Robin Alexander

„Hast du manchmal das Gefühl, benutzt zu werden?“ – „Ständig.“

Als Katholik beherrscht Robin Alexander, 44, die übernatürliche Fähigkeit der Bilokation. Offenbar ist er in der Lage, zur gleichen Zeit mit Angela Merkel im Flugzeug nach New York und in einer Talkshow mit Markus Lanz zu sitzen – wo der Autor des Bestellers „Die Getriebenen“ und „stellvertretende Chefredakteur, Schrägstrich Politik“ der „Welt“ die Welt der Berliner Republik erklärt.

Treffen kann man Robin Alexander daher bestenfalls unterwegs, in unserem Fall in der Bar des „Sheraton“ am Frankfurter Flughafen. Er kommt aus Berlin und will später weiter, zu einem Termin im Taunus. Wen er dort treffen wird, will er nicht verraten. Der Journalist schützt seine Quellen. Dafür redet er im Gespräch umso offener über seinen Alltag, sein Selbstverständnis und die Konkurrenz unter Wölfen.

(Wir duzen uns, seit wir beide bei der „taz“ waren.)

Robin Alexander als Gast bei Maischberger, Lanz, Plasberg, Will.

Übermedien: Robin, du kennst bestimmt die „Die Meute“ von Herlinde Koelbl, eine Dokumentation über die spezielle Spezies der Hauptstadtjournalisten.

Robin Alexander: Ja, die finde ich super, aber den Begriff lehne ich ab.

Den Begriff der Meute?

Weil er tiermetaphorisch ist. Journalisten sprechen mit Begriffen wie „Meute“ und „Alphajournalisten“ über sich selbst, als seien sie Wölfe. Ein unbewusstes sozialdarwinistisches Selbstbild. Eigentlich gruselig, oder?

Geschenkt. Darüber hinaus trifft es doch zu, dass alle immer hinter dem selben Knochen herjagen.

Stimmt. Und wenn jemand blutet, dann hetzen alle hinterher. Das ist natürlich ein Problem, das man tatsächlich ernst nehmen muss.

Gibt es dazu ein Beispiel aus deiner Praxis?

Bis vor wenigen Monaten galt AKK als liberale Nachfolgerin, die irgendwie das aufgeklärte Erbe von Frau Merkel verteidigt und mit genialer Choreografie einen schwierigen Wahlkampf gegen Friedrich Merz, den bösen alten Mann, gewonnen hat.

Und dann?

Und dann kippte das innerhalb von sechs Wochen. Da wurde aus der gleichen Frau plötzlich die konservative Katholikin, die Witze über Geschlechter macht und Schwule nicht mag und überhaupt schrecklich ist. Das sind wirklich beides absurd überzeichnete Bilder, von denen mindestens eins nicht stimmen kann. Ich behaupte: Beide stimmen nicht.

Warum nicht?

AKK war immer gesellschaftspolitisch konservativer aber wirtschaftspolitisch linker als Merkel es je gewesen ist. Wir Hauptstadtjournalisten neigen dazu, eine Person, die neu auf der Berliner Bühne ist, radikal aus unserem Blickwinkel zu zeichnen – ohne uns für die politische Biographie davor zu interessieren. Bei Kurt Beck war es ähnlich, der war über viele Jahre ein etablierter Ministerpräsident und damit vielleicht einer von zwölf Leuten, die in der deutschen Politik am meisten bewegt haben. Aber als er als SPD-Vorsitzender in Berlin wirkte, haben wir ihn ungerechterweise beschrieben wie einen Trottel, der gar nichts kann.

Ist das nicht der Betrieb? Das übliche Geschäft, das Risiko des Politikers? Als AKK beim Karneval einen Witz über die „Toilette für das dritte Geschlecht“ gemacht hat …

… war das eine vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragene Sendung, kommentiert und moderiert von Kollegen, die nichts dabei fanden. Danach sind Menschen im Raum interviewt worden, unter anderem grüne Landespolitiker im Saarland, die alle sagten: „Toffte, toffte, unsere Annegret!“ Es sind darüber Artikel erschienen, die ihren Auftritt super fanden. Und zweieinhalb Tage später steht im Nollendorfblog ein Text von einem Autor, den ich gar nicht kenne, gegen den ich auch nichts habe, aber der erkennbar sauer auf Kramp-Karrenbauer ist.

Wegen des Witzes?

Eher, weil sie mal gegen die Ehe für alle war. Als fast alle in der CDU noch dagegen waren, by the way. Und dieser Autor schreibt sinngemäß, die Aussage von AKK sei das Schlimmste, was in Deutschland seit 1945 gesagt wurde. Was ich für eine sehr gewagte These halte. [Anmerkung der Redaktion: Tatsächlich hatte der Autor, Johannes Kram, formuliert: „Hat es das nach 1945 schon einmal gegeben, dass ein aussichtsreicher Bewerber, eine aussichtsreiche Bewerberin um das Kanzleramt so hemmungslos diese niederen Instinkte bedient?“] Ich habe nichts dagegen, dass das in irgendeinem Blog steht! Ich habe auch nichts dagegen, dass es in der „taz“ steht. Was ich aber problematisch finde: Angesicht dieser Empörung vom Rand fallen in der Mitte nun alle, alle um und beginnen mit zweitägiger Verspätung, sich ebenfalls zu empören! Es ändert also der gesamte Betrieb wegen eines einzigen Empörten seine Meinung. Und das kann nicht sein.

Soziale Medien treiben die klassischen Medien vor sich her. Was ist daran schlimm, wenn die Richtung stimmt?

Tut sie das? Nehmen wir den Fall mit Rezo. Da hält AKK im Konrad-Adenauer-Haus eine Pressekonferenz und spricht vierzig Minuten zu allen denkbaren Themen. Und ganz am Ende sagt sie: Ja, man müsse auch mal darüber nachdenken, wie man im Internet die Debatten reguliert. Im Raum sitzen fünfzig Korrespondenten. Niemand hat da rausgehört, AKK wolle eine Zensur einführen. Wir haben untereinander nach der Pressekonferenz noch gesprochen, und wirklich niemand war auf die Idee gekommen. Aber zweieinhalb Stunden später geht irgendwo ein Artikel online: „Kramp-Karrenbauer will das Internet zensieren!“ Das läuft selbstverständlich in den sozialen Medien. Und daraufhin erscheinen plötzlich überall Artikel: Kramp-Karrenbauer will das Internet zensieren! Der Korrespondent eines sehr einflussreichen Nachrichtenportals hat getwittert: Das ist falsch. Das ist eine böswillige Interpretation! Und dennoch hat auch seine Redaktion die Geschichte gebracht von den angeblichen Plänen, das Netz zu zensieren.

Und die „Welt“?

Ich habe am Newsdesk angerufen und gewarnt: „Springt nicht auf den Zug!“ Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe nichts dagegen, dass jemand die Dinge anders sieht als wir Hauptstadtjournalisten. Aber dass Medien die Einschätzungen ihrer eigenen Korrespondenten über Bord werfen, sobald im Netz eine Welle rollt? Das kann nicht sein. Und das war in beiden Fällen so.

Der Printjournalist im Fernsehen

Ist es nicht traditionell so, dass die „Welt“ den besten Zugriff auf die CDU hat?

In der alten CDU galt immer die Regel: Die „Bild“ für die Massen, die „Welt“ für das Parteitagsvolk und die FAZ für die katholischen Intellektuellen. Aber das ist schon sehr lange her und gilt nicht mehr. Unser Herausgeber Stefan Aust haut Angela Merkel regelmäßig ihre Politik um die Ohren. Unser Chefredakteur Ulf Poschardt ist auf einem sehr entschieden liberalen Ticket unterwegs. Und ich habe mein Handwerk bei der „taz“ gelernt. Wir beobachten die CDU mit der gleichen Distanz und der gleichen Faszination, wie wir die Grünen beobachten.

Kann es sein, dass du immer in irgendwelchen Kanzlermaschinen sitzt?

Naja. Sonntag fliege ich tatsächlich nach New York zum UN-Gipfel. Aber ich bin beileibe nicht der einzige Journalist. Es sind Kollegen vieler großer Medien dabei.

Robin Alexander mit Stefan Raab in „Absolute Mehrheit“

Und wenn nicht im Flugzeug, dann in der Talkshow?

Lange wurde ich nur in den ARD-„Presseclub“ eingeladen, der ja für Journalisten reserviert ist. Und dann ereilte mich 2013 der Anruf von Stefan Raab, der hatte damals eine Sendung „Absolute Mehrheit“ und fragte mich, ob ich da als Experte mitwirken wolle. Damals gab es noch absurden printjournalistischen Dünkel gegen das vermeintlich flache Medium Fernsehen. Als bekannt wurde, dass ich bei Raab mitmache, haben mich Kollegen besorgt angerufen: „Mach das nicht! Wie kannst du in dieses Witzfach wechseln!“ Es war aber super bei Raab. Er hatte mit Martin Keß und Andrej Grabowski und vielen anderen ein tolles Team, von dem ich sehr viel übers Fernsehen gelernt habe. Aber anschließend war ich jahrelang nur sporadisch im Fernsehen.

Bis zum Buch.

Ja. 2017 habe ich „Die Getriebenen“ geschrieben. Sonst ist es so: Fernsehnasen verkaufen Bücher. Hier war es anders: Die Buchnase hat zufällig im Fernsehen funktioniert. Ich hatte mich sehr lange mit der Idee getragen, etwas darüber zu schreiben, wie Merkel im ständigen Krisenmodus regiert. Lange hatte ich dabei aber an die Eurokrise gedacht und darüber auch mit meinem Verlag gesprochen. Aber anhand der Flüchtlingskrise vom Herbst 2015 bis zum Frühjahr 2016 ließen sich die gleichen Mechanismen anschaulicher schildern.

Kein heroischer Humanismus, keine „Umvolkung“

Weißt du, was du für Leser hast?

Ich habe viele Lesungen und Diskussionen überall in Deutschland gemacht.

Gibt es auch „falsche“ Leser, aus einem fragwürdigen politischen Lager?

Ich freue mich über alle Leser und habe nur Einladungen ausgeschlagen, bei denen die Gastgeber erkennbar für die AfD aktiv sind. Die Auseinandersetzung mit möglichen Kritikern meiner Thesen habe ich bewusst gesucht. Da ich den EU-Türkei-Deal scharf kritisiere, habe ich dazu eine Diskussion mit dem Vordenker des Deals, Gerald Knaus, gemacht, die vom früheren „Jungle World“- und heutigen „Spiegel“-Kollegen Tobias Rapp moderiert wurde. Mir persönlich war auch die Lesung in der Kirchengemeinde wichtig, zu der ich persönlich gehöre. Dorthin haben wir als Ko-Referent Pater Frido Pflüger eingeladen …

Einen Jesuiten?

Ja, der damalige Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Es gibt eine tiefe linkskatholische Tradition, Migrationspolitik radikal aus der Perspektive der Migranten zu betrachten. Das kann meiner Meinung nach weder eine journalistische Position noch eine politische sein, aber ich wollte mich ihr bewusst aussetzen. Aber auch auf dieser Veranstaltung waren alle absolut easy mit dem Buch.

Wer war das nicht?

Ganz Rechte haben Schwierigkeiten mit dem Buch, weil es deren Vorstellung widerspricht, 2015 sei eine „geplante Umvolkung“ gewesen. Es fremdeln andererseits auch Leute mit dem Buch, die glauben, Merkel habe eine einmalige humanitäre Entscheidung getroffen und damit die Ehre Europas verteidigt. Mein Buch zeigt ja gerade, dass es keine bewusste Entscheidung gab, weder für die Umvolkung noch für den heroischen Humanismus, sondern die Akteure eben Getriebene waren.

Hast du viel recherchieren müssen? Oder kanntest du schon die meisten Details?

Ich habe die Ereignisse als Reporter für die „Welt“ verfolgt, aber für das Buch habe ich dann ja tatsächlich alles nochmal neu aufgedröselt.

Leute angerufen, die du kanntest?

Nein, ich habe immer versucht, mich mit den Leuten zu verabreden. Ich habe noch mal im politischen Berlin die ganz große Runde gemacht. Ich habe mit fast allen persönlich geredet und auch etwas Reporterglück gehabt: Im Sommer 2016, als ich die meisten Gespräche führte, traf ich einen Moment des Aufatmens, weil das Thema damals ein wenig sackte …

Da glaubten die Verantwortlichen, reden zu können?

Ja. Sie dachten, sie sind durch damit. Ich wollte mir das von denen aber nicht historisch einordnen oder bewerten lassen, sondern habe gesagt: „Beschreiben Sie mir, wie Sie das erlebt haben!“ Und einige sind mit mir Tag für Tag durch ihre Kalender gegangen: „Ach ja, das hatte ich ja schon vergessen! Das dürfen Sie aber nicht … Und dann habe ich die Merkel angerufen, und dann haben wir so … und damals dachten …“, und so kommt diese Ereignisdichte in die Geschichte.

Merkels Erbe

Was ist deine persönliche Meinung? Ist Angela Merkel verantwortlich für den Aufstieg des Rechtsextremismus?

Es ist überhaupt nicht zu leugnen, dass die Flüchtlingskrise entscheidend dafür war, dass sich die AfD im Parteienspektrum etabliert hat. Aber man kann den Standpunkt einnehmen: Das war es wert. In einer entscheidenden Stunde muss man so und so sich verhalten, auch wenn man da sich diesen Kollateralschaden einhandelt. So, finde ich, kann man argumentieren.

Ja, das kann man.

Problematischer scheint mir hingegen Merkels Bruch mit dem alten CDU-Dogma: „Rechts von uns darf es nichts Satisfaktionsfähiges geben.“ Das verwarf sie bewusst, schon vor der Flüchtlingskrise. Die Strategie war: Wenn wir unsere Rechtsaußen wie Frau Steinbach und Herrn Gauland los werden, gewinnen wir Anschlussfähigkeit in die linke Mitte. Wenn diejenigen, die wir dafür verlieren, ganz rechts etwas Neues aufbauen, dann kann uns das sogar nützen. Denn eine Rechtspartei von fünf oder sechs Prozent zerstört die Option einer rot-rot-grünen Mehrheit, vor der sich die CDU immer gefürchtet hat. Die Frage, ob man für die Anschlussfähigkeit in die Mitte und die Zerstörung einer Mehrheitsoption der politischen Konkurrenz auch Rechtspopulismus in Kauf nimmt, hat Merkel mit Ja beantwortet. Deshalb gehört auch die AfD zu ihrem Erbe.

Unter welchem Namen ist Angela Merkel auf deinem Smartphone gespeichert?

Gar nicht.

Ruft sie manchmal an?

Sie ruft mich nicht an.

Gehört, wer im Regierungsflieger sitzt, nicht irgendwie zum Stab?

Nein. Merkel hat ein angenehm klassisches Rollenverständnis. Da gibt es nicht: „Jetzt fliegen wir mal, und auf dem Rückflug sind wir alle Kumpels und trinken ein Bier.“ Merkel redet mit Journalisten

Nicht mit Kumpels?

Ja, mir kommt das entgegen, weil es mir Spielräume der Kritik ermöglicht. Ich weiß nicht, ob Merkel Niklas Luhmann gelesen hat, aber ich denke, sie sieht die Gesellschaft nicht als soziale Gemeinschaft, sondern als Nebeneinander unterschiedliche Systeme, die nach bestimmten Regeln miteinander interagieren. In diesem Sinne: Es gibt Politiker, es gibt Journalisten. Und die werden auch nicht zu einer Gruppe, wenn sie im gleichen Flugzeug fliegen.

Wie zeigt sich das?

Andere Politiker bitten in vertraulichen Runden plötzlich: „Jetzt möchte ich mal was fragen: Was würden Sie denn jetzt an meiner Stelle machen?“ Sendungsbewusste Kollegen fangen dann an: „Sie müssen jetzt aber mal hier ….“ Solche Fragen würde Merkel nie stellen.

Eine Form der Geschichtsschreibung

Herrscht in der Nähe zur Macht nicht auch eine mächtige Konkurrenz?

Die Frage, wer die schönste Seite drei von einer Kanzlerreise schreibt, ist für den wirtschaftlichen Erfolg eines Medienunternehmens heute leider völlig unerheblich.

Zumindest ein sportliches Interesse muss es doch aber geben, der Erste oder Bestinformierte zu sein!

Ja klar. Wir sind einmal zu einem G-20-Gipfel nach Australien geflogen. Fast zwanzig Stunden Flugzeit mit einem quälenden Zwischenstopp in Japan und einem weiteren in Neuseeland. Angekommen in Australien waren wir zombiemäßig müde. Aber es gab einen Hinweis: Merkel könnte noch was mit Putin vorhaben! Dann haben sich Ralf Schuler von der „Bild“, Peter Müller vom „Spiegel“ und ich vor das Hotel von Putin gesetzt und einfach gewartet, ob Merkel vorfährt und wann sie wieder herauskommt. Nach viereinhalb Stunden konnten wir mit Streichhölzern in den Augen die Geschichte schreiben: „Geheimer Kriegsrat mit Putin“. Das hat schon Spaß gemacht.

Empfindest du deine Arbeit manchmal als eine Form von Geschichtsschreibung while it happens?

Ich würde sagen, wenn Geschichte eine Uhr ist, dann bin ich in meinen glücklichsten Stunden der Sekundenzeiger. Öfter bin ich nur das Material, das dann ein Historiker nimmt. Wir arbeiten anders, wir stützen uns auf zwei Quellen. Wenn das zusammenpasst, schreibst du das auf. Und dann fragen Historiker: Wo ist denn das Dokument?

Informationen mit Spin

Hast du manchmal das Gefühl, benutzt zu werden? Zum Durchstechen?

Ständig.

Herr Alexander, ich erzähle Ihnen da jetzt mal …

Neulich beispielsweise, CDU, Telefonschaltkonferenz des Präsidiums. Wer wird neuer Verteidigungsminister? Überraschend wird es Kramp-Karrenbauer. In dem Gespräch sagt Merkel sinngemäß so etwas wie: „Herr Spahn, Sie können sich doch noch gedulden, Sie machen doch so einen Superjob als Gesundheitsminister. Sie müssen jetzt nicht mit den Hufen scharren!“ Jetzt gibt es Leute, die mir davon berichten und gleichzeitig vermitteln wollen: „Merkel hat Spahn gerügt!“ Es gibt aber andere, die sagen: Merkel habe Spahn loben wollen.

Was tun?

Du bekommst also eine SMS, wo der Fakt einen Spin hat. Dann fragst du ein paar andere Teilnehmer: „Wie haben Sie es gehört?“ Zwei sagen so, drei sagen so. Und dann schreibst du: Die einen haben dies gehört, die anderen jenes.

Du entscheidest dich aber doch manchmal für eine Seite, oder?

Vor ein paar Monaten gab es ein Doppelinterview, Daniel Günther von der CDU mit dem linken Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow. Das fand der CDU-Chef von Thüringen, Mike Mohring, nicht witzig. Vor der CDU-Präsidiumssitzung hat Kramp-Karrenbauer gesagt: „Herr Günther und Herr Mohring, kommen Sie mal mit …“ Das war klar, es ist jetzt unter sechs Augen. Aber alle haben gesehen, der kriegt jetzt Ärger. Wenn mir dann jemand erzählt, das wäre als nette Geste gemeint gewesen, kaufe ich den Spin nicht.

Persönlich hältst du also Äquidistanz? Keine politischen Vorlieben?

Ich entscheide danach, welche Geschichte stimmt. Manchmal brauche ich als Näherungswert das Kriterium: Was ist plausibel? Als Reporter empfehle ich, gegenüber Politikern den Standpunkt eines Briefmarkensammlers einzunehmen. Wenn du Tschechoslowakei der Achtzigerjahre sammelst, dann willst du alle Marken aus diesem Land und dieser Zeit. Egal ob die Zacken geknickt sind oder nicht. Selbstverständlich gibt es Menschen, die im persönlichen Umgang angenehmer sind als andere. Aber Spitzenpolitiker sind eigentlich fast alle sehr besondere Menschen.

Ein Robert Habeck wirkt doch anders, oder? Der hat ja von sich auch eine andere Erzählung, also die vom „wahren Sprechen“.

Die würde ich zum Beispiel nicht kaufen, die Erzählung.

Interesse am Machtspiel

Wie groß wäre denn die Versuchung, eine eigene Agenda zu setzen?

Welche sollte das denn sein?

Gesetzt, du fändest jemanden wirklich sympathisch. Dann könntest du helfen und schreibend betreiben, dass beispielsweise Friedrich Merz in einem sanfteren Licht erschient.

Ich hatte doch gerade beschrieben, dass ich das Verständnis von Gesellschaft als Nebeneinander von Subsystemen sympathisch finde, die einander nach festen Regeln etwas liefern. Im Falle des Journalismus sind das Informationen.

Und so hältst du’s auch?

Ja. Außerdem wüsste ich gar nicht, mit wem ich mich identifizieren soll: Kramp-Karrenbauer hat drei Kinder und ist noch mit ihrem Mann zusammen. Ich habe auch drei Kinder und bin noch mit meiner Frau zusammen. Oder Spahn: Der gehört zu meiner Generation. Worauf ich hinaus will: Wenn du diese Menschen komplex beschreibst, dann findest du immer Dinge, an die du persönlich anknüpfen kannst. Aber mich interessieren doch diese Attribute nicht, sondern das Machtspiel. Und darin finde ich Dinge interessant, die ich in meinem Freundeskreis nicht so gerne hätte.

Also gar keine Versuchung, sozusagen selbst in dieses Rad zu greifen oder den Dingen eine andere Richtung zu geben?

Ich wüsste gar nicht, welche. Darüber spreche ich oft mit Ulf. Wir halten es für falsch, auf linke Hypes mit dem Gegenteil zu antworten. Ein Beispiel: Wenn viele Berichterstatter Luisa Neubauer vergöttern, dann schicken wir nicht auch noch jemanden los, der ein Porträt im Tenor verfasst: „Was für eine tolle junge Frau!“ Aber wir schicken erst recht nicht jemanden los, der schreibt: „Die Doofe!“ Wir suchen einen Autor, der uns aufschreibt: „Frau Neubauer sagt das, und das ist vernünftig. Sie sagt aber auch das, und das ist nicht vernünftig.“

Sagen, was ist?

So ist es.

Haltung haben, Haltung zeigen

Es muss aber doch auch eine Haltung geben, die hat doch jeder!

Der Journalismus liefert Informationen für die offene Gesellschaft. Haltungen gibt es auch anderswo.

Erdogan nach den Geschäften seines Schwiegersohns zu fragen, das ist doch legitim. Das traut sich in der Türkei niemand. Aber dann steht Deniz Yücel auf und tut genau das. Was ist daran falsch?

Selbstverständlich ist das eine legitime Frage, selbstverständlich ist das cool.

Wo wäre dann da das Problem genau?

Wenn ich aus Deniz‘ kritischer Frage eine demonstrative Haltung der „Welt“ schnitzen würde. Ein Beispiel: Wenn Erdogans außenpolitischer Chefberater in Berlin ist, macht der am nächsten Morgen ein Frühstück für ein paar Journalisten in der Botschaft. Dorthin gehe ich auch. Und ich tue es gern, weil es dort Informationen über die Positionen türkischen Regierung gibt – die Regierung, die Deniz monatelang eingesperrt hat.

Haltung wäre, auf das Frühstück zu verzichten.

Haltung haben und Haltung zeigen sind, glaube ich, zwei unterschiedliche Dinge.

Gilt das auch für die Talkshow?

Meine Erfahrung ist: Journalisten wirken nur mit Informationen. Ich konfrontiere Alexander Gauland bei Markus Lanz mit Widersprüchen, auch mit kleinteiligen Beobachtungen: zum AfD-Rentenkonzept und zur AfD-Sozialpolitik. Meine Funktion ist eine Feinbeobachtung und deren Vermittlung. Für ein Statement wie „Ihre Partei ist menschenfeindlich!“ brauchen Sie keinen Journalisten.

Kurznachrichten für die Akteure

Twitter ist inzwischen ein journalistischer Kanal, oder?

Von der Struktur her ist das ein Kurznachrichtendienst. Also nach dem Motto: Schick allen eine SMS gleichzeitig! Und in anderen Ländern ist es das auch, meiner Meinung nach, für Journalisten geblieben. So will ich das auch halten.

Man empfängt aber auch Nachrichten, ist nicht nur Sender. Wie vermeidet es da der Journalist, selbst zum Akteur zu werden?

Einmal hatte ich eine Phase der extremen Verdichtung, als es im Sommer 2018 beinahe zum Bruch der Unions-Fraktionsgemeinschaft kam. Im Reichstag tagte die CDU hier, die CSU da, und wir belagerten den Würstchenstand in der Mitte. Mir wurde aus beiden Sitzungen ständig geschickt, was passiert. Und ich hatte den Eindruck, ich bin jetzt der Erste, aber ich werde nicht der Einzige sein. Also kann ich jetzt nicht bis zum Redaktionsschluss warten und eine ausgeruhte Reportage schreiben. Ich kann noch nicht mal zwei Stunden warten und „Welt Online“ schreiben, sondern ich twittere das, sobald ich zwei Quellen habe. Und das hat dann damals so eine Dynamik angenommen, dass das auch die Sitzung beeinflusst hat, weil die sich in den laufenden Sitzungen über meinen Account informiert und dann angefangen haben, mir noch mehr Informationen zu geben.

Ist es dir schon einmal geglückt, jemandem was zu entlocken, was er eigentlich nicht erzählen wollte?

Ist mehr als ein halbes Jahr her, da waren wir bei Kramp-Karrenbauer und wollten auf das Klima-Thema zu sprechen kommen, dass damals noch im Anflug, aber noch nicht so big war wie jetzt. Immer, wenn man sie fragt, kommt der Spruch: „Das ist ein ur-christdemokratisches Thema und die Schöpfung, bla bla bla, und schon damals hat Klaus Töpfer …“ und so weiter. Und dann hatten wir die Frage gestellt: Bitte nennen Sie einen relevanten CDU-Umwelt- oder Klimapolitiker …

… der nicht Klaus Töpfer ist.

… der nicht tot oder in Rente ist. Und dann kam so: „Äh, hm, hm“, dann hat ihre Sprecherin ihr drei Namen auf einen Zettel geschrieben und den Zettel rübergegeben. Im Interview haben wir geschrieben: „Ihre Sprecherin reichte einen Zettel.“ Und Kramp-Karrenbauer hat das bei der Autorisierung drin gelassen, was ich cool finde, weil es tatsächlich so war, intern in der CDU aber eine Bestürzung losgelöst hat: Wie kann man denn? Aber es war auch so, sie hatten halt …

… keine Ahnung vom Thema Klimapolitik. Die mussten alles nacharbeiten.

Ja. Bei Merkel wäre das hundertprozentig gestrichen worden.

Als jemand, der ihre Kanzlerschaft so lange begleitet hat – wirst du Angela Merkel vermissen?

Es ist ein Spezifikum der deutschen Geschichte, dass wir diese extrem langlebigen Figuren haben, Bismarck, Adenauer, Kohl. Normalerweise, wenn die weg sind, atmen eigentlich alle erst einmal auf. Und dann vergehen so fünf bis zehn Jahre, bevor Denkmäler gebaut werden. Ich glaube, bei Merkel fällt diese Zwischenzeit aus und die Denkmäler werden sofort gebaut.

6 Kommentare

  1. Ich nehme eine große Diskrepanz zwischen der politischen Ausrichtung der WELT und dem apolitischen Beibachter-Selbstverständnis von Herr Alexander wahr. Insbesondere, da die WELT immer wieder Fake News streut und damit ihre rechten Kommentarspalten füttert. Da hätte ich mir noch ein kritisches Nachhaken gewünscht.

    Ich habe allgemein den Eindruck, viele Interviews sind eher ein Stichwortgeben und Geschichtenerzählen als die Suche nach Antworten auf unbequeme Fragen. Das kann man ja auch machen, ist wohl eine Frage des Stils. Mein Geschmack ist es nicht, aber das Interview ist trotzdem lehrreich.

  2. @erwinzk (Kommentar Nr. 1)

    Volle Zustimmung.

    Und was „Fake News“ oder zumindest verfälschende Berichterstattung der WELT betrifft, so ist auch hier Robin Alexander zu nennen. Er war es, der kurz vor der Bundestagswahl 2017 in einem Artikel, überschrieben mit „Gutachten sieht unklare Rechtsgrundlage für Grenzöffnung“, behauptete

    „Wenige Tage vor der Bundestagswahl sorgt ein Gutachten zur Flüchtlingskrise für Aufregung.“

    Das von ihm zitierte Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, WD 3-3000-109/17, war zu dem Zeitpunkt schon rund 4 Monate alt (Erstellungsdatum 24.05.2017).

    Alles, was Alexander aber aus dem Mai-Gutachten zitierte, war nur Copy-und-Paste der Bundestagsjuristen aus einem früheren Gutachten, nämlich WD 3-3000-299/15 vom November 2015, also fast 2 Jahre alt.

    Wie soll da dieses Gutachten vom Mai 2017 für Aufregung gesorgt haben?

    Vor allem aber verschwieg Alexander, worum es im neuen Gutachten vom Mai 2017 tatsächlich ging.

    Das Gutachten ergänzte die älteren Gutachten zum Thema (aufgeführt in Fn. 1) um genau jene Rechtsauffassung (siehe Abschnitt 3.1), auf die sich Merkel stets öffentlich berufen hatte:

    die Verfahrenszuständigkeit des Antragslandes nach Art. 20 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung 604/2013/EU.

    Die Bundestagsjuristen wörtlich:

    „soll bereits die Zuständigkeit eines EU-Mitgliedstaates zur Prüfung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens dazu verpflichten, die Einreise von Asylsuchenden zu gestatten.“

    Die Juristen in Fn. 17 weiter:

    „Die Frage nach der Mitwirkung des Bundestages stellt sich nicht, wenn bereits eine unionsrechtliche Pflicht zur Einreisegestattung angenommen wird.“

    Davon schrieb Alexander 2 Tage vor der Bundestagswahl nichts, obwohl allein (!) diese Ausführungen Neuigkeitswert, was die Bundestagsgutachten betrifft, besaß.

    Darüberhinaus ist und war die Rechtsgrundlage, auf die sich Merkel und de Maizière berufen hatten, nie unklar. Nur ist es Usus, dass die Bundesregierung als juristische Person grundsätzlich keine Angaben zu Rechtsauffassungen gibt.

    Die Verantwortlichen in der Bundesregierung dagegen, Merkel und de Maizière, hatten stets auf die Dublin-Verordnung bzw. das vorrangige EU-Recht verwiesen. Z. B. in der Sommerpressekonferenz am 31. August 2015, schon 4 Tage vor dem „March of Hope“:

    Merkel: Es ist aber nicht so, dass wir jetzt von Dublin III abweichen können; denn wir haben keine andere Rechtsgrundlage…

    Zusatzfrage: Das heißt, wenn ein Zug aus Ungarn hier ankommt, dann sagen Sie auch: Die sollen bitte hier bleiben?

    Merkel: Schauen Sie, jeder hat einen individuellen Anspruch auf Überprüfung.

    Oder in Pressekonferenz am 28. Juli 2016:

    Merkel: Nach unserer Auffassung – nach meiner Auffassung, aber auch nach Auffassung der Kommission – ist eine Zurückweisung eines Asylsuchenden nicht möglich. Dafür gibt es das Dublin-Verfahren…

    Dass es dann nicht zu Dublin-Überstellungen kam, lag an Pflichtverletzungen und Sabotageverhalten der Zielstaaten, welche fristgerechte Überstellungen (die Zustimmung des Zielstaats ist notwendig) unmöglich machten: dann wird das Antragsland zuständig.

    Der sogenannte Selbsteintritt betraf nur relativ wenige Personen und diente nur zur Abkürzung des ohnehin sinnlosen Verfahrens. Für die Einreisegestattung, seit den 90er Jahren Status quo, spielte der Selbsteintritt keine Rolle.

    (Übrigens besteht nach der Dublin-III-Verordnung auch keine Pflicht, den Asylantrag bei einem bestimmten Mitgliedstaat einzureichen. Dublin geht ja gerade davon aus, dass Anträge irgendwo, möglicherweise mehrfach, eingereicht werden und regelt das weitere Procedere in solchen Fällen.)

    Was kümmert ein Relotius mit seinen irrelevanten Phantasiegeschichten, wenn relevante Tatsachen kurz vor entscheidenden Wahlen verfälscht dargestellt werden?

  3. Der Standardtext zu „Hauptstadtjournalisten“ ist wohl Tom Schimmeck’s „Arschlochalarm“, 2005 in der taz erschienen:
    http://www.schimmeck.de/Texte/aalarm.html

    Wobei hier Robin Alexander noch eine angenehme Ausnahmeerscheinung darzustellen scheint; nachdem zu den „Mitspielern“ nun in letzter Zeit auch noch die „Haltungsjournalisten“ getreten sind.

  4. Schönes Interview. Im Zusammenhang von Welt/Ulf Poschardt und seiner Aussage dass da keine Meinung kommt sondern nur Fakten hätte ich mir allerdings etwas mehr Nachhaken gewünscht.

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