„Siegener Zeitung“

Haben Sie Verständnis für solche Umfragen? Gut 100 Prozent sagen: Nein!

Das war doch mal bundesweite Aufmerksamkeit, wie sie die „Siegener Zeitung“, ein konservatives Lokalblatt aus Südwestfalen, sonst eher selten bekommt. Der ehemalige Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen verbreitete auf Twitter das Ergebnis einer Online-Umfrage der Zeitung. Dass die nicht viel aussagt, war Maaßen offenbar unwichtig. Das Ergebnis zählt.

Bevor die Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen am Dienstag abermals über den Corona-Lockdown beriet und sich abzeichnete, dass er noch mal verlängert würde, fragte das Lokalblatt seine Leserinnen und Leser:

„Sind Sie für oder gegen eine Verlängerung des Lockdowns?“

Am Mittwoch präsentierte sie dann das Ergebnis, aufbereitet in einem eigenen Artikel. Überschrift: „Mehrheit gegen Lockdown-Verlängerung“. Und das machte dann gleich die Runde. „Mehrheit“ dagegen, das knallt doch.

Was für eine „Mehrheit“ das ist, steht da nicht. Die Dachzeile weist aber bereits darauf hin, dass es sich um eine „nicht-repräsentative Umfrage“ handle. Medien erzählen dann gerne etwas von einem so genannten „Stimmungsbild“, auch hier: „Stimmungsbild vermittelt klare Richtung“, schreibt die „Siegener Zeitung“. „81,26 Prozent“ seien „gegen eine Verlängerung aller Maßnahmen – mit der Begründung ‚Ein Lockdown bringt nichts'“.

Ergebnis-Grafik der „Siegener Zeitung“ Screenshot: Siegener Zeitung

Das ist ein eindeutiges Ergebnis, auf den ersten Blick – und eine sehr pauschale Begründung, die die „Siegener Zeitung“ gleich mitgeliefert hatte. Insgesamt gab es fünf Antwortmöglichkeiten – und die schließlich am häufigsten gewählte Antwort, die sich rundum gegen „alle Maßnahmen“ richtet, ist die einzige, bei der die Zeitung eine Begründung vorgegeben hatte:

„Ich bin gegen eine Verlängerung aller Maßnahmen. Ein Lockdown bringt nichts.“

Das ist natürlich Murks und kann Leser*innen bereits in eine Richtung lenken. In repräsentativen Umfragen, etwa im Auftrag der dpa oder des „Spiegels“, sieht das Ergebnis auch ganz anders aus. Dort ist eine Mehrheit für einen längeren Lockdown.

Überraschung: Kein Verständnis

Auch andere Umfragen der „Siegener Zeitung“ sind eher unseriös. „Haben Sie noch Verständnis“, fragte die „Siegener Zeitung“ Mitte Oktober. Gemeint war: Verständnis für die Corona-Regeln. Der Text zur Abstimmung ist mit einem Symbolfoto dekoriert, auf dem einer Frau lauter Paragraphen um den Kopf schwirren. Anscheinend verzweifelt vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen.

Verständnis-Umfrage Screenshot: Siegener Zeitung

Der Text beginnt dann so:

„Corona-Regeln hin, Corona-Regeln her. Lockdown hoch, Lockdown runter. Anspannung, Entspannung, Zuspitzung. Risikogebiet und Reisewarnung, Kehrtwende, Rückwende, Entwirrung und Verwirrung. Die Zahlen der Corona-Neuinfektionen steigen wieder – und damit auch das Durcheinander im Kopf“.

Es falle deshalb schwer, „den Überblick über aktuell geltende Regeln zu behalten“, bekräftigt die „Siegener Zeitung“ noch mal. „Bei vielen Menschen multipliziert das, mehreren Umfragen folgend, Unverständnis.“ Und dann sollen die Leute ganz unbefangen sagen, ob sie „Verständnis“ haben? Nee.

Nach Angaben der Zeitung wurden 1.078 Stimmen abgegeben, 845 davon (78,39 %) für die letzte Antwort, in der es dann plötzlich um „Freiheiten“ und einen „Normalzustand“ geht:

„Nein, ich habe meine Freiheiten jetzt lange genug eingeschränkt. Langsam sollte der Normalzustand wieder angestrebt werden.“

Alles komplett tendenziös.

Chefredakteur Vogt: „Von großem Interesse“

Die „Siegener Zeitung“ hält diese Art von Publikums-Befragung trotzdem für ein probates Mittel. „Online-Umfragen sind auch für uns ein beliebtes Instrument“, schreibt Chefredakteur Markus Vogt auf Anfrage von Übermedien:

„Wir setzen diese bei Themen ein, die unsere Leser bewegen, bieten ihnen damit ein zusätzliches Instrument, ihre Meinung punktuell zu artikulieren. Das ist für unsere Leserschaft von großem Interesse. Die Beiträge haben regelmäßig hohe Lesewerte. Nicht nur bei uns.“

Wie ausnahmslos gefragt diese Umfragen beim Publikum der Lokalzeitung sind, zeigen etwa die Ergebnisse zu der Frage, ob man Weihnachten 2020 „weniger direkten Kontakt“ plane – mit 87 Stimmen. Oder die, in der die SZ wissen wollte, ob sich durch Corona das Kochverhalten geändert habe – mit 33 Stimmen. Oder die, in der es darum ging, ob Weihnachten ohne Weihnachtsbaum okay ist – mit 23 Stimmen. Aber das lag bestimmt bloß an den Fragen.

Anders ist das natürlich bei Themen, die ohnehin breit diskutiert werden. Da ist die Beteiligung meistens größer. Und dass dort Antworten vorne liegen, die sich gegen etwas aussprechen, ist ebenfalls kein Wunder. Wer aufgebracht ist, stimmt eher bei solchen Umfragen ab. Und wenn sie in Schrei-Foren wie Facebook oder Telegram geteilt werden, kann das dazu führen, dass ein Meinungsspektrum die Umfrage letztlich dominiert. So viel zur Aussagekraft.

Manipulation „in einem Fall“

Sie hätten sich redaktionell „klare Regeln“ gegeben, schreibt Chefredakteur Vogt. Ein Mehrfachvoting einer Person „versuchen wir durch IP-Identifizierung zu verhindern“. Mit der Betonung auf: versuchen. Manipulation sei „bei Vorsatz niemals ausgeschlossen“. In bisher einem Fall habe man Manipulation „vermutet“ und „dann nicht berichtet“. Aber die „Siegener Zeitung“ hält dennoch fest an diesen Umfragen. Andere Medien machten sowas ja auch.

(Wie Meinungsäußerungen auf Facebook, wo man offenbar in den Kommentaren abstimmen soll, mit jenen auf der eigenen Seite verrechnet werden, erklärt die Zeitung auf unsere Anfrage übrigens nicht.)

„Bei den Votings muss der Leser transparent nachvollziehen können, auf welcher Basis diese durchgeführt wurden, dass sie keinesfalls repräsentativ sind“, schreibt Vogt. Dies sei für die Glaubwürdigkeit unabdingbar. Außerdem habe er „die Redaktion aufgefordert, wenn möglich die Ergebnisse der Meinungsabfrage für den Leser einzuordnen“, entweder „in einem nachrichtlichen Stück, oder/und in einem Kommentar“. Aber hilft das?

Eine Zeitung, die sich angeblich noch was traut

Problematisch sind solche Umfragen ja auch, weil sich manche Leute nicht darum scheren, ob sie glaubwürdig sind. Obwohl es sich nicht um repräsentative Ergebnisse handelt, werden sie als vermeintliches Indiz genommen für einen Trend in der Gesamtbevölkerung. Und für die, die mit den Ergebnissen wiederum Stimmung machen, gilt so ein Lokalblatt dann als mutig, als eine Zeitung, die sich traut, so klare Ergebnisse zu veröffentlichen – obwohl sie sich ja gegen das Regime, pardon, die Regierung richten.

Henning Zoz etwa, der im September für die AfD als Oberbürgermeisterkandidat in Siegen antrat, zollt der „Siegener Zeitung“ Respekt für ihren angeblichen Mut – und behauptet zugleich, sie hätte kürzlich eine Umfrage zum Thema Impfen vorzeitig beendet, „offenbar, um den Ansprüchen der Regierenden gerecht zu werden und eben nicht ein unbequemes Ergebnis abliefern zu müssen“. Chefredakteur Vogt widerspricht: Gerade diese Umfrage sei länger gelaufen als jede andere, „insgesamt 19 Stunden“.

Das ist dann auch der Preis: Dass man solche Spekulationen über ohnehin dubiose Umfragen anschließend wieder einfangen muss. Und das alles für ein „Instrument“, das lediglich dem Zweck dient, einfach Inhalte zu generieren, die Aufmerksamkeit bescheren, zum Beispiel die von Hans-Georg Maaßen.

10 Kommentare

  1. Die Ergebnisse solcher Umfragen sagen nichts aus, sie sind nicht mal ein Stimmungsbild, das aussagekräftig für irgendwas sein könnte. Medien, die solche Umfragen starten, berichten anschließend über völligen Bullshit, behaupten aber, dass das für irgendwas stehe. Genauso wertlos wie Horoskope. Leider suggerieren Zahlen den Leser*innen oft eine seriöse Aussage, die es aber nicht gibt. Wer sich nicht auskennt, ist nicht zu überzeugen, dass das null Aussagekraft hat. So wie Maaßen.

  2. @Stefan Fries
    Ich denke, Sie sind gegenüber der Moral von z.B. Maaßen zu gutmütig. Diese Medien und insbesondere Maaßen verstehen bestimmt sehr gut, dass die besagten „Umfragen“ keine Aussagekraft haben. Sie betreiben einfach eine Agenda und hoffen, dass andere es nicht verstehen.

  3. Wünschen Sie sich ein Ende des Lockdowns?
    a) Nein, meine Mitmenschen sind mir egal, ich lebe im Keller meiner Eltern und spiele Killerspiele, daher trifft mich das nicht.
    b) Ja natürlich! Die freiheitliche Grundordnung muss wiederhergestellt werden, die derzeitige UNrechts“Regierung“ muss bestraft werden für das Einsperren des eigenen Volkes!
    c) Pommes

  4. Meinungs- und wahlumfragen ( also die vor einer wahl, nicht exit polls, die sind meist annehmbar) haben in den letzten jahren ihren kompletten bullshitcharakter generell erwiesen. Abweichnungen von mehreren prozentpunkten zum endergebnis einer wahl sind inzwischen die schäbige norm, gerne auch je nach ausrichtung des jeweiligen auftraggebers bzw instituts. Sie sind also zu instrumenten der meinungssteuerung verkommen. Die afd-zahlen zb werden stets und fast überall zu niedrig angesetzt, wohl in der absicht, nicht noch mehr leute auf einen gut besetzten bandwaggon aufspringen zu sehen und die grünen dagegen gerne auch zweistellig da vorhergesagt, wo sie dann knapp über 5 % landen. So viel propaganda mutet man uns gerne zu. Und verlässt sich auf unser schwaches gedächtnis. nach wahlen kann man diese dokumente der ideologischen taschenspielerei aber dann immerhin als die manipulationsschande entlarven, die sie stets aufs neue sind. Bei blossen meinungsumfragen kann man das nicht. Sich lediglich die lenkende fragestellungen anschauen, die ausser im wirklich wissenschaftlichen bereich, immer vorhanden sind, denn um meinungslenkung g e h t es ja bei der veröffentlichung von umfragen. Und die art wie man zu den antworten kommt: ruft man die leute an, oder sollen sie es tun. Und wenn man sich dann noch klarmacht, dass selbst eine korrekt repräsentative umfrage mit 1000 befragten ( selten sind es ja viel mehr) im bereich um 5 % unschärfen haben m u s s, die bei fdp oder anderem kleinvieh das ergebnis komplett wertlos machen, dann ist die dreistigkeit des siegener blattes nur noch als ein besonders dämlicher versuch zu sehen, die eigene agenda dem volk zu unterstellen. Aber eben das ist fast immer der hauptzweck. Hier wird er nur offen sichtbar.

  5. „Und das dort Antworten vorne liegen, die sich gegen etwas aussprechen, ist ebenfalls kein Wunder. “

    das -> dass

  6. Vielen Dank für den Bericht Herr Rosenkranz. Mich hätte noch ein bisschen Background zur SZ interessiert. Wie berichtet das Blatt denn allgemein über die Pandemie-Maßnahmen? Sofern sich das bestimmen lässt, gibt es eine Tendenz gegen die von Bundes- bis Lokalregierung vorgeschlagenen Maßnahmen? Passt das Ergebnis der Umfrage dann gut zur Linie? Ist das Blatt eher konservativ oder links?

    Ferner würde ich in die Diskussion einbringen wollen, dass es Lokalzeitungen (wie vielen anderen privaten Medien) finanziell in den allermeisten Fällen nicht gut geht. Wenn wir also mal annehmen, dass die SZ Leser zumindest an den meisten Umfragen tatsächlich interessiert sind und Freude daran haben, diese auszufüllen, ließe sich dann nicht damit eine solche Leserumfrage rechtfertigen? Sicher nur, wenn alle Limitierungen der Umfrage auch offen deklariert werden und die Befunde entsprechend eingeschränkt berichtet werden. Im Beispiel oben sind hier ganz klar Fehler gemacht worden und das geht auf die klar Kappe der SZ. Aber wenn solche Umfragen der Blattbindung helfen, zu Abonnements motivieren und damit zum Überleben der Zeitung beitragen, finde ich, sollte genau das in einer solchen Diskussion als grundsätzlicher Vorteil abgewogen werden. Ein wenig dramatisch formuliert gibt es sonst irgendwann vielleicht diese Umfragen nicht mehr, aber die Zeitung ist dann auch weg?
    Und ohne, dass ich hier den Eindruck erwecken möchte, mich zu sehr auf die Seite der SZ zu schlagen will (siehe Frage 1, ich hab die Zeitung nie gelesen), könnte man auch die Tatsache berücksichtigen, dass man sich nie ganz und gar davor schützen kann, dass Befunden von Studien (egal welcher Größenordnung/Qualität) von anderen zu deren Zwecken instrumentalisiert werden. Wer trägt die Verantwortung für HGMs Tweet? Die SZ?
    BG

  7. @Gianno Chiaro
    Eine gewisse Tendenz zur Unterschätzung der AfD räumen die Umfrageinstitute selber ein, weil die Befragten das am Telefon offenbar nicht alle gerne so zu Protokoll geben.
    Ansonsten ist es ziemlicher Unsinn, was Sie sagen. Die Meinungsumfragen nahmen oft das Wahlergebnis ziemlich genau vorweg. Insbesondere die US-Wahl wurde im Endeffekt letztlich sehr genau getroffen. Hier ein Vergleich zur Europawahl 2019:
    https://www.wahlrecht.de/umfragen/europawahl.htm
    Also, vielleicht nicht nur nachts Bücher lesen, sondern auch mal tagsüber die Realität korrekt zur Kenntnis nehmen ;-)

    Disclaimer:
    Ich muss zugeben, dass ich zwischenzeitlich vor endgültiger Auszählung auch schon in einem Kommentar hier den Abgesang auf die US-Meinungsforscher betrieben habe. Da lag ich falsch, wie die Endergebnisse zeigen.

  8. Als reiner Diskussionseinstieg sind solche Frage ja ok, aber als Ersatz für Umfragen, die mit viel Aufwand repräsentativ gemacht werden, ist das Humbug.

    Und auch solche Umfragen liegen oft auch falsch. Aber umgekehrt liegt ein Horoskop manchmal auch richtig, und eine Uhr, die gar nicht mehr geht, zeigt zweimal täglich die richtige Zeit an. Vllt. sollte man solche Umfragen einfach auswürfeln.

  9. @Mycroft
    Ich würde behaupten, dass solche Umfragen teilweise in der Tat ausgewürfelt werden bzw. gefälscht. Wer so fragt, weiß doch schon vorher, was er hören will.

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