Neue Reinhard-Mohn-Biographie

Bertelsmann klittert schon wieder die eigene Geschichte

Das „blaue Sofa“ im Theater Gütersloh
Das „blaue Sofa“ im Theater Gütersloh Foto: Bertelsmann

Es war an einem Abend Anfang Juni in Gütersloh, als eine neue Legende über Reinhard Mohn in die Welt kam. Hier, in der Bertelsmann-Zentrale, saß die Schriftstellerin Amelie Fried und interviewte Thomas Rabe, den Vorstandsvorsitzenden des Konzerns, und den Historiker Joachim Scholtyseck.

Anlass war ein neues Buch: „Reinhard Mohn. Ein Jahrhundertunternehmer“. Erschienen bei Penguin Random House, dem Buchverlag des Medienimperiums Bertelsmann. Ein Geburtstagsgeschenk des Konzerns an sich selbst: Am 29. Juni wäre der Patriarch 100 Jahre alt geworden. Dementsprechend die Neuerscheinung: großformatig, schwer, leinengebunden. Ein Fotoband mit Texten, den man sich auf den Couchtisch legt.

Das Veröffentlichungs-Event war groß angelegt, samt Blauem-Sofa-Talk, den die Bertelsmann-Häuser „Stern“ und RTL auf ihren Plattformen streamten, und einem eigens produzierten Podcast. Die Botschaft: Dies ist das Buch, das fortan als Standardwerk über Mohns Lebenswerk gelten solle. Autor Scholtyseck zeige Mohn in „neuem Licht“, steht auf der Rückseite.

Bücherstapel „Reinhard Mohn - ein Jahrhundertunternehmer"
Das neue Standardwerk Foto: Bertelsmann

Ein neues Märchen entsteht

Doch „neu“ ist an diesem Blick nichts – im Gegenteil. Das Buch verklärt das Vermächtnis von Reinhard Mohn, statt es zu erklären.

Die Fakten über Mohns zweifelhafte Rolle in und nach der Nazizeit sind seit Jahrzehnten bekannt. Die profane Geschichte, die das Buch erzählt: Nach dem Krieg schuf er aus einem Provinzverlag einen internationalen Medienkonzern, den größten in Deutschland und Europa. Das Jubiläum dient Bertelsmann als willkommener Anlass, eine heroische Geschichte über den 2009 verstorbenen Unternehmer in die Welt zu setzen. Eine, die Insider und kritische Zeitzeugen erstaunt.

Buch und Event erzählen auch eine andere Geschichte: wie Legenden gemacht werden. Die eine ist alt und längst widerlegt: Die Mär, Bertelsmann sei in der NS-Zeit ein Widerstandsverlag gewesen. Sie hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg 50 Jahre lang gehalten – obwohl Reinhard Mohn selbst und enge Mitarbeiter es besser wussten.

Die andere ist neu und taucht an jenem Abend auf dem Blauen Sofa auf: Es ist die Legende von Reinhard Mohn, dem Oberaufklärer. Mohn, der einst eine unabhängige Ermittlung in Gang gesetzt und damit jene alte Legende vom Widerstandsverlag entzaubert habe. Im Buch ist beides knapp erwähnt: dass Mohn die Saga vom Widerstandsverlag lange mitgetragen und die Aufklärung um die Jahrtausendwende vorangetrieben habe.

Und so saß die Autorin Amelie Fried auf dem Podium und sagte: Mohn habe 1998 eine „unabhängige Studie“ zur Rolle von Bertelsmann während der Nazizeit „in Auftrag gegeben“, „weil es ihm offenbar sehr wichtig war“. Sie schob nach: „Was hat ihn da angetrieben?“.

Joachim Scholtyseck bei der Buchpräsentation
Joachim Scholtyseck bei der Buchpräsentation

Autor Joachim Scholtyseck ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Bonn, seit seiner Studie „Der Aufstieg der Quandts“ von 2011 gilt er als Fachmann für Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit. Dieses neue Buch sei zwar im Auftrag von Bertelsmann entstanden, aber eine unabhängige Arbeit, betont er, nicht autorisiert.

Scholtyseck antwortete Fried, seine Recherchen im Unternehmsarchiv hätten gezeigt: Mohn habe entschieden – wenn er auch die NS-Zeit mitunter nicht genug hinterfragt habe – es brauche „brutale Transparenz, brutale Offenheit“. Sein Wunsch sei gewesen, dass das Projekt jemand „extern“ übernehme, sonst habe das „ein Geschmäckle“: „Er hat das alles voll unterstützt.“

Wie die Aufklärung begann

Nur: Für Reinhard Mohn war die Aufklärung keine Herzensangelegenheit. Er hat auch nicht 1998 die externe, unabhängige wissenschaftliche Aufklärung angestoßen. Stattdessen hatte er selbst an der Lüge mitgestrickt. Und als Mitte der 1980er erste Zweifel aufkamen, deckte er sie noch ein weiteres Jahrzehnt. Da Bertelsmann nun aktuell eine neue Runde Geschichtsklitterung einläutet, lohnt es sich, den Hintergrund hier noch einmal ausführlich zu erzählen.

Alles kam ins Rollen, als der designierte Vorstandsvorsitzende Thomas Middelhoff 1998 vor 350 Gästen einer jüdischen Organisation im New Yorker Waldorf Astoria die „true story“ darüber erzählte, wieso Bertelsmann gegen Ende der Nazizeit geschlossen wurde: wegen seines kritischen Verlagsprogramms. „We had been publishing books that were banned by the Third Reich as subversive. Bertelsmann’s continuing existence was a threat to the Nazi attempt to control freedom of expression“. Weil es ein Widerstandsverlag war, so die Legende. Nicht wegen illegaler Papierbeschaffung und „Mobilmachung“.

Ein paar Monate danach die Gegenrede: Der Düsseldorfer Soziologe Hersch Fischler warf Bertelsmann in der Schweizer „Weltwoche“ vor, die eigene Geschichte zu verfälschen: Vielmehr habe Bertelsmann mit den Nazis kooperiert und Kriegsliteratur verlegt.

Als sich die Kritik mehrte, setzte Bertelsmann im Dezember 1998 eine Historiker-Kommission unter Leitung des israelischen Historikers Saul Friedländer ein. Vier Jahre später legte das Team aus zwölf Historiker:innen seinen Abschlussbericht vor. Er bestätigte Fischlers Vorwürfe nicht nur, er übertraf sie noch: „In der volksmissionarischen Bewegung verschwammen die Grenzen zwischen theologisch-kirchlicher Apologetik und Parteinahme für das Dritte Reich,“ heißt es im Schlusskapitel. Man habe „mit den zuständigen Stellen der Wehrmacht und des Propagandaministeriums“ damals „weitgehend komplikationslos” zusammengearbeitet.

Von wegen Widerstandsverlag

Der Bericht beschreibt ausführlich, was Reinhards Vater Heinrich nach dem Krieg unternahm, weil die Verlagslizenz in Gefahr war, die Grundlage für Bertelsmanns Fortexistenz und Aufstieg. Mit einem Wirtschaftsprüfer entwarf er jene Legende vom „Widerstandsverlag“, etwa indem beide die Massenproduktion von NS-Literatur für die Wehrmacht und die antisemitischen Bücher kleinrechneten und stattdessen unbedenkliche Titel in den Mittelpunkt stellten.

Als es 1947 darum ging, auch eine Lizenz als Zeitschriftenverlag zu bekommen, zeichnete Sohn Reinhard den Antrag ab, so das „Wall Street Journal“, und überbrachte ihn den Besatzungsbehörden. Ein Dokument, das ihn wie kein zweites mindestens als Mit-Wisser der Legende zeigt. Obendrein gab Vater Mohn wegen seiner Mitgliedschaften in NS-Organisationen die Verlagsführung an Sohn Reinhard ab. Tochter Ursula schied wegen ihrer NSDAP-Parteimitgliedschaft ebenfalls aus. Sobald die Lizenz gesichert war, ernannte Reinhard Mohn den Vater zum Generalbevollmächtigten und holte seine Schwester zurück in den Gesellschafterkreis. Beides verschweigt das neue Buch.

Die Schlussfolgerung der Historiker-Kommission war deutlich:

„Die bei den Deutschen seit Kriegsende sich ausbreitende Neigung, in erster Linie sich selbst und die eigene Nation als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft zu sehen, fand bei C. Bertelsmann ihren Niederschlag in einer Selbstdeutung, die jede kritische Reflexion über die Funktion des Verlags und seiner Publikationen oder über das Verhalten seiner Führungskräfte im Dritten Reich ausschloss.“

Thomas Middelhoff is not amused

Einer, der sich nun über die neu aufgelegte Legende von Reinhard Mohn als Aufklärer wundert, ist kein anderer als Thomas Middelhoff. Fragt man ihn, ist die Existenz jener Kommission selbst Ausdruck davon, wie unterschiedlich gründlich man bei Bertelsmann die Geschichte des eigenen Hauses aufklären wollte. Ob Friedländers Einsatz Reinhard Mohns Idee gewesen sei? „Das ist ein Witz, Frechheit!“, sagt Middelhoff. „Eine neue Legende.” Er, Middelhoff, habe den Historiker Saul Friedländer gebeten, die Firmengeschichte aufzuarbeiten. Auch das ist eigentlich seit 20 Jahren bekannt.

Er sei damals skeptisch geworden, als der damalige Pressesprecher Manfred Harnischfeger im Zuge der Fischler-Debatte versucht hatte, weitere Aufklärung zu behindern, und bei ARD und ZDF intervenierte (wie Medienforscher Volker Lilienthal und die ARD-Sendung „Monitor“ damals berichteten). „Ich gehe davon aus, dass er das mit [Reinhard Mohn] abgestimmt haben muss“, schreibt Middelhoff uns in einer Email. Zudem habe Harnischfegers Abteilung ihm damals die Mohn-Legende in die New Yorker Rede geschrieben. Als er sich mit Hersch Fischler persönlich traf, habe er Zweifel an der von Mohn autorisierten, firmeneigenen Darstellung bekommen.

Deswegen, erklärt Middelhoff, habe er daraufhin beschlossen, Friedländer anzufragen, ihm komplette Unabhängigkeit zugesichert. Im Vorstand habe er einen Beschluss dazu herbei geführt und den Patriarchen vor vollendete Tatsachen gestellt: „Reinhard Mohn fand es unsäglich, dass ich damals die unabhängige Kommission ins Leben gerufen habe. Das hat er mir sehr übel genommen“ – dennoch habe Mohn den Beschluss mit abgezeichnet.

Alle wussten es und haben geschwiegen

Auch ohne Middelhoffs Ausführung steht fest: Mohn wollte – anders als Joachim Scholtyseck und Bertelsmann das heute darstellen – keineswegs eine umfassende unabhängige Aufarbeitung. Zweifel an der Legende vom Widerstandsverlag waren damals intern längst bekannt. In der Festschrift, die 1985 zum 150-jährigen Bestehen des Konzerns erschienen war, hieß es: Der „braune Ungeist“ habe dem Verleger Heinrich Mohn, Reinhards Vater, „nichts anhaben“ können.

Bei der Vorbereitung war der Kommunikationschef Harnischfeger auf Dokumente gestoßen, die der Legende vom Widerstandsverlag widersprachen. Er habe angeordnet, Widersprüche und Lücken zu ignorieren, erzählte er 2002 dem „Wall Street Journal“ – um den Redaktionsschluss nicht zu gefährden: „Wir entschieden uns, nichts zu verfälschen, sondern zu schreiben, was wir wussten“, sagte Harnischfeger, und „wegließen, was wir nicht wussten“. Mit im Boot damals: der umstrittene Autor Dirk Bavendamm, der einst dem „Stern“ gefälschte Hitler-Gedichte aus der Feder Konrad Kujaus andrehte und heute beim rechtsextremen „Ares“-Verlag veröffentlicht. 1998 holten Mohn und Harnischfeger ihn erneut an Bord. Er sollte Entlastendes sammeln, die interne Aufklärung in der Historiker-Kommission mit übernehmen – Saul Friedländer lehnte ab.

Reinhard Mohn hat selbst kein erkennbares Interesse an der Arbeit der Historiker gezeigt; er nutzte die Aufarbeitung lediglich, um die unternehmerische und gesellschaftliche Rolle seiner Familie zu festigen. Im Mohn-Portrait auf bertelsmann.de steht auch heute nichts von den Erkenntnissen der Kommission über seine fragwürdige Rolle in der Nachkriegszeit. Mohn selbst hat bis zu seinem Tod nie dazu Stellung genommen.

Warum ich mich wundere

Ich habe den ganzen Prozess miterlebt. Denn ich habe Ende der 1990er schon dazu recherchiert. Ich saß an einem Buch über „Die Mohns“, ging der Sache zudem als Reporter der „Berliner Zeitung“ nach. Ich war dabei, als Thomas Middelhoff 1998 in New York jene Ur-Lüge wiederholte. Ich wollte wissen, wie jene Legende vom Widerstandsverlag entstand, wie Bertelsmann die Aufklärung behinderte, wie die Historiker-Kommission arbeitete. Ich sprach mit Beteiligten und Verantwortlichen. Ich sah Dokumente ein, die belegten, wie Mohn mit an der Legende strickte, Bertelsmann sei ein Widerstandsverlag gewesen.

Und ich weiß, wie stark die Gegenkräfte waren. Wiederholt drängte Harnischfeger meinen Chefredakteur bei der „Berliner Zeitung“ – die damals Gruner + Jahr (und damit Bertelsmann) gehörte – er solle meine Recherchen zu den Vorwürfen beenden: Ich sei mit Fischler einem „Fanatiker“ aufgesessen. Doch ich berichtete weiter.

Auch Siegfried Lokatis wundert sich. Der Historiker und Fachmann zu Verlagsgeschichte im Dritten Reich hat auch jene Kontroverse um Bertelsmann, die 1998 begann, verfolgt und in der NZZ kommentiert. Dass ein neues Buch Reinhard Mohn nun als Aufklärer inszeniert, verblüfft ihn: Bertelsmann habe sich „selbstverständlich nur unter äußerstem Zwang“ daran gemacht, zur Jahrtausendwende die eigene Vergangenheit im Nationalsozialismus aufzuklären.

Bis heute, betont er, bleibe jedoch die spannendste Frage leider vollkommen ausgeblendet: die nach den personellen, strukturellen und das Verlagsprogramm betreffenden Kontinuitäten in der Frühzeit der Bundesrepublik. „Weil für diese Dinge natürlich Reinhard Mohn verantwortlich zu machen gewesen wäre.“

Und keiner schaut mal kritisch drauf

Für Bertelsmann hat sich das Ganze schon jetzt gelohnt: Der Prachtband über den „Jahrhundertunternehmer“, geschrieben von einem renommierten Historiker, reüssierte kritiklos in der Presse. Obwohl die Vorgeschichte einst überall stand. Die geschönte Geschichte landete auf einer ganzen Seite in der „Süddeutschen Zeitung“ – Joachim Käppner, ein promovierter Historiker, gab die neue Legende von der Buch-Vorstellung wieder: Mohn als Chefaufklärer. Im Beitrag der dpa über die Neuerscheinung taucht das Wort „Nazizeit“ nicht einmal auf. Auf die Frage, was Mohn ausgemacht habe, antwortet Scholtyseck der Agentur: Das besondere an dessen Unternehmenskultur sei „die Idee der Delegation von Verantwortung” gewesen.

Und die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ brachte gleich einen unkommentierten Vorabdruck des Buchs im Wirtschaftsteil. Vom „Narrativ des Wiederaufstiegs aus Ruinen“, schreibt Scholtyseck, und: „Gründungs- oder Wiedergründungsmythen“ seien „ideale Gelegenheiten“ für Unternehmen: „Bestimmte Schlüsselereignisse werden Teil der Schöpfungsgeschichte und dienen als gemeinsamer Nenner und Integrationspunkte, geradezu als sakrale Mythen zur Identifikation.“

Im Fall von Bertelsmann ist dieser Neu-Gründungsmythos auf einer Lüge aufgebaut. Eine, die Reinhard Mohn bis zu seinem Tod nicht vollständig bereinigte, obwohl eine eigens eingesetzte Kommission sie aufgedeckt hatte.

Es ist eine alte Lüge, die das PR-Buch zum 100. Geburtstag nun neu lackiert: Reinhard Mohn, der Oberaufklärer. Bittet man Bertelsmann wie Scholtyseck um Belege für diese These, verweisen sie nur auf das „unabhängige“ neue Buch über Reinhard Mohn. Man möge doch „am besten“, schreibt Scholtyseck, „einen Blick in meine vor einigen Wochen erschienene Studie“ werfen – und kopiert einen Absatz aus dem Buch in die Email. Darin finden sich Behauptungen, aber keine Belege, wie auch nicht im Rest des Buchs. Wenn das alles ist, gibt es wohl keine.

Wohl aber Indizien, die illustrieren, wie relevant das Thema für den Historiker ist: Die unabhängige Kommission von 1998 taucht auf den 224 Seiten vier Mal auf, in der Zeittafel, der Bibliographie, den Fußnoten, einmal peripher als „Studie“; Saul Friedländer nur drei Mal in den Fußnoten.

Ein Weltkonzern, der mit Büchern, Geschichten und journalistischer Glaubwürdigkeit handelt, glaubt, in einer Ära der Transparenz und Aufklärung das Recht auf eine eigene Wahrheit zu haben. Er lebt Mohns Mantra vor: Verantwortung so gründlich zu delegieren, dass niemand sie mehr finden kann.

Ein Kommentar

  1. Danke für diese akribische Recherche und Aufklärung! Es ist schade, dass sich vermeintlich renommierte Historiker für so eine PR-Kampagne hergeben. Und wenn niemand so genau hinschaut (wie die meisten Medien) kommt man damit durch und hat ein neues firmeneigenes Heldennarrativ

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