Die Kolumne

Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Vor einigen Wochen ist Hermann Unterstöger gestorben, ein Journalist, der mit seiner leisen Ironie und seiner Liebe zur Sprache die „Süddeutsche Zeitung“ ganz besonders geprägt und verkörpert hat. „Hermann Unterstöger ist die SZ“, schrieb der ehemalige SZ-Chefredakteur Kurt Kister in seinem Nachruf.
Unterstöger war vor allem auch das „Streiflicht“, die „Leitglosse“, die seit über 79 Jahren links oben auf der Seite 1 der Zeitung erscheint. Im Laufe von 46 Jahren schrieb Unterstöger deutlich mehr als 3000 dieser Kolumnen, berichtete Kister – man muss sich da auf ihn verlassen, denn das „Streiflicht“ erscheint anonym und trägt nur das Kürzel „(SZ)“.
Es ist ein Ort, der einerseits in ganz besonderem Maß von der Individualität seiner Autoren lebt; davon, dass es ihnen gelingt, größere und vor allem kleinere Beobachtungen über den Zustand der Welt in ganz eigener, eigenwilliger Art miteinander zu verknüpfen. Und, andererseits, wegen der fehlenden Autorenangabe keinen Anreiz für eitles Gespreitze gibt.
Es gibt kein eigenes „Streiflicht“-Ressort, nur einen festen Stamm von regelmäßigen Schreibern und eine Konferenz früh am Morgen, in der ein Thema und ein Autor gesucht wird (seltener eine Autorin). Das „Streiflicht“ von heute zum Beispiel macht sich albern-klug Gedanken darüber, welche Form von Kunst am besten geeignet ist, „das irdische Dasein der Menschen, die sie feiert“, zu überdauern. Gegen die naheliegende Antwort Bildhauerei führt es ins Feld, es sei „dank diversen Marmorbüsten“ leider auch überliefert, „dass der römische Kaiser Titus einen unschönen Quadratschädel hatte“. Anlass ist eine Nachricht aus dem Vermischten: Ein britischer Musiker hat seinen Vater verewigt, indem er dessen Asche in die Griffbretteinlagen einer Gitarre einarbeiten ließ.
Zum 75. Geburtstag des „Streiflichts“, der „dienstältesten Glosse der Republik“, versuchten im Juni 2021 auf einer Doppelseite mehrere SZ-Autoren den besonderen Charakter dieser Kolumne zu erklären. Unterstöger erzählte von einem früheren SZ-Chefredakteur, der einem Neuling das „Streiflicht“ schmackhaft machen wollte, „indem er es mit einem Triptychon verglich und von der Befriedigung sprach, die daraus erwachse, dass man den Text ähnlich gestalte: die Hauptsache auf die Mitteltafel, die Nebensachen auf die Flügel, und wenn möglich Goldgrund dahinter“. (Vielleicht muss man dazu wissen, dass ein „Streiflicht“ immer aus drei Tafeln Absätzen besteht.)
Unterstöger fügte hinzu: „Daraus wird nur selten etwas, weil die Streiflichtcrew den Hauptsachen zugunsten der Nebensachen lieber aus dem Weg geht.“
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Das „Streiflicht“ findet, wenn es gelungen ist, in einer Nebensache etwas Hauptsächliches. Es ist eine leise Kolumne, die das vermeintlich Marginale würdigt und selbst eine vermeintliche Marginalie ist – mit der eingebauten Ironie, am denkbar prominentesten Platz zu stehen: oben links auf Seite 1. Wenn man eine Zeitung läse wie ein Buch, würde man die „Süddeutsche“ jeden Tag nicht mit der größten Nachricht beginnen, sondern mit der wichtigsten Nebensache: dem „Streiflicht“.
Aber wer liest schon eine Zeitung wie ein Buch? Und vor allem: Wer liest noch eine Zeitung als Zeitung?
Online hat das „Streiflicht“ – jenseits der hermetischen Welt des E-Papers – keinen eigenen Platz. Es ist da, die „Süddeutsche“ veröffentlicht es jeden Tag in seinem Politikressort, mal mit, mal ohne Paywall. Man kann es verlinken wie jeden anderen Artikel, den die „Süddeutsche“ online veröffentlicht, man kann es auch finden, wenn man die Suchfunktion nutzt und „Streiflicht“ eingibt, und es ist auch sauber verschlagwortet, sodass man auf einer eigenen Seite alle Artikel zum Thema „Streiflicht“ findet (inklusive aller „Streiflichter“).
Die SZ behandelt ihre sogenannte „Leitglosse“ online also immerhin nicht schlechter als Lego oder die Abnehmspritze oder Donald Trump, die auch alle jeweils eigene Themenseiten haben. Aber besser auch nicht.
An keiner Stelle auf der Internetseite oder in der Nachrichten-App der SZ ist das „Streiflicht“ irgendwo hervorgehoben, in keinem der Menüs über und unter und neben dem Zeitungskopf. In seinem Nachruf auf Unterstöger erklärt Kurt Kister Ort und Wesen des „Streiflichts“ sicherheitshalber „für jene Gelegenheitsnutzer, die es vielleicht auf der Homepage noch nicht gefunden haben“. Das klingt wie ein Seitenhieb gegen Menschen, die die „Süddeutsche“ aus unverständlichen Gründen nur gelegentlich nutzen statt regelmäßig, aber eigentlich ist es Seitenhieb gegen die Menschen, die für die Homepage der SZ verantwortlich sind.
Schon die Formulierung, dass das „Streiflicht“ „gefunden werden“ muss, klingt falsch. Es gehört zum Wesen dieser Kolumne, dass man sie nicht finden muss, sie ist jeden Tag unübersehbar an ihrem Platz links oben auf der Seite 1. Unübersehbar bedeutet nicht unüberlesbar, ich weiß nicht, wie viele Leute von diesem Angebot wirklich Gebrauch machen und ob die Quoten, wenn man sie messen könnte wie im Fernsehen, auch nur annähernd im Verhältnis stünden zu dem Mythos dieser Kolumne und der Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird.
Vielleicht ist eine solche „Leitglosse“ selbst in der gedruckten Zeitung ein Anachronismus. „Das Streiflicht gilt innerredaktionell alle zehn bis 15 Jahre als völlig überholt und nicht mehr zeitgemäß“, schrieb Kurt Kister 2021. („Dann hört man Dialoge wie diesen in der Konferenz: ‚Über das Streiflicht kann ich schon lange nicht mehr lachen.‘ Der diensthabende Streiflichtarchitekt antwortet dann: ‚Ich wusste gar nicht, dass Sie überhaupt über etwas lachen können.‘“)
Aber in der digitalen Welt wirkt es hoffnungslos verloren. Das ist kein Einzelschicksal, das geht vielen journalistischen Formen so, die davon leben, dass sie einen festen Platz in der Komposition eines abgeschlossenen Mediums haben. Das Internet atomisiert alles, beraubt es seines Kontextes. Ein Artikel, der aufgrund seiner Aufmachung oder seiner Platzierung in gedruckter Form den Leserinnen und Lesern deutlich vermittelt, dass er leicht gemeint und als Randbemerkung zu verstehen ist, steht online plötzlich mit dem gleichen Gewicht da wie ein Leitartikel oder eine Seite-3-Reportage – und ohne den Zusammenhang mit den Texten, die er vielleicht ergänzt.
Und das „Streiflicht“ lebt auch an seinen besten Tagen nicht von einer steilen These oder einer lauten Pointe und hat selten einen Inhalt, der sich gut in einem Social-Media-Post zusammenfassen oder mit einer Suchmaschinen-optimierten Überschrift verbreiten ließe.
Es liegt also schon auch in der Natur der Sache, dass das „Streiflicht“ online so wenig präsent ist, und doch ist es verblüffend, dass die SZ sich so gar keine Mühe zu geben scheint, wenigstens zu versuchen, ihm trotz allem einen angemessenen prominenten Platz in ihrer digitalen Welt einzurichten.
Kurt Kister schrieb:
„Auch wenn es mal keine gedruckte SZ mehr geben sollte, wird das Streiflicht weiter links oben auf der Eins stehen. Das Streiflicht lebt ewig, so wie von jetzt an Hermann Unterstöger ewig leben wird. Einer muss ja das ewige Streiflicht schreiben.“
Und das ist natürlich ein schöner und schön formulierter Gedanke, in seiner Kombination aus Pathos und Paradoxie. Aber noch schöner wär’s, wenn sich die SZ nicht auf die Ewigkeit verließe. Ich hatte beim Schreiben dieses Textes versehentlich mehrere Passagen über das Wesen des „Streiflichts“ schon in der Vergangenheitsform formuliert.
„Vor einige Wochen […]“
Stark, schon im zweiten Wort! ;-)
Danke für deine Arbeit – ich lese deine Beiträge sehr gerne!
„[…] dass die SZ sich so gar keine Mühe zu scheinen gibt, […]
Haha, sorry, der muss noch! :-)
Danke für die Hinweise, wir haben das korrigiert. Nehme ich als Schlussredakteur auf meine Kappe.
Beste Grüße
Alexander Graf // Übermedien
Wahre Worte. Solange mein Arbeitgeber die Papier-SZ im Abo hatte, habe ich morgens immer das Streiflicht gelesen. Online danach gesucht habe ich noch nie. Warum eigentlich?
Wenigstens einen Ehrenplatz auf der Homepage sollte die SZ der Kolumne gönnen – ähnlich wie die taz mit Toms „Touché“.
Und hier fehlt noch ein Leerzeichen:
„(…) nachrichtlicher Text interpretiert sieht.Man sollte denken (…).“
Verstehe nicht ganz, was der Autor meint. Das Format der Meinungskolumne überhaupt? (In einem Text, der eine Meinungskolumne ist.)
Geht (mir) mit der Kolumne auf der „Wahrheit-Seite“ der taz ebenso. Früher in Papierform galt ihr mein erster Blick und sie war immer der erste komplett zu lesende Text – „Warum fängst du denn immer hinten an zu lesen? – Weil da Wiglaf Droste, Corinna Stegemann, Fanny Müller, Deniz Yücel … schreiben.“
Heute online suche ich sie selten, freu mich aber, wenn sie auftaucht.
Irgendwo hab ich noch meinen Wahrheit-Club-Ausweis aus den 1990ern verbuddelt.
Herr Niggemeier wächst seit der Neustrukturierung des Formats zunehmend in die Rolle des Team-Liberos – und das mit einer kaum überraschenden Selbstverständlichkeit.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen.