70 Jahre „Stern“

Pipapo war gestern

Der ältere Herr ist genervt. Eigentlich will er gar nicht hier sein, aber irgendwer hat ihn mitgeschleppt. Deshalb steht er nun, am Sonnabend, vor dem Verlagshaus von Gruner+Jahr in Hamburg und wartet auf Einlass. Der „Stern“ hat anlässlich seines 70. Geburtstages zum „Tag des Journalismus“ in die Redaktion eingeladen. Er allerdings, sagt der Mann, hätte viel lieber die Druckerei gesehen. Das hätte er spannend gefunden. Aber hier? „So viel Gerede!“

Wie es wohl sein muss für jemanden, der lieber dort wäre, wo Maschinen rattern und nicht Journalisten reden, wenn dann Hans-Ulrich Jörges auf der Bühne sitzt? Es ist ja einerlei, ob man den Stuhl ins Studio von Anne Will, in die Westsahara oder in ein Verlagsfoyer stellt: „Stern“-Kolumnist Jörges, 66, der Meinungs-„Zwischenrufer“, setzt sich hin und redet los.

Urlaubsbraun, in Sneakern und Sakko, erzählt er einem weitgehend grauköpfigen Publikum von Berlin und Merkel und einem Journalisten namens Jörges. Zwischendurch kommt auch Kollege Andreas Hoidn-Borchers zu Wort.

Mitleid mit Merkel: „Als hätte sie das Kanzleramt geputzt“

Den Sigmar Gabriel zum Beispiel, den findet der Jörges gut. Und den Röttgen. Und den Schröder. Der rufe ihn manchmal an, und dann würden sie „über dies und das“ reden, „so ist das im Leben“, sagt Jörges über sein Leben.

Die Merkel mag er aber nicht so. Ideenlos sei sie, und einmal, als er Merkel anschaute, erzählt Jörges, habe sie erschöpft ausgesehen, „als hätte sie das ganze Kanzleramt geputzt“. Da überkam Jörges „Mitleid“, das sagt er so. Und seither hofft er, dass die Kanzlerin bald weg ist, nächsten Herbst vielleicht, nach der Europawahl, also endlich nicht mehr putzen. Und Jörges wird dann auf einem Stuhl sitzen, in irgendeiner Show, und Wert darauf legen, dass er noch da ist.

Darum! Verlagsmanagerin Jäkel, „Stern“-Autor Baum

Aber für die Leserinnen und Leser ist es ja schön, mal die Leute aus dem Fernsehen und die hinter dem Heft zu sehen. Man wolle zeigen, mit wie viel Herz und Leidenschaft hier gearbeitet werde, sagt Geschäftsführer Alexander von Schwerin zu Beginn. Es ist ein offenbar bewusst gesetztes Zeichen in prekären Zeiten: Der „Stern“ möchte mit seinen Leserinnen und Lesern über Journalismus reden, um Vertrauen werben. Die Lage ist offenbar ernst.

Ein paar Hundert Leute sind gekommen, um sich das anzusehen, aus Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, eine Frau sogar aus Bayern, nur für den „Stern“. Viele der Besucher sind jenseits der 60, ein quasi öffentlich-rechtliches Publikum, aber auch einige Junge. Eine ältere Frau möchte wissen, wieso es nicht mehr jüngere Themen gebe. Die Redakteurin antwortet, also, naja, wenn sie sich so umsehe, lägen sie doch wohl richtig, was die Zielgruppe betrifft.

Gesund reden: Leserinnen im Gespräch mit der Redaktion

In Gruppen schieben sich die Besucher durch die Redaktion, zur Blattkritik, zur Themenkonferenz, zur Schalte mit Korrespondenten in New York oder Shanghai, sie staunen in Vitrinen, in denen die vermeintlichen Hitler-Tagebücher liegen, die der „Stern“ erstmals aus dem Giftschrank geholt hat.

Und sie lassen sich erklären, wie das alles so funktioniert. Dass Eckart von Hirschhausen seine Texte selber schreibt und in der Fotoredaktion am Tag bis zu 20.000 Bilder über die Monitore fliegen. Und dass die Reporter auch ethische Zweifel umtreiben, wenn sie über Opfer großer Unglücke berichten.

Darum! Die Julia und der Herr Baum

Nach Hans-Ulrich Jörges betritt die Verlegerin die Bühne. Dass es ein wegweisendes Gespräch werden würde zwischen der G+J-Managerin Julia Jäkel und „Stern“-Autor David Baum, lässt schon der Titel erahnen: „Journalismus? Darum!“, lautet er, und ungefähr so ist es dann auch. Eine Interviewsimulation, in der Baum, der die Julia schon lange kennt und duzt, wie er eingangs berichtet, überwiegend freundliche Fragen stellt und Jäkel, die später „Herr Baum“ sagt, ganz nervös macht, als er von „Old-School-Print-Verlagen“ redet.

Jäkel widerspricht. Der Verlag sei bitteschön auch modern und digital, aber gleichwohl gebe es eben Bedarf an langsam erzählten Geschichten, gedruckt auf Papier. Der Verlag sei gut aufgestellt, auch was Frauen in Führungspositionen betreffe, nur sei er immer noch „zu weiß“, „zu eppendorfig“, das müsse sich ändern. Und um nicht weiter auf andere eigene Probleme eingehen zu müssen, beteuert Jäkel noch mal ausführlich, wie gefährlich Facebook sei. Sie tut das mit großer Sorge auf der Stirn. Das Publikum applaudiert verhalten.

Das meiste Anzeigengeld, sagt Jäkel, fließe heute an diese mächtigen digitalen Unternehmen. Der große Einfluss, den Facebook habe, besorge sie, als Verlegerin und als Bürgerin, deshalb habe sie sich dazu auch schon öfter geäußert. Es sei so „extrem laut“ geworden, so „extrem emotional“, klagt Jäkel. Alles Mittel, mit denen ihr Verlag, behauptet die Verlegerin, niemals arbeiten würde.

Um 11.18 Uhr twittert @sternde: „Tropensturm: Florence trifft die US-Küste mit voller Wucht – die gewaltigsten Bilder im Video“. Um 15:33 Uhr: „Gerade erst eröffnet: Italiens erster Sexpuppen-Puff schon wieder geschlossen“.

„Die Zeiten sind vorbei“: Früher Schampus, heute Journalismus-Tag

Vor 20 Jahren, zum fünfzigsten Geburtstag, sagt Baum, habe man ja noch rauschend gefeiert, mit Champagner, großem Fest, Pipapo. Aber das sei vorbei. Das war einmal, in der „guten Zeit“, wie sie es in der Fotoredaktion nennen. Als noch 23 festangestellte Fotografen bei der bundesdeutschen Nachrichten­illustrierten arbeiteten. Heute ist es nur noch einer: Philipp, der Stipendiat. Die anderen sind weg, weil es die „guten Zeiten“ des Journalismus auch sind.

Baum nimmt halbkritisch Anlauf: sinkende Auflage, weniger Geld, auch für die Redaktionen – ob das nicht dazu führen müsse, mehr zu investieren statt weniger, fragt er. Und ob man sich nicht, bei all der Konkurrenz, mehr abheben und sich auch mehr Zeit nehmen müsse für wichtige Themen. Jäkel wird wieder nervös, wiegelt ab. Baum hakt nicht nach.

Es sei immer noch genug Zeit da für Themen, die man wichtig finde, sagt Jäkel. Punkt. Dann plaudern sie und Baum noch un peu darüber, dass es ja nicht schlimm sei, nicht mehr First Class fliegen zu dürfen, und dass nicht mehr andauernd, wie einst bei „Vanity Fair“, der Martini fließe.

„Die Zeiten sind vorbei“, sagt auch Jäkel. Das wird hier immer wieder betont. Es mag hamburgische Bescheidenheit sein, aber es ist auch symbolisch: Kein Vergnügen, diese Zeit gerade. Früher Party, heute Journalismus-Tag, Eintritt 8 Euro, das Hühnchencurry für 11,50 Euro, und ein Redakteur deutet bei seinem Vortrag auf das halb gefüllte Weinglas vor ihm und beteuert: Ist nur Wasser.

Dafür schmeißt die Digital-Redaktion des „Stern“ am Nachmittag ein Fest: Kaffeekuchen und Gespräch im Konferenzraum. Diese stern.de-Leute sind jung, motiviert und sehr gut drauf. „Vollblutjournalisten“, wie sie sich später nennen, die stets in die Redaktion eilen, wenn etwas Schlimmes passiert, auch wenn es Freitagnacht ist und die Musik im Club gerade ganz gut.

Bei „Großlagen“, einem Flugzeugabsturz oder Anschlag, sind alle sofort zur Stelle, betont Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier. Der frühere Digital-Chef Philipp Jessen sei sogar mal „blutüberströmt“ reingekommen, was sonst vielleicht nicht so schlimm ist bei stern.de, am Tag des Terroranschlags in Paris aber eher so mittellustig. Auch wenn Halloween war.

So 100 Artikel: Jeden Tag ein Print-„Stern“ online

Dass stern.de an Großlagentagen oder auch zu anderen Themen ganze Artikel-Serien rausbringt, Dutzende Beiträge kurz hintereinander, das nennen sie hier „serielles Erzählen“ und den großen Vorteil von Online. So 100 Beiträge würden in 24 Stunden veröffentlicht, die Online-Redaktion produziere quasi jeden Tag einen Print-„Stern“. Und wie dort solle auch stern.de sehr gemischt sein, alle Ressorts durcheinander: eine „Wundertüte“, in der man finde, was „relevant und interessant“ sei und die Menschen bewege.

Am „Tag des Journalismus“ ist, neben Tropensturm und Sexpuppen-Puff, unter anderem dies, was die Menschen nach Ansicht von stern.de bewegt:

„Viagra, Hämorrhoiden und künstliche Hüfte: Wie Til Schweiger das Altern meistert“

„Attacken auf Schiris und Brutalo-Fouls: Gewalt im Amateurfußball bleibt ein Problem“

„Mann alarmiert die Polizei, weil ihm McDonald’s-Essen nicht schmeckt“

„Verkaufstricks: So manipulieren Supermärkte unser Unterbewusstsein“

„Seehofer sieht CSU vor der Landtagswahl ‚ganz passabel‘ aufgestellt“

„Steinadler reißt Kleinkind in die Luft: Ist der legendäre Internethit ein dreister Fake?“

„14-Jähriger sticht auf 15-Jährigen ein und klaut ihm das Fahrrad“

„SPD-Chefin Nahles fordert weiterhin Abgang von Verfassungschef Maaßen“

„T-34: Dieser Kampfpanzer war der Albtraum der Deutschen Wehrmacht“

„Wundertüte“. Oder wie sie auch sagen: „Seriosität geht vor Schnelligkeit.“ Alles werde vom „Team Verifikation“ gecheckt, in Zusammenarbeit mit der RTL-Gruppe und Radio NRW, 120 ausgebildete Personen. Beim Streit um rechte Ausschreitungen in Chemnitz seien es mehr als 30 Leute gewesen, die sich nur damit beschäftigt hätten, die Echtheit des berühmten „Hase“-Videos zu überprüfen. Was auch ein bisschen doof sei, weil die ja in der Zeit auch viele Artikel hätten schreiben können, mit denen man Geld verdient hätte.

Dass Stern.de neulich 54 Artikel über Jan Ullrich brachte, innerhalb einer Woche, dürfe man aber nicht missverstehen, sagt die Chefredakteurin auf Nachfrage. Nur so zwölf davon seien von Redakteuren, der Rest von Agenturen, die „im Hintergrund“ automatisch bei stern.de Meldungen publizierten. Suchmaschinenoptimierung. Diese Artikel stünden nicht auf der Startseite, nicht auf Facebook. Alles „Hintergrund“. Alles für die Reichweite.

Voriges Jahr hätten sie es noch mal geschafft, sich zu steigern. Mit demselben Personal, demselben Etat. „Zehn Millionen Leser mehr“ habe stern.de dazu bekommen. Trotzdem, soll das heißen. Sie beobachten auf ihren Monitoren minutengenau, was wo wie lange gelesen wird, was also am besten Werbeeinnahmen bringt. Aber darauf wolle man sich nun nicht ausruhen, sondern weiter überlegen, welche Inhalte sich auch verkaufen ließen, etwa durch Abos.

Mehr Rente, Pflege, Wohnen – und mehr Positives

Am Ende scheint es, insgesamt, ein ausgeruhter Dialog gewesen zu sein zwischen der Redaktion und den Leserinnen und Lesern. Es seien viele technische Fragen gekommen, sagt der Geschäftsführer, und dass man damit gar nicht gerechnet habe. Aber es geht natürlich auch um den Inhalt.

Eine Frau bemängelt eine Titelgeschichte über Brillen, was aber schon ein Thema sei, wie die bebrillte Chefredaktion erwidert. Und ein paar Leser beklagen, dass die TV-Beilage des „Stern“ abgeschafft wurde. Das habe wirtschaftliche Gründe gehabt, sagt der stellvertretende Chefredakteur, und sei ein Fehler gewesen. Sie hätten nicht geahnt, wie sehr die Leser daran hängen.

Aber genau solche Sachen sind es, die gerade ältere Abonnenten umtreiben. Ihr schöner alter „Stern“, die gute alte Zeit. Einige beklagen auch, dass heute Flüchtlingsthemen so ein Gewicht hätten. Sie wünschen sich mehr Positives. „Zum Aktivismus anregen, nicht zum Egoismus“, sagt eine Leserin. Es sind die Themen jenseits von Migration und Seehofer und AfD: Wohnen, Pflege, Rente – Alltagsthemen. Davon wünschen sie sich mehr.

Chefredakteur und Geschäftsführer sind am Abend zufrieden. Vielleicht, sagen sie, mache der „Stern“ ja noch mal so einen „Tag des Journalismus“, wer weiß. Gegen sechs Uhr schlurfen die Besucher dann raus, Richtung Landungsbrücken, nach Hause. Und stern.de twittert um 18:05 Uhr: „Hund beißt Wildgänse in Schlosspark: Vögel überleben die Attacke nicht“.

2 Kommentare

  1. So ähnlich stelle ich mir die Jahreshauptversammlung des Hasenzüchtervereins Bielefeld vor. Die Lokalpresse schaut höchstens 3 Minuten rein, schreibt einen genauso langen, aber extrem inhaltsleeren Artikel darüber.
    Allein schon für Ihr Beharren dort: Chapeau, Herr Rosenkranz!

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