Bundeskanzlerin im EU-Parlament

Die ferne Idee einer Armee: Merkels Rede in Straßburg und was davon hängenblieb

Es kommt nicht so oft vor, dass eine deutsche Regierungschefin im Europaparlament spricht, und als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag in Straßburg auftrat, waren die Umstände selbst für eine erfahrene Politikerin wie sie besonders. Gerade war ihr Rücktritt vom CDU-Vorsitz bekannt geworden, und noch frischer waren die Bilder vom Wochenende, als Merkel an der Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron dem Waffenstillstand gedachte, der vor 100 Jahren das Ende des Ersten Weltkriegs markierte.

Angela Merkel im EU-Parlament in Straßburg Foto: EP/Marc Dossmann

Ihre Rede vor den europäischen Parlamentariern reihte sich ein in eine Serie von Reden europäischer Regierungschefs, die im Laufe dieses Jahres ihre Haltungen zur Zukunft der EU, ihrer Probleme und ihrer Reformpotentiale dargelegt haben. So ging es auch in Merkels Rede um ganz verschiedene Themen.

Eurozonen-Haushalt, Digital-Steuer, Banken-Union

Merkel sprach sich für die Einrichtung eines Eurozonen-Haushalts aus, um den nächsten Schritt zur Stabilisierung der Währungsunion zu machen.

Sie sprach sich dafür aus, die gemeinsame Außenpolitik zu stärken, indem auf das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten von Mehrheitsentscheidungen unter den Regierungschefs verzichtet werden solle.

Sie stellte klar, dass die Besteuerung großer Digitalunternehmen (vor allem Google, Apple, Facebook und Amazon) für die Bundesregierung keine Frage des Ob sei, sondern des Wie.

Die Vollendung der Bankenunion wurde ebenso genannt wie der noch zu leistende Aufbau eines europäischen Einlagensicherungssystems, dass die Guthaben europäischer Sparer absichern soll, wenn es an den Finanzmärkten mal wieder turbulent wird.

Zudem wolle sie eine gemeinsame europäische Rüstungsexportpolitik und hoffe darauf, dass die Europäer bei Mobilitätsprojekten der Zukunft (Stichwort: Antriebs- und Batterietechnik) endlich wirksam zusammenarbeiten, um vom Rest der Welt nicht abhängt zu werden.

Außerdem zeigte sie sich rückblickend selbstkritisch: Deutschland habe die Flüchtlingsfrage lange nicht als gemeinsame europäische Aufgabe begriffen – und damit, so die Botschaft zwischen den Zeilen, seinen Teil zur politischen Zuspitzung dieser Frage geleistet bevor der berühmte 5. September 2015 kam.

Langweilen Sie sich, liebe Leserinnen und Leser? Wenn ja, könnte es sein, dass sie deutscher Journalist oder Journalistin sind und in all diesen aktuellen, politisch brisanten und bald zu entscheidenden Fragen ein wenig Kürze und Würze vermissen. Aber Angela Merkel hatte ja gleich zu Beginn ihrer Rede etwas zu bieten, das Medien besonders gut gefällt:

Auch sie möchte, dass es eines Tages eine europäische Armee gibt! Großartig! Damit kann man doch arbeiten:

Ja, es ist von hoher symbolischer Kraft, wenn eine deutsche Bundeskanzlerin dem Vorschlag eines französischen Präsidenten folgt, perspektivisch eine europäische Armee aufzubauen – wenige Tage nach dem erwähnten Gedenktag zum Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Deutsche und Franzosen sich gegenseitig zu Hunderttausenden in den Gräben der Westfront umbrachten.

Aber klärt man auf diese Weise die deutsche Öffentlichkeit angemessen über europäische Politik auf?

Wie Merkel selbst sagte, sei es ein langfristiges Ziel, so eine Armee aufzubauen. Wie langfristig? Nun ja, wohl sehr langfristig, denkt man an die sehr verschiedenen, historisch gewachsenen Sicherheitskulturen in Europa.

Erinnert sei an das divergente Verhalten im Irak-Krieg (mit dabei, zum Beispiel: Großbritannien, Spanien, Polen; nicht mit dabei, zum Beispiel: Frankreich und Deutschland) oder die berühmte Libyen-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat vor einigen Jahren, bei der Großbritannien und Frankreich für eine Intervention stimmten und sich Deutschland enthielt.

Die ferne Vision einer europäischen Armee

Lange her, mag man einwenden, die Briten machen ihr Ding demnächst ohnehin außerhalb der EU. Aber auch bei dem gerade beschlossenen Vorhaben einer verstärkten Zusammenarbeit in der Rüstungs- und Verteidigungspolitik (PESCO) herrschte unter den Mitgliedsstaaten mehr Widerwille, als der gemeinsame Beschluss und der politische Diskurs hierzulande vermuten lassen.

Bei der Frage nach Krieg und Frieden herrschen sehr divergente politische Sensibilitäten, die nicht ohne Weiteres abzubauen sind – falls man das überhaupt will. Eine „echte“ europäische Armee, wie es nun heißt, würde selbst bei engagiertem Vorgehen – und unter dem ceteris paribus-Prinzip – wohl erst Realität werden, wenn Trump und Putin längst Humus sind.

Es ist irritierend, in welcher Weise sich deutsche Redaktionen vor allem anderen auf die symbolkräftige, aber ferne Zielsetzung einer europäischen Armee stürzen. Das Entscheidende daran: Im Gegensatz zur Vision einer europäischen Armee stehen hinsichtlich der eingangs aufgezählten, zum Teil zähen, aber trotzdem maßgeblichen Problemstellungen jetzt Entscheidungen an. Sie haben unmittelbare Konsequenzen und bestimmen die kommende Gestalt des europäischen Projekts wesentlich mit.

Der politische Zusammenhalt der Europäischen Union, ja sogar: ihre schlichte Existenz hängt daran, dass vor der nächsten Finanz- oder Flüchtlingskrise ein ernstzunehmender Eurozonen-Haushalt eingerichtet oder das dysfunktionale Dublin-System ersetzt wird. Investieren die Europäer zudem nicht bald intensiv in Mobilitäts- oder auch Cybertechnologie, ist die komplette Abhängigkeit von den USA (und China!) in der Tat unumkehrbar.

Es herrscht ein beunruhigender Entscheidungsstau auf europäischer Ebene, der einerseits droht, die Gemeinschaft der Mitgliedsstaaten nächsten Erschütterungen fahrlässig auszuliefern, oder sie andererseits dazu verdammt, die technologischen Entwicklungen unserer Zeit zu verschlafen. Es wäre Aufgabe der Kommentatoren, mit jeder Schlagzeile zu verdeutlichen, wie sich die Bundesregierung in diesen akuten Fragen verhält und was auf dem Spiel steht.

Berichterstattung, die Vorurteile befeuert

Das einseitige Echo auf den Armee-Vorschlag überdeckt derzeit die politische Dringlichkeit auf den anderen Politikfeldern. Das ist auch problematisch, weil diese Art von Berichterstattung unfreiwillig dazu führt, Vorurteile gegenüber europäischen Entscheidungsprozessen zu stärken: Nach den Entscheidungen will wieder keiner etwas mitbekommen haben, alles werde wie immer hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und ohnehin sei der ganze EU-Laden völlig undurchsichtig und nicht zu verstehen.

Die Regierungen haben zugleich leichtes Spiel, sich gegenüber ihren nationalen Öffentlichkeit rauszureden und mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen, wenn etwas beim eigenen Bürger nicht so gut ankommt. Die einzige Position, die von diesem Auftritt Merkels nun in Erinnerung bleiben dürfte, ist, dass sie auch eine europäische Armee will. Bis dahin wird sich die deutsche Öffentlichkeit aber zu all den anderen Maßnahmen, an denen die Bundesregierung mitwirkt, eine Meinung bilden müssen. Nur: Auf welcher Grundlage?

9 Kommentare

  1. ja, stimme herrn herold zu, dennoch scheint er nicht verstanden zu haben wie zeitungen ubd schlagzeilen heute bedeuten und dass eine zeitung sicher nicht zu einer umfassenden bildung und aufklärung sorgt. es stellt dich daher doch weiterhin jedem die aufgabe sich in ein thema zu vertiefen und argumente zu sammeln und zu vergleichen. das war doch schon immer so. wenn jemand mit schmalem weltbild und ungeduldigen pseudofaktenwut glaubt, die welt verstanden zu haben, wählt die afd. man muss die zeiten von internet, mediatheken und bibliotheken loben, aber zugleich sagen, dass jeder selbst für sein verstand, bildung und informiertheit verantwortlich ist und sorgen muss.

  2. Gerade Schlagzeilen sind aber entscheidend. Für diejenigen, die nur Schlagzeilen lesen (man SOLLTE mehr lesen, aber tut das jeder – zu jedem Thema?). Für diejenigen die den Artikel überfliegen und dann zum nächsten wechseln (die Schlagzeile bleibt vielleicht als einziges hängen).

    Und wie ist es eigentlich um den sogenannten Qualitätsjournalismus bestellt, der aufwändig recherchieren und gewichten muss und der so kostspielig zu finanzieren ist, dass für ihn auf europäischer Ebene ein neues Gesetz erschaffen werden muss?

    Ist diese Qualitätsvorgabe hier erfüllt worden?

  3. mein kommentar sollte darauf hindeuten, dass die zeitung ein aussterbendes medium ist, da sich ja nicht nur die leser geändert haben.

    was das thema hier angeht, hab ich mich natürlich nicht mit schlagzeilen zufrieden gegeben, sondern sah mir die komplette rede von merkel im netz an, und dann nochmal die von macron.

  4. > dem Waffenstillstand gedachte
    des Waffenstillstands gedachte

    > ceteris paribus-Prinzip
    Ceteris-paribus-Prinzip

  5. Wer sich regelmäßig über europäische Politik informiert, für den war das andere nicht wirklich neu. Und wenn sich Europa mit dem vom Autor festgestellten Stau beschäftigen sollte, warum beschränkt sich die Kanzlerin in ihrer Rede nicht darauf? Aufrüstung in personeller und waffentechnischer Art in jeder Form ist immer ein wichtiges Thema. Die Aufrüstung zieht Geld, das für eine vernünftige Bildung (zB in Klassen mit 20 Schülern), für einen funktionierenden Rechtsstaat (letztinstanzliche Urteile binnen drei Jahren, und das nicht durch Ausdünnen des Rechtsweges) und andere Dinge. Jetzt, wo alle, die die Schrecken des Krieges u der Zeit danach noch erlebt haben, verstorben sind, wollen viele wieder etwas probieren, als müsse man gucken, ob es wirklich so schlimm ist. Ein paar tote und viel mehr traumatisierte Soldaten pro Land, das friedlich bleibt, scheinen nicht abschreckend genug. Deshalb interessiert mich, ob die Kanzlerin zum Ende ihrer Amtszeit Visionen entwickelt, deren Konsequenzen sie nicht mehr aushalten muss.

  6. @Nr.5 NOCHEINJURIST
    „Deshalb interessiert mich, ob die Kanzlerin zum Ende ihrer Amtszeit Visionen entwickelt, deren Konsequenzen sie nicht mehr aushalten muss.“
    Oh ja, das interessiert mich auch. Aber mal ehrlich: Hat sie nicht schon genug ‚Visionen‘ gehabt?
    Ich glaube, wir haben alle Angst davor : )

  7. @Emanuel Herold
    „Bis dahin wird sich die deutsche Öffentlichkeit aber zu all den anderen Maßnahmen, an denen die Bundesregierung mitwirkt, eine Meinung bilden müssen. Nur: Auf welcher Grundlage?“

    Hmm, hört sich irgendwie nach ‚Lückenpresse‘ an. Böses Wort das…

    „Es herrscht ein beunruhigender Entscheidungsstau auf europäischer Ebene…“ Nich schlappmachen, Europa jetzt!
    Gott sei Dank geht’s in DE flott voran, so mit Allem mein‘ ich.

  8. „Aber mal ehrlich: Hat sie nicht schon genug ‚Visionen‘ gehabt?“

    Frau Merkel? Nein. Sie hat sich während ihrer Kanzlerschaft streng an das Schmidt’sche Bonmot gehalten, um nicht zum Arzt zu müssen.

    @NOCHEINJURIST:
    Aufrüstung ist immer ein schlechtes Thema. Andererseits, wo befinden sich denn die ganzen Krisenherde? Ukraine? Der Nahe Osten (Syrien, Irak, Jemen, Israel/Palestina)? Lybien?
    Das ist alles direkt vor Europas Haustür. Und es besteht eine reale Gefahr, dass es ohne den ausdrücklichen Schutz der USA auch mal ein Warlord versuchen könnte, in Europa einzurücken. Abgesehen von möglichen Raketen, in deren Reichweite wir natürlich auch sind.
    Dazu natürlich noch die schwierige moralische Frage, ob man Massentötungen geschehen lassen soll oder, wie in Ex-Jugoslawien, eingreift.
    Dazu noch Einsätze wie in Mali, um einen halbwegs funktionierenden Staat am Leben zu halten und nicht vielleicht eine (nicht genehme) Diktatur entstehen zu lassen.
    Oder vielleicht die ferne Bedrohung durch China, bei denen niemand weiß, was sie in 20-30 Jahren noch vorhaben.

    Alles Gründe, über eine funktionierende Arme zumindest nachzudenken. Dabei die europäischen Kräfte zu bündeln, ist nur vernünftig.

  9. @ ST #8. Der Ursprungsartikel war ja eine Medienkritik, ich wollte eigentlich erklären, warum dieses Thema wegen des Neuigkeitswertes und wegen des vielen Geldes, das damit verbunden ist, eben das Thema ist.

    Zum Thema, OB Merkel Vision berechtigt ist: Seit 9/11 ist die Angst in der Regel größer als die Gefahr. Die größtmögliche Angst kriegen sie aus den Leuten auch nicht mehr raus. Und die stärkste Gegenmaßnahme ist, selbst wenn unverhältnismäßig und trotzdem nicht zielführend, gerade gut genug, aber nie ausreichend. Die Angst wird nie weggehen.

    Weiterhin finde ich es nicht falsch, dass die Kriege dorthin zurückkehren, wo von den Kriegen und der folgenden Destabilisierung profitiert wird, ob dies nun in Form von Waffenlieferungen geschieht oder ob es um die Rohstoffsicherung geht. Insofern haben die USA Nachholbedarf. Deutschland ist durch die Flüchtlinge fair bedient.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.