„Zeit“-Serie „Kontoauszug“

Gesprächstherapie für Privatversicherte

Neulich stolperte ich beim Durchscrollen meines Facebook-Feeds über eine Zeile, die catchier nicht sein könnte. „Ich habe eine Million Dollar in Krypto-Währung angelegt“, steht da. Wow, denke ich, das will ich auch. Der Link führt zu einem Artikel der „Zeit“, also zumindest kein Spam. Ich klicke drauf.

„Nils, 33, arbeitet im Silicon Valley als Softwareentwickler und verdient 17.160 Euro im Monat. Seitdem er volljährig ist, handelt er mit Aktien – für sich und für andere“, steht im Teaser. Mega für Nils, denke ich. Und das während der Corona-Pandemie. Ein richtiger Gewinnertyp.

In der „Zeit“-Serie „Kontoauszug“ werden Protokolle veröffentlicht, die zeigen, wie es bei den Menschen um ihren Job bestellt ist. Und um ihr Geld. Im Fall von Nils um sehr viel Geld.

Schlagzeilen aus der Serie "Kontoauszug" von Zeit Online
Screenshots: Zeit Online

Ich gucke mir die neuen Folgen der Serie an und komme aus dem Staunen nicht mehr raus. „Ich spare 1.250 Euro pro Monat in verschiedenen Fonds“, heißt es da. Cool. Ich scrolle weiter. „Unser Haus wird mal eine Million wert sein.“ Eine Million Euro? Nicht schlecht! Nächster Eintrag: „Ich zahle mir pro Monat bis zu 5.000 Euro aus.“

Ich denke nach und ändere meine eben geschriebene Erklärung um. Richtig muss es heißen: In der „Zeit Online“-Serie „Kontoauszug“ werden Protokolle veröffentlicht, die zeigen, wie es bei sehr sehr wohlhabenden Menschen in diesem Land um ihren Job bestellt ist. Ja, so ist es besser!

Wobei, das klingt irgendwie neidisch. Also nochmal. In der „Zeit Online“-Serie „Kontoauszug“ werden Protokolle veröffentlicht, die zeigen, wie es bei Freunden von „Zeit“-Redakteur*innen um ihren Job bestellt ist. Ja, das trifft es am besten, denke ich, und stöbere weiter.

Schnell schießt mir eine Frage in den Kopf: Welche Gesellschaft soll das abbilden? Kenne ich nur arme Würstchen, oder warum ist das alles so weit weg von meiner Lebensrealität? Laut Statista betrug das Durchschnittsnettoeinkommen 2019 in Deutschland 2.079 Euro netto. Der Nettodurchschnitt bei den Protagonist*innen der Serie dürfte ungefähr bei einer viertel Quadrillion liegen. Ich male mir aus, wie ganz viele Dagobert Ducks in ihren Geldspeichern ein Bad nehmen, während sie sich gönnerhaft von „Zeit“-Redakteur*innen befragen lassen.

Neben dem sehr präsenten Thema Einkommen geben die Protagonist*innen der Serie noch alles Mögliche preis: Wie viel sie für ihre Hausratsversicherung zahlen (mittelviel), dass ihr kreativer, erfüllender Job ohne das Gehalt des Mannes (der sehr, sehr viel verdient) nicht möglich sei, was ihnen Sorgen bereitet (seit Corona: vieles!). Die Serie ist eine Art Gesprächstherapie für Privatversicherte – mit dem Nebeneffekt, dass anschließend abertausende Leser*innen wissen, dass Sascha, 28, Nettoverdienst 2.202 Euro, der Menschen aus Deutschland abschiebt, seine Tätigkeit nicht so sehr an sich heranlassen darf, sonst könnte er in seinem Bereich nicht lange arbeiten.

847 Euro über dem Durschnitt

Im Jahr 2020 lag das Nettoeinkommen der Protagonist*innen der Serie bei 2.926 Euro und damit 847 Euro über dem Nettoeinkommen im Jahr 2019, also vor der Coronakrise. Obwohl für das Jahr 2020 noch keine Zahlen vorliegen, ist anzunehmen, dass das Durchschnittseinkommen im Gegensatz zum Vorjahr gesunken sein dürfte. Stichwort Kurzarbeit.

2019 lag das durchschnittliche Einkommen der Serie nur bei 2.177 Euro, läppische 98 Euro über dem Durchschnitt und spätestens jetzt ist das doch ganz klar keine Geschichte mehr. Die Geschichte ist totrecherchiert, wer jetzt noch weiterschreibt, ist ein neidischer Pedant.

Ich schreibe weiter.

Die reiche Großtante

Denn guckt man sich die Protokolle genauer an, wird eines klar: Geld geht zu Geld. Nicht nur, dass es bei den meisten Menschen auch während Corona halbwegs läuft, auch profitiert eine kaum zu unterschätzende Zahl der abgebildeten Menschen von der eigenen Sippschaft. „Vor Kurzem hat mir meine Großtante, die recht viel Geld hat und nicht weiß, wohin damit, einfach 10.000 Euro überwiesen“, sagt Thomas, 32, dankbar. Wer kennt sie nicht, die Tante, die von Pein geplagt, schlaflose Nächte zeichnen ihre Augen, nicht weiß, wie sie ihr Geld loswerden soll?

Nina, 47 Jahre alt, Tierärztin verdient zwar nur 1.600 Euro brutto (Titelzeile: „Unser Haus hat 750.000 Euro gekostet“), taugt durch ihren Mann („Mein Mann verdient deutlich mehr als ich“) aber nicht so richtig zur Geringverdienerin.

Vielleicht ist Jan, 32, ein besserer Armer. Wobei: Jan ist promovierter Physiker, verdient zwar nur 410 Euro, lese ich, aber anstatt in die Wirtschaft zu gehen („Das wären Jahresgehälter von 50.000 Euro oder mehr gewesen“) lebt er von Erspartem (jetzt nur noch 13.000 Euro, vorher 16.000) und verwirklicht sich selbst.

Eine sehr deutsche Serie

Apropos Nina, Jan und Sascha – liest man sich die Leidensgeschichten der oberen Mittelschicht durch, wird klar: So divers wie diese Serie ist sonst nur die WDR-Sendung „Die letzte Instanz“. Anders ausgedrückt: Deutscher als „Kontoauszug“ ist nur noch der Autor dieses Textes, der sich alle Protagonist*innen von 2019 und 2020 vornimmt, um zu beweisen, dass diese Serie ein Diversitätsproblem hat.

Im Jahr 2019 lassen sich mit sehr viel gutem Willen neun Namen finden, die auf eine andere Einwanderungsgeschichte als von Hamburg nach Niedersachsen schließen lassen, 2020 sind es nur noch drei Namen. Drei von 50 – eine Quote von sechs Prozent. Klar, Nils kann genauso gut Besitzer eines kapverdischen Passes sein – die Tendenz aber wird klar.

So richtig aussagekräftig ist dieses Namen-Ding allerdings noch nicht. Hat sich die „Zeit“-Redaktion zur Europawahl doch als Schmankerl ausgedacht, Gehaltsprotokolle von Menschen außerhalb Deutschlands zu veröffentlichen (die das durchschnittliche Nettoeinkommen der Serie in 2019 ultra doll nach unten gedrückt haben, danke für nichts!)

Frauen, Genderpaygap, immer weiter

Wo wir schon mal dabei sind. Wie ist es eigentlich um die Darstellung von Frauen bestellt? 2020 waren von 53 Kontoauszügen nur 20 von Frauen (36 Prozent), 2019 nur 18 von 53 (33,9 Prozent). Nur ein Drittel der Protagonist*innen sind Frauen, dabei leben in Deutschland eine Million mehr Frauen als Männer.

Womit wir beim Genderpaygap sind: Mein sehr spät erwachtes Analystenherz macht einen doppelten Vorwärtssalto. Nicht wegen des Ergebnisses, sondern weil ich einem Zahlenrausch anheimfalle, der meiner Mathematiklehrerin von damals vor Schreck die Kaffeetasse aus der Hand geschleudert hätte. Im Jahr 2019 verdienten Frauen in der Serie 590 Euro weniger als Männer. Der Genderpaygap der Kontoauszüge liegt bei 24,7 Prozent, während der Genderpaygap in Deutschland bei 19 Prozent liegt.

Man kann das natürlich ewig so weiterführen, bis die letzte Leserin dieses Textes auf ihrem eigenen Kontoauszug eingeschlafen ist. Oder man kürzt es ab: Die „Zeit“ ist nun mal keine proletarische Arbeiterpostille, sondern eine Wochenzeitung, die für das distinguierte Drittel unserer Gesellschaft schreibt. Ein Bollwerk der Eleganz gegen die Verkommenheit des Gewöhnlichen.

„Zeit“-Leser haben mehr

„Zeit“-Leser*innen, so lautete es 2020 bei Statista, haben ein Haushaltsnettoeinkommen von durchschnittlich 4.104 Euro im Monat. Insofern kommt man im Hamburger Helmut-Schmidt-Haus dem deutschen Nettolohn bei der Abbildung der Kontoauszüge sogar um mehr als 1.000 Euro entgegen.

Man muss seinen Leser*innnen ja auch etwas gesellschaftliche Realität bieten. Und ein bisschen Grusel: den drohenden sozialen Abstieg.

Nur sieht dieser Abstieg bei der Serie eben anders aus als in der grauen Realität. Besser als Christoph, 29, Integrationsmanager in einer baden-württembergischen Kleinstadt, bringt das niemand auf den Punkt: „Manchmal möchte ich weinen, wenn ich meinen Kontostand betrachte, aber das Leben ist halt teuer“, sagt er (Nettoeinkommen 2.074 Euro „plus die schwankenden Zusatzeinnahmen als externer Deutschprüfer“).

Der Sommer, die Reisen, die Festivals, das alles hinterlässt Spuren auf Christophs Konto („Im November 2018 hatte ich zusammengerechnet insgesamt knapp 2.700 Euro auf allen meinen Konten, im Juli 2019 sind es 2.400“), das wie kein zweites zeigt, woran der Durchschnittsdeutsche leidet: Man kann in den Urlaub fliegen bis man grün wird, am Ende befindet sich immer noch so viel Geld auf dem Konto, wie einem Hartz-4-Bezieher für den Zeitraum eines halben Jahres zusteht.

6 Kommentare

  1. Danke für die launige Zusammenfassung. Sehr lustig! Ich konnte die »Kontoauszug«-Kolumne noch nie leiden.

    Trivia: Das wahnsinnig teure ZEIT-Print-Abo musste ich 2005 kündigen, als zwei meiner drei Kinder gleichzeitig ein neues Fahrrad brauchten. Gut, ich hätte sagen können: »Hey, 72/73 hat euer Vater auch kein Bonanzarad bekommen.« Aber meine Kinder sollten es ja mal besser haben als ich. Wir hatten ja damals praktisch nix.

  2. Ein Blick in den Stellenmarkt der Zeit: nur Akademiker.
    Mechaniker und Pflegekräfte sind nicht die Zielgruppe….

  3. Die Zeit (wie auch die Süddeutsche) bieten bezeichnenderweise verbilligte Abos nur für Studenten an, nicht für Azubis. Ist vielleicht schon ein gewisser Hinweis darauf, an wen sie sich richten.

  4. Und erst wenn jede Quote erfüllt, jeder Durchschnitt erreicht und jede statistische Anomalie bezwungen ist, werdet ihr feststellen, dass die die Realität keinen Mittelwert kennt.

  5. Um richtig woke denken zu können, sollte man keine Geld- und Arbeitsplatzsorgen haben. Die ZEIT ist das Wohlfühlblatt der besserverdienenden Bestmenschen geworden. Helmut Schmidt hat es gut. Er ist tot.

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