er nun wirklich nicht Beihilfe zum Tod anderer Menschen. Allenfalls hat er eine falsche Einschätzung abgegeben. Es muss auch in Zeiten, die bedrohlich sind, Raum sein für Diskussionen.“


Wie hat sich die Pandemie inhaltlich auf Ihre eigene Arbeit ausgewirkt? Wo sehen Sie rückblickend eigene Fehler, was würden Sie im Nachhinein anders machen?

Jan Fleischhauer: „Für mich hat sich eine Lücke so groß wie ein Scheunentor aufgetan, insofern kann ich mich nicht beklagen. Dabei habe ich noch nicht mal eine Extremposition vertreten, sondern mich nur an meine linke Erziehung erinnern müssen. Also Einsicht in die praktische Notwendigkeit: fürs Impfen, fürs Masketragen, auch für Abstand, wo es geboten ist. Aber eben superskeptisch, wenn mit zu großer Leichtigkeit wesentliche Freiheitsrechte aus dem Fenster fliegen. Dass ich mich einmal Seite an Seite mit Heribert Prantl wiederfinden würde, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen.“

Giovanni di Lorenzo
„Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo Foto: Vera Tammen

Giovanni di Lorenzo: „Was mich verwundert hat: Diese teilweise große Begeisterung, sich ins Homeoffice zurückzuziehen und sich zu verbarrikadieren, gerade am Anfang der Pandemie. Das finde ich schwierig. Natürlich soll sich niemand leichtfertig einer Gefahr aussetzen, und in einem Newsroom kann man sich nicht schützen. Aber auch Redaktionsräume können Sicherheit bieten. Wir haben in der Hamburger Zentrale bei mehr als 600 Mitarbeitern bis heute keinen einzigen Fall, bei dem sich jemand im Büro angesteckt hätte, obwohl wir 24/7 die Räume aufhatten. Ich klopfe jetzt auf Holz, weil es dazu immer ein Quäntchen Glück braucht – auch wenn wir alle sehr vorsichtig sind und waren. Deshalb erlaube ich mir die Frage, ob Homeoffice nicht auch eine Falle sein kann, denn wenn alle nur noch auf Zoom-Kacheln starren, fehlt der Austausch innerhalb der Redaktion. Die spontanen Diskussionen, die Auseinandersetzungen von Angesicht zu Angesicht machen unsere Medien doch erst lebendig! Und wir haben es schwerer, Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen zu werden. Vor allem aber kommen einige Geschäftsführer und Verleger in Versuchung, die Flucht aus den Redaktionsräumen als Hebel für Sparmaßnahmen zu nutzen, was ja jetzt auch überall zu beobachten ist.“

Malte Kreutzfeldt: „Die Pandemie war zunächst eine gewaltige Belastung, weil das Thema so allumgreifend war und sich bei uns viel zu wenig Leute darum gekümmert haben. Zudem ist die Stimmung in der Öffentlichkeit, speziell in den sozialen Medien, zunehmend aggressiver geworden, und es gab insgesamt ein großes Misstrauen gegen die Medien. Die einen haben einem Panikmache unterstellt, die anderen Verharmlosung – bisweilen sogar für den gleichen Beitrag. Das kann auf Dauer die Gefahr bergen, dass man sich zu besonders umstrittenen Themen nicht mehr äußert, weil das zu anstrengend ist (wobei das bei mir bisher nicht der Fall ist).“

Korinna Hennig: „Die allgemeine Kritik, die ich an der Medienberichterstattung in der Pandemie formuliere, schließt natürlich ausdrücklich mich selbst ein. Ich denke, dass wir alle uns noch mehr Zeit bei der Wahl unserer Berichterstattungsthemen nehmen sollten, den Diskursen innerhalb der Redaktionen mehr Raum geben sollten. Auch mir ist es oft nicht gelungen, wenigstens vorübergehend von dem Blickwinkel zurückzutreten, mit dem ich in eine Diskussion reingegangen bin.

Und ich war so lang auf die lange Form (Podcast) konzentriert, dass mir die Bedeutung der kurzen Berichterstattung im Radio ein bisschen aus dem Blick geraten ist. Es ist zwar arbeitsintensiv und anstrengend, aber inhaltlich natürlich viel bequemer, ohne echte Längenbeschränkung zu arbeiten. Aber gerade die kurze Form für eine breite Zielgruppe ist so wichtig, und es ist wichtig, sich dafür viel Zeit zu nehmen. Die Frage nach der ethischen Verantwortung für unser Tun, der Blick auf die Wirkung unserer Aussagen – ohne dabei die sprichwörtliche Schere im Kopf zu haben – ist elementar in allen Bereichen.“

Anna Behrend: „Die Pandemie bestimmt seit nunmehr zwei Jahren inhaltlich in sehr großen Teilen meine Arbeit, dadurch dass wir bei ‚NDR Data‘ die automatisierten Grafiken auf ndr.de betreuen und natürlich auch datengetriebene Berichterstattung zum Thema machen. Die deutschsprachige Datenjournalismus-Community steht in sehr engem Austausch und ich kann daher, glaube ich, sagen, dass die Pandemie zum einen zu einer verstärkten Nachfrage datenjournalistischer Expertise in den Medienhäusern, zum anderen zu einer erheblichen Professionalisierung und einem entsprechenden Aufbau von technischer Infrastruktur geführt hat. Das ist gut, hat aber vielleicht auch ein Stück weit dazu geführt, dass wir dazu verleitet wurden zu zeigen, was technisch möglich ist, anstatt zu sagen: Nein, das ist so eigentlich nicht sinnvoll. Ich denke zum Beispiel daran, inwieweit die Inzidenzen im Zeitverlauf jemals überhaupt vergleichbar waren angesichts stets wechselnder Teststrategien.“

Christian Endt: „Mit der einen oder anderen Prognose lag ich daneben. Das haben Prognosen so an sich, aber ich würde im Nachhinein manches vielleicht noch vorsichtiger formulieren.“

Peter Kloeppel: „Auch wir mussten lernen, welchen Experten mehr, und welchen weniger zu vertrauen ist. Wir haben sicher zu Beginn manchmal vorschnell über neue Zahlen und Fakten berichtet, bis wir selber unsere innerredaktionellen Kontrollmechanismen richtig kalibriert haben. Wahrscheinlich haben wir auch so manchen Expert:innen oder Poliker:innen zu viel Sendezeit eingeräumt. Im Nachhinein sehe ich keinen Anlass, an unserer Berichterstattung zu zweifeln. Wenn überhaupt dann hat diese Krise gezeigt, wie wichtig gut ausgestattete Redaktionen in solchen Zeiten sind. Und da können wir sehr zufrieden und selbstbewusst auf unsere Arbeit blicken. Wenn ich mir eines wünsche, dann sind es mehr naturwissenschaftlich ausgebildete Journalist:innen – von denen gibt es leider zu wenige.“

David Biesinger: „Mit dem Wissen von heute hätte ich noch früher ein konsequentes Erklären und Aufklären über das Zustandekommen von Nachrichten in der Berichterstattung verankert. Noch mehr darüber aufgeklärt, welche Daten uns zur Verfügung stehen, wie wir sie prüfen und aufbereiten.

Ich habe 2020 auch nicht gedacht, dass uns diese Pandemie so lange in Atem halten würde. Redaktionen auf einen Marathon einzustimmen, sie von vielen anderen Aufgaben zu entlasten, das wäre damals wichtig gewesen, wenn wir auch nur geahnt hätten, dass mehr als zwei Jahre Ausnahmezustand auf uns zukommen. Denn die Arbeitsbelastung für alle ist seit Februar 2020 immens.

Und ich habe noch einmal gelernt, dass die Demokratie uns fordert, Widersprüche und Gegensätze auszuhalten. Uns jedoch zugleich darin bestärkt, uns fest an den Werten der Demokratie zu orientieren. Das stärkt diese Gesellschaft gerade auch im Umgang mit einer radikalisierten, demokratiefeindlichen Minderheit. Es empört mich, dass meine Kolleginnen und Kollegen auf Demonstrationen angegriffen und beleidigt werden. Das hat mit Demokratie nichts zu tun.“


Was würden Sie sich für die weitere Berichterstattung, auch über andere große Krisen, grundsätzlich von Medien wünschen?

Christian Endt: „Mehr Mut zur Langsamkeit.“

Korinna Hennig: „Ich wünsche mir vor allem mehr Mut zu eigenständigen Entscheidungen in den aktuellen Redaktionen, mehr inhaltliche Leidenschaft und Demut vor dem Gegenstand! Es kann auch eine journalistische Entscheidung sein, ein Thema nicht aufzugreifen, auch wenn es auf dem Boulevard gerade zu großer Form aufläuft. Weniger Standards in den Formulierungen, weniger den ‚Hatten wir das auch?‘-Reflex, stattdessen die ‚Habe ich das wirklich selbst verstanden?‘-Haltung. Noch mehr Sorgfalt in der kurzen Form.“

David Biesinger: „Wir müssen unser journalistisches Handwerk konsequent anwenden. In Krisensituationen ist das die beste Versicherung, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Wenn wir unsere journalistischen Grundsätze einhalten, dann sind wir in der Lage, ausgewogen und kritisch zu berichten, auch wenn es kompliziert wird. Und wir müssen uns immer wieder gegenseitig antreiben, Positionen zu hinterfragen, liebgewonnene Blickwinkel zu ergänzen und neue Sichtweisen auf Themen zu entwickeln. Journalistische Neugierde muss über die eigene Haltung hinausgehen.“

Anna Behrend: „Ich fürchte, dass die Corona-Pandemie nicht die letzte Pandemie sein wird, die wir erleben. Und wir stecken längst in der nächsten großen Krise mit starkem Wissenschafts- und Datenbezug – der Klimakrise. Ich wünsche mir daher eine nachhaltige und weitsichtige Stärkung des Wissenschafts- und Datenjournalismus. Es muss Expertinnen und Experten gerade auch in den großen Nachrichten-Newsrooms geben, die Entwicklungen einschätzen und kontextualisieren können. Nur so kann gelingen, dass die Berichterstattung Einordnung bietet und nicht Informationshappen und Zahlen wie Börsenkurse einfach nur vermeldet.“

Jan Fleischhauer: „Weniger Katastrophen-Vorhersage, mehr Recherche. Dass es zwei Jahre gebraucht hat, bis ein Team der „Süddeutschen“ der Frage nachging, wie es zu der vermutlich verhängnisvollsten Entscheidung der vergangenen zwei Jahre, der monatelangen Schulschließung, gekommen ist, sagt einiges über falsche Prioritäten in der Corona-Berichterstattung. Ist übrigens ein phantastisches Stück Journalismus geworden.“

Alexandra Borchardt: „Ich würde mir noch mehr Erklärung wünschen, auch in interessanten, leicht konsumierbaren Formaten, die eine Vielzahl von Zielgruppen erreichen, nicht nur die traditionellen Nachrichtennutzer. Es sollten generell weniger Funktionsträger zu Wort kommen, und wenn, dann bitte auch vielfältige Stimmen. So sehr ich die Verdienste von Christian Drosten und Co. in dieser Pandemie schätze: Heldenverehrung und zu starke Personalisierung, das geht oft nach hinten los. Und noch einmal: Weniger kann mehr sein. Konstruktive Formate helfen Menschen, den Mut nicht zu verlieren. Wer nur Probleme und Bedrohungen sieht und keine Lösungen, kommt ganz sicher schlechter durch Krisen. Medien haben auch da eine Verantwortung.“

Giovanni di Lorenzo: „Für die Zukunft und für die nächsten Krisen wünsche ich mir im Prinzip, was ich mir schon vor der Pandemie gewünscht habe: Dass wir stärker darauf schauen, was jemand gesagt hat, also auf das Argument. Nicht gleich eine Klassifizierung versuchen in Links oder Rechts, Panikmacher oder Querdenker – oder sonst noch was. Es kann auch sein, dass jemand, mit dem man politisch überhaupt nicht übereinstimmt, mal ein richtiges Argument hat. Damit muss man leben, das ist eine ganz lehrreiche Erfahrung. Da ist im aktuellen Diskurs die große Gefahr, dass wir uns durch Framing der Auseinandersetzung mit Argumenten entziehen. Und dass sich die Fronten immer weiter verhärten, was bereits passiert. Wir sollten aber alles versuchen, um durch Kommunikation weiter Brücken zu bauen – und wenn es noch so schwerfällt.“

Protokolle und Zusammenfassung: Boris Rosenkranz, Ajmone Kuqi, Frederik von Castell

5 Kommentare

  1. Giovanni di Lorenzo: „Aber ich fände es anmaßend, mit dem Finger auf andere zu zeigen.“ später: „Es gab eine Zeit lang die komplette Delegitimierung jeglicher Maßnahmen, vor allem durch ein Blatt.“

  2. Mit welch prätentiösem Pathos Fleischauer in das Gespräch einsteigt, zeigt, wie persönlich er fundierte Kritik nimmt. Kein guter Journalist. Noch nicht mal ne gute Krawallbürste.

  3. Der Fleischhauer ist einfach nur peinlich. Die Fragen werden benutzt, um Dreck auf andere zu werfen. Blabla Freiheit, blabla False Balance ja aber auch nein, Süddeutsche doof.
    Aufgabenstellung nicht verstanden, 6, setzen.

  4. @#1: Komplett legitim und nicht widersprüchlich, das di Lorenzo da macht. Er nennt ja keinen Namen. Und wenn Sie sich den Namen sofort denken können (wie wir vermutlich alle), dann spricht das in meinen Augen eben auch dafür, dass man das so sagen darf.

    „Alexandra Borchardt, Medienprofessorin: „Das Verhältnis zwischen Publikum und Medien hat sich definitiv zum Besseren verändert.“
    „Jan Fleischhauer: „Wenn wir auf die Einschätzung des Publikums schauen, dann hat das Ansehen des Journalismus in den vergangenen Monaten stark gelitten.“

    Wenn der den Mund aufmacht/den Stift spitzt, kommt doch nur gefühlte Grütze raus. Also bestens beim Focus aufgehoben.

  5. Vielen Dank! Sehr interessant. Leider sehe ich nicht viel Selbstkritik. Meines Erachtens krankte die Berichterstattung der Qualitätsmedien an einer in weiten Teilen unkritischen Nähe zu den Pandemiemaßnahmen und leider oft vorschnellen Dämonisierung anderer Stimmen: Drei Beispiele (von vielen): 1. obwohl die „Laborthese“ nach wie vor nicht wissenschaftlich widerlegt wurde, sondern als wenig wahrscheinlich, aber möglich, eingeschätzt wird, gab es sehr früh in 2020 einen ARD-Faktencheck, der dies als Verschwörungstheorie bezeichnete. 2. Bis heute wird die offizielle Corona-Datenverlautbarung ohne Erläuterung wiedergegeben. So wird nach wie vor nicht deutlich genug gemacht, dass die Neuinfektionen nicht gleich Anzahl tatsächlich neuer Erkrankungen, sondern Anzahl positiv ausgefallener PCR-Tests bedeutet. Aus Sicht des RKI oder der Regierung kann ich diese fehlende Differenzierung um der Pandemiedisziplin der Bevölkerung willen nachvollziehen – meines Erachtens sollten sich Medien aber nicht die gleiche Informationspolitik unkritisch zu eigen machen. 3. Es fehlte an kritischer Recherche, bspw. zum Widerspruch zwischen politischen Ankündigungen und Maßnahmen, z.B. „Schulen haben Priorität“, aber auch nach 2 Jahren gibt es kaum Luftfiltersysteme an Schulen usw. Auch in den Medien gaben Virologen und Mediziner den Ton an, während Sozial-, Erziehungswissenschaftler und Psychologen unterrepräsentiert waren. Allein, dass Karl Lauterbach eine Zeitlang quasi in JEDER Sendung zum Thema auftauchte, sagt einiges. Das, was den seriösen Medien zu denken geben sollte, ist, dass es häufig die BILD war, die als einzige herrschende Narrative in Frage stellte (auch wenn das oft nicht gerade seriös gemacht wurde).

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