Gescheitertes Agenda-Setting

Performance statt Positionen: Was im Wahlkampf 2021 zählte

CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet wird auf dem Weg zum „Triell“ von Anfängern gefeiert und gefilmt
Foto: Imago / Jan Huebner

Natürlich ging es in diesem Wahlkampf irgendwann auch um Inhalte. Spätestens als in der gefühlt siebzehnten Frage-Antwort-Sendung ein Kanzlerkandidat auf das Thema Lichtverschmutzung festgenagelt wurde, konnte niemand mehr behaupten, es gehe nicht um Inhalte. Für die Parteien ist jedoch nicht entscheidend, ob bis zum Wahltag von ihren Kandidierenden 15 Sekunden zu jedem denkbaren Thema gesendet wurden. Das merkt sich ohnehin niemand. Entscheidend ist, ob es ihnen gelingt, die Öffentlichkeit vor der Wahl in ein Gespräch über jene Themen zu verwickeln, die als ihre Kompetenzfelder gelten.

Mit einem Vorurteil sollte man zunächst aufräumen: Dass Inhalte den Wählerinnen und Wählern völlig egal sind und es nur auf die Person ankomme. Das stimmt nicht.

Richtig ist: Beides beeinflusst die Wahlentscheidung. Nachzulesen ist das in der renommierten German Longitudinal Election Study (GLES). 2017 gehörten Problemlösungen und Person zu den wichtigsten Kriterien für diejenigen, die nicht einfach die gleiche Partei wie sonst auch wählten. Und das trifft mittlerweile auf die Hälfte des Elektorats zu. Für diese wechselbereiten Menschen gilt: Person und Positionen zählen – und zwar in gleichem Maße. Ohnehin ist beides nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden. Personen stehen schließlich auch für Positionen.

Wahlkampf ist daher Konkurrenzkampf um das Agenda-Setting. Ein Wettbewerb um die „Weltwahrnehmung“ der Wählenden. Wer sein Kreuz macht, solle dabei gefälligst als erstes an den kollabierenden Planeten, die fragile Altersvorsorge, das langsame Internet oder „beschleunigte Planungsverfahren“ denken.

Nach traditionell medienwissenschaftlicher Auslegung ist Agenda-Setting ein Medieneffekt, da Medien die Themen in der Öffentlichkeit platzieren, präsentieren und priorisieren. Und auch wenn alle Parteien mittlerweile selbst zu Medien mutiert sind, sind sie immer noch darauf angewiesen, dass journalistische Medien aufgreifen, was sie der Welt zu sagen haben. Es sind wechselseitige Prozesse in einer höchst hybriden Medienöffentlichkeit.

Kommen wir zur Preisfrage: Wem ist es gelungen, dieser Wahldebatte ein Thema aufzudrücken? Die kurze Antwort lautet: Keiner Partei. Da die Gründe von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sind, muss jedoch etwas ausgeholt werden.

Die Pakete der Union

Blicken wir zunächst auf die Union: Bei der CDU wollte man lange gar nicht mit Themen Wahlkampf machen, bis man merkte, dass die Eumeligkeit des eigenen Kandidaten das Thema ist. Also war die Aufgabenstellung klar: Fokus verschieben – von der Person auf das Programm. Natürlich in Paketform serviert.

Regierungsparteien lieben Pakete. Erst ein Energiepaket, dann ein Sicherheitspaket, zwischendurch ein „Superpaket“ namens Sofortprogramm mit sechs thematischen Paketen, dann ein Wirtschaftspaket (pardon, „Entfesselungspaket“ natürlich), und bis zum Wahltag wird noch weiter heftig abgeliefert.

Die Inszenierung immer gleich, immer öde: Die CDU-Pressewand wird aufgestellt, die Presse schaut vorbei, Auftritt Armin Laschet plus X. Man referiert etwa eine Stunde vor den Medienvertretenden, die Social-Media-Abteilung packt noch ein paar Schlüsselbegriffe auf Kacheln, und am nächsten Tag steht ein bisschen was in der Zeitung darüber.

Aber auch nur ein bisschen, weil der Neuigkeitswert fehlt. Denn diese Papiere sind nur Abstracts von Programmkapiteln. Bei der Vorstellung des Wirtschaftspapiers räumte Laschet ganz unjovial ein: „Zehn Tage vor der Wahl erfindet man nicht viel Neues.“ Botschaften, oder gar eine Erzählung, die beim Publikum hängen bleiben? Wohl kaum. Es sind Rituale ohne Resonanz. Nichts, was geeignet wäre, die „Trendwende“ zu schaffen. So lautete ja die überfordernde Zielvorgabe für diese PR-Instrumente aus einer vergangenen Zeit.

Das Sofortprogramm der Grünen

Auch die Grünen probierten es mit einem Sofortprogramm. Zweifelsohne war der Ort, am Rande eines Moores in Brandenburg, besser gewählt. Auch das Datum passte: Drei Wochen nach der Flutkatastrophe. Die Natur hatte zu diesem Zeitpunkt das Agenda-Setting für die Grünen bereits erledigt. Die Partei hätte diese Agenda nur noch surfen müssen. Doch man stand in diesem Wahlkampf nie so richtig auf dem Brett.

Auch im „Klima-Sofortprogramm“ gab es kaum Neues zu bestaunen. Ausnahme: Das „Klima-Veto“ für ein entsprechendes Ministerium. Der Neuigkeitswert war also ein gouvernementales Gimmick. Eine Einladung an die politischen Konkurrenz wie auch interessierte Medien, sich einer Debatte über klimarealistische Maßnahmen zu entziehen und mit einer verfassungsrechtlichen Paragraphendebatte davon zu segeln.

Eine kurze Fallstudie zu diesem Klimasofortprogramm illustriert das Beschriebene: Mit Hilfe einschlägiger Pressedatenbanken lässt sich annäherungsweise ermitteln, wie viele Texte in Print- und Online-Medien zu einem bestimmten Thema erschienen sind. Sie liefern in jedem Fall einen recht zuverlässigen Eindruck über das quantitative Verhältnis unterschiedlicher Themen in der Berichterstattung.

Machen wir also den Test mit zwei Themen. Nummer eins: der Lebenslauf von Annalena Baerbock. Eingabe in die Suchmaske: Baerbock UND Lebenslauf. Zeitraum: Sieben Tage, nachdem die Vorwürfe bekannt wurden. Zack: 1.245 Treffer. Thema zwei: Das Sofortprogramm der Partei. Analoges Vorgehen wie oben. Zack: 466 Treffer. Und noch zum Spaß, das Ganze mit Baerbock und ihrem Buch. Zack: 1.645 Treffer. Es ist ein Beispiel für ein Muster dieser Wahldebatte: Das erhebliche quantitative Gefälle zwischen Performance und Positionen. Und das ist bei Laschet ähnlich steil.

Der Wahlspot der Grünen tat dann sein Übriges. Schiefes Singen war dabei gar nicht das größte Problem. Der Spot setzte die falsche Emotion in einer für die Partei richtigen Zeit. Und wieder sprach das Land über eine Performance statt den Planeten. Die Partei tat anschließend so, als könne sie Aversion und Aufmerksamkeit nicht unterscheiden. Hauptsache Aufmerksamkeit, „bad news are good news“, das ist aber eben auch so eine überholte PR-Bauerregel, schließlich wird in den digitalen Empörungsdynamiken ein fremder Beitrag niemals ohne persönliche Bewertung (hier zu 98 Prozent Spott) weiterverbreitet.

Die Zukunftsmissionen der SPD

Und die Themen der SPD? Sie heißen „Zukunftsmissionen“. Schon wieder vergessen? Das könnte daran liegen, dass Olaf Scholz sie bereits Anfang Februar vorgestellt hat, also als der Gedanke an einen Kanzler Scholz noch eher Witz als Wahrscheinlichkeit war. Ab dem Sommer drehte die SPD die Personalisierung bis zum Anschlag, es ging nicht vorrangig darum, die SPD mit einem bestimmten Thema zu verbinden, sondern eine Synapse so breit wie der Elbtunnel zwischen dem Namen „Scholz“ und dem Titel „Kanzler“ zu schaffen.

Und so verlief die SPD-Kampagne entgegengesetzt zum CDU-Wahlkampf: Je näher der Wahltag, desto mehr Person und desto unschärfer die Inhalte. In den Triellen ging es für Scholz dann letztlich nur noch darum, nicht zu verlieren. Angriffsflächen zu räumen war die Agenda.

Verlust der Diskurshoheit

So lässt sich in diesem Wahlkampf in zeitlicher Verdichtung besichtigen, was schon länger im Gange ist: Parteien verlieren ihre Agenda-Setting-Fähigkeit. Das liegt zum einen an PR-Methoden, die aus dem alten Mediensystem stammen und, allein ergänzt um eine Social-Media-Kachel, noch keine zeitgemäße Kommunikation ergeben.

Wer nur einen Sprechzettel für die Pressekonferenz, aber kein Bild für die Botschaft und keine plattformgerechte Story für Social Media hat, kommt heute nicht mehr weit. Um in der Wahrnehmung der Wählenden einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, braucht es eine überzeugende Erzählung. Das menschliche Gehirn prägt sich Geschichten besonders gut ein, weil sie das assoziative Denken aktivieren.

Zwar schmückte sich jede Kampagne mit dem Wort „Zukunft“, aber daher stecken keine Zukunftserzählungen. Laschets „Modernisierungsjahrzehnt“ ging über das Stichwort nicht hinaus. Wenn überhaupt, war Laschets Erzählung eine Nacherzählung, mit der Union sei die Geschichte angeblich immer irgendwie gut ausgegangen. Aber Menschen wählen ein Zukunftsversprechen, keine Vergangenheitsbilanz. Und auch die Grünen drangen nicht mit einer Erzählung durch, die veranschaulicht, wie es denn sein wird, in den dekarbonisierten 2040er Jahren.

Zum anderen ist die gesellschaftliche Verankerung von Parteien – die Politikwissenschaft spricht von Bindungskraft – über die Jahre immer bröckeliger geworden. Und damit ist ihnen Diskurshoheit abhanden gekommen. Es reicht für Parteien nicht mehr, Standpunkte auf ein Papier zu schreiben, damit ins Morgenmagazin zu gehen, und dann läuft die Debatte. Es bedarf heute nicht nur weiterer Kanäle, sondern auch zusätzlicher Akteure, mit denen man so etwas wie eine vorübergehende „Diskursallianz“ bildet. Dabei geht es nicht darum, dass Dritte für die Partei werben, sondern das gemeinsam Interesse verfolgen, ein bestimmtes Thema auf die Agenda zu setzen.

Warum über Familien, Energieversorgung oder Sicherheit aus dem Konrad-Adenauer-Haus vor der CDU-Pressewand referieren, wenn all diese Themen da draußen spielen? Natürlich kann man bei einem „Vor Ort“-Termin kein Paket präsentieren, aber eben doch die eine nachrichtenwerte Ankündigung, die eine überraschende Forderung, die eine hängenbleibende Botschaft setzen. Man sollte sich dazu eben nur nicht unbedingt neben einen Selbstdarsteller wie Elon Musk stellen, der im Zweifel selbst die Nachricht sein möchte.

Polit-Boulevard und Polit-Bubble

Kommen wir zum Schluss noch zu den Medien. Die kurze Fallstudie oben sagt nicht nur etwas über das mangelnde Thematisierungsvermögen von Parteien aus. Sie beschreibt auch, wer in der Medienlandschaft Taktgeber des Wahlkampfs war: Der Boulevard und die Bubble auf Twitter.

Polit-Boulevard und Polit-Bubble gehen mittlerweile eine bemerkenswerte Symbiose ein. Nicht weil sie politisch ähnlich ticken, sondern weil sie einer ähnlichen Definition von Relevanz unterliegen. Das Visualisierte, Personalisierte, Emotionalisierte und Polarisierte ist sowohl Rohstoff für den großbuchstabigen Journalismus als auch den aufmerksamkeitscatchenden Algorithmus. Und weil ja auch die journalistische Riege der seriösen Outlets ziemlich permanent auf ihre Timeline blickt, beeinflusst dieses „Rechercheverhalten“ auch ihre Relevanzkriterien. Viralität in sozialen Medien ist zum Nachrichtenwert journalistischer Medien geworden.

Schnell kann dabei algorithmische Relevanz mit gesellschaftlicher Relevanz verwechselt werden. Nur weil Klickbuden berichten und Algorithmen steil gehen, ist etwas noch lange nicht bedeutsam für die Meinungsbildung der Wählerinnen und Wähler. Diese Twitterisierung des öffentlichen Diskurses ist eben ein zweischneidiges Schwert: Sie kann emanzipatorische Effekte haben (siehe #MeToo) oder einen Wahlkampf in einer Dauerschleife von Banalitäten gefangen halten.

Natürlich haben seriöse Medien auch guten Journalismus in diesem Wahlkampf geliefert, haben Vergleiche von Programmen so aufbereitet, dass sie sowohl auf Papier als auch auf Plattformen funktioniert haben. Aber meist eben nur für einen Moment. Bis sich das nächste Laschet-Video ins Sichtfeld schob oder die „Bild“ das nächste „Baerbock-Beben“ ausrief. Und die meisten den nächsten Hype dann nicht verpassen wollten.

Man kann es also auch so sehen: Von der Öffentlichkeit belohnt wurde jene Parteien, die sich mehr um Performance als um Programm sorgten. Und die Öffentlichkeit – tja, das sind wir halt alle irgendwie.

3 Kommentare

  1. Hätten die Grünen mal den Habeck aufgestellt …

    „Also war die Aufgabenstellung klar: Fokus verschieben – von der Person auf das Programm.“
    Hä? Den Eindruck hatte ich nicht. Der Fokus wurde verschoben vom eigenen Eumel zu Eumeln anderer Parteien. Früher hätte man das wahrscheinlich Diffamierungskampagne genannt. Bis heute gackern die die CXU Parteien doch nichts anderes als „Linksrutsch verhindern“, was auch immer das bedeuten soll. Solche Phrasen wirken halt nur, wenn man sich da was durnter vorstellen kann. Nach 4 Jahren Faschisten im Parlament scheint die Bevölkerung das Narrativ nicht zu fressen.

    Off-Topic: Kevin Kühnert hat gestern ein AMA im deutschen unterlases gemacht. Das war interessanter, als alles Andere bisher in diesem Wahlkampf. inkl. Rücktrittsankündigung, sollte es noch mal eine GroKo geben:
    https://www.reddit.com/r/de/comments/pp8hd2/ich_bin_kevin_k%C3%BChnert_spdpolitiker_ama_part_ii/

  2. „Mit einem Vorurteil sollte man zunächst aufräumen: Dass Inhalte den Wählerinnen und Wählern völlig egal sind und es nur auf die Person ankomme. Das stimmt nicht.“

    Korrekt, für Wahlkämpfe aber kaum relevant. In denen geht es nämlich nur am Rande darum, die Leute von der Relevanz der eigenen Themen zu überzeugen – vor allem muss man diejenigen, die deren Relevanz längst anerkennen, zur Wahl motivieren. Und das läuft nicht zuletzt über das Personal.

    Die Linkspartei etwa hat immer noch ein Wählerpotential von 20 Prozent, steht aber in Umfragen bei 6 Prozent. Sie kann ihr Potential nicht ausschöpfen, weil Wissler und Bartsch als Spitzenpersonal Gysi, Wagenknecht oder Lafontaine nicht ersetzen können. Auch Laschet kann Merkel nicht ersetzen. Das schafft anscheinend eher Scholz, der als Person seiner Partei zu einem Höhenflug verhilft, ohne dass deren Inhalte sich irgendwie geändert hätten.

    Die Grünen schien lange weniger abhängig von Personen zu sein – hier hat sich die Kanzlerkandidatur eher als Dämpfer entpuppt. Aber was will man machen, wenn man sich ums Kanzleramt bewirbt? (Und ob Habeck es besser gemacht hätte, ist letztlich Spekulation).

    Was den Wahlkampf als Ganzes betrifft, sollte man nicht in Nostalgie verfallen. Ich habe mir mal Plakate aus früheren Kampagnen angeschaut. Hier ein zufälliges Beispiel aus der zauberhaften alten Zeit (i.e. 1969):

    CDU: „Auf den Kanzler kommt es an“
    SPD: „Wir schaffen das moderne Deutschland“
    FDP: „Wir schneiden die alten Zöpfe ab“
    CSU: „Entschlossen die Zukunft sichern“

    Mehr Inhalt? Naja…

  3. Spannender Artikel. Hier jedoch übertrieben, es gibt auch noch normale Retweets und die sind mindestens gleichhäufig:
    > schließlich wird in den digitalen Empörungsdynamiken ein fremder Beitrag niemals ohne persönliche Bewertung (hier zu 98 Prozent Spott) weiterverbreitet.

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