Die „Welt am Sonntag“ stellt die Integrität des NDR-Investigativjournalisten John Goetz in Frage. Das Blatt unterstellt Goetz in einem Artikel, im Jahr 2016 eine Nacht in der Botschaft Ecuadors in London verbracht zu haben – bei Julian Assange, über den Goetz berichtete. NDR und Goetz wehren sich gegen die Vorwürfe. Nach einer Abmahnung durch den Journalisten hat der Verlag Axel Springer eine Unterlassungserklärung abgegeben. Übermedien-Recherchen zeigen: Die „Welt am Sonntag“ hat offenbar unsauber recherchiert.
Eigentlich geht es in dem Artikel der „Welt am Sonntag“ (WamS) um Wikileaks-Gründer Julian Assange. Der klagt gegen den Spanier David Morales und wirft ihm vor, ihn für die CIA ausspioniert zu haben. Und zwar in der Zeit, in der Assange in der Botschaft Ecuadors in London politisches Asyl erhalten hatte und Morales‘ Firma Undercover Global in der Botschaft für Sicherheit und Ordnung sorgen sollte.
Im WamS-Artikel „Gefangen im Verdacht“ geben die Autoren Wolfgang Büscher, David Jiménez und Tim Röhn der Version von Morales viel Platz. Er glaube, er werde „in einem politischen Spiel, inszeniert von Julian Assanges Anwälten und hochrangigen Juristen der spanischen Justiz“ als Faustpfad benutzt, „um Assanges Auslieferung in die USA zu verhindern“.
„Freund und Gefährte oder alles auf einmal?“
Der Artikel erscheint auf vier Seiten in der Frühausgabe der WamS am vergangenen Samstag. In zwei von acht Kapiteln, in denen die Zeitung die Geschichte erzählt, geht es etwas überraschend auch um John Goetz. Der amerikanische Enthüllungsjournalist, der seit vielen Jahren in Deutschland für Medien wie die „Süddeutsche Zeitung“, den „Spiegel“ und den NDR arbeitet, hat in den USA ebenfalls Klage gegen CIA und Morales eingereicht wegen des Verdachts, rechtswidrig ausspioniert worden zu sein. Goetz hatte in der Vergangenheit über Assange berichtet, ihn interviewt und persönlich getroffen, auch in der Botschaft in London. Ein konkretes Treffen nimmt die WamS zum Anlass, um – vorsichtig formuliert – über die journalistische Distanz von Goetz zu Assange zu spekulieren.
Der Zeitung liegt eine Liste von Undercover Global mit angeblichen Besuchszeiten vor, auf die sie sich beruft:
„Zu seinem 45. Geburtstag am 3. Juli 2016 lud Assange sechs Freunde ein. […] Der sechste Gast war Goetz. Er blieb als einziger über Nacht. Die Liste hält es akribisch fest: von 15:52 Uhr bis um 10:52 Uhr am Tag darauf. Selbstverständlich ist es das Recht von wem auch immer mit wem auch immer Geburtstag zu feiern, wie nächtelang auch immer.“
Die WamS fragt:
„Aber ist es nicht auch das Recht der Öffentlichkeit, der ein Journalist immer wieder brisante Informationen zuspielt, zu erfahren, in welcher Beziehung der zur Quelle dieser Information steht?“
Und fragt weiter zu Goetz:
„In welcher Rolle agiert er eigentlich – als Journalist mit einer Armlänge Abstand zum Berichtsobjekt oder als dessen Freund und Gefährte oder alles auf einmal? Zur Glanzzeit von Wikileaks war Goetz dafür bekannt, kurz bevor die Plattform wieder ein amerikanisches Staatsgeheimnis preisgab, dieses vorab in deutschen Medien zu publizieren.“
John Goetz
John Goetz arbeitet seit vielen Jahren unter anderem für das NDR-Politikmagazin „Panorama“, die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Spiegel“. Er interviewte Edward Snowden und Julian Assange und wurde, gemeinsam mit weiteren Autoren, für Recherchen zum Nato-Angriff in Kunduz mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Im Übermedien-Podcast sprach er 2021 gemeinsam mit Elena Kuch über die Frage: Ist der Umgang mit Julian Assange ein Angriff auf die Pressefreiheit?
Nach Erscheinen der Frühausgabe fordert Goetz‘ Anwalt den Verlag Axel Springer auf, die Äußerungen über die angebliche Übernachtung zu unterlassen. Er schreibt:
„Tatsächlich hat der Mandant die Botschaft um 22.52 Uhr verlassen und ist um 7.00 Uhr in der Frühe nach Berlin zurückgeflogen. Dass [sic] ist alles leicht beweisbar und erweislich wahr.“
Auch wird der Anzahl der Gäste widersprochen: mindestens zwölf Personen seien anwesend gewesen. Und weiter: „Der Mandant [Goetz] hatte vor der Feier einen journalistischen Termin und ist zeitweise während der Zusammenkunft dabei geblieben.“
Das Schreiben zeigt Wirkung. In der Sonntagsausgabe (sowie in der Online-Version) sind mehrere Stellen geändert:
Trotz der Korrekturen spekuliert der Artikel weiter munter – wie schon in der Frühausgabe – über Goetz‘ Verhältnis zu Assange. Die Frage nach „Freund und Gefährte oder alles auf einmal“ ist ebenso geblieben wie der raunende (und gegen einen Investigativjournalisten gerichtet: absurde) Vorwurf, Goetz sei dafür bekannt gewesen, über Wikileaks-Dokumente zu berichten, ehe es andere konnten.
Der NDR hatte eine Anfrage der „Welt am Sonntag“, ob der NDR Goetz „alle seine Reisen, auch die zu Assanges Geburtstag bezahlt habe“, mit Verweis auf den Quellenschutz nicht im Detail beantwortet, aber auf die grundsätzliche Kostenübernahme bei Recherchereisen verwiesen. Die „Welt am Sonntag“ tut das mit dem Nachsatz ab: „Ein Dementi ist das nicht.“
Der NDR hatte in seiner Antwort auf die WamS-Anfrage „vorsorglich“ darauf hingewiesen, „dass sich bei genauer Befassung, Unterlagen von UC Global immer wieder als fehlerhaft, lückenhaft und mitunter falsch erwiesen haben“. Die WamS hat das aber in ihrem Artikel weder zitiert – noch die Warnung berücksichtigt.
In ihrer insgesamt zehn Fragen umfassenden Anfrage an Goetz und NDR hatte die „Welt am Sonntag“ nach einer Sache nicht gefragt: der angeblichen Übernachtung in der Botschaft. Gegenüber Übermedien sagt Goetz: „Diese Behauptung ist falsch. Ich habe dort nicht übernachtet.“ Und: „Die Welt hatte mir zahlreiche Fragen geschickt, mit dieser entscheidenden Tatsachenbehauptung hat sie mich nicht konfrontiert. Denn mit dieser – falschen – Behauptung versucht die Welt meines Erachtens, ein privates Verhältnis zwischen mir und Julian Assange zu insinuieren.“ Auch der NDR schreibt: „Die Welt hat dem NDR die Fragen nach Besuchen in der ecuadorianischen Botschaft gestellt, nicht aber mit der falschen Tatsachenbehauptung der Übernachtung konfrontiert.“
Auf Übermedien-Anfrage heißt es vom Verlag Axel Springer:
„Der Redaktion liegt u.a. die ‚Listado de visitas‘ von UC Global für den Juli 2016 vor. Laut dieser Liste erschien Herr Goetz am 3. 7. 2016 um 15.52 Uhr in der ecuadorianischen Botschaft in London und verließ sie um 10.52 Uhr. Als Besuchsgrund ist, wie bei den anderen Partygästen auch, eingetragen: ‚Cumpleanos‘ – Geburtstag. Für uns gab es keine Veranlassung, an der Richtigkeit der UC-Angaben zu zweifeln.“
Doch hätten die Autoren Wolfgang Büscher, David Jiménez und Tim Röhn nicht spätestens durch den NDR-Hinweis Veranlassung gehabt, ihre eigene Information zu prüfen? Es gibt mehrere Hinweise, dass es sich dabei lediglich um einen Fehler der Sicherheitsfirma beim Erfassen der Uhrzeit handelt. Zum Beispiel ist die Uhrzeit „10:52 Uhr“ in der Tabelle, auf die die „Welt am Sonntag“ sich bezieht, unter demselben Datum wie der Beginn des Besuchs (3. Juli 2016) eingetragen.
Und es gibt ein weiteres Dokument, in dem Ankunfts- und Abreisezeiten von Goetz und anderen Gästen an jenem Tag erfasst wurden, handschriftlich, offenbar vom Sicherheitsservice der Botschaft. Das Dokument stützt die Behauptung des NDR von lücken- und fehlerhaften Dokumenten.
Der NDR sagt, er habe „diverse Nachweise“ dafür, dass Goetz nicht in der Botschaft übernachtet hat. Übermedien liegen Kopien von Flugtickets und einer Hotelbuchung für die entsprechende Nacht vor, die das stützen.
Zugeständnis, Unterwerfung, Attacke
Offenbar beinhaltet die Tabelle also einen simplen Fehler: Aus 22:52 Uhr wurde 10:52 Uhr. Das scheint man inzwischen sogar bei Axel Springer so zu sehen und verweist auf die entsprechenden Änderungen in der Spätausgabe – erklärt es aber für irrelevant:
„(…) Kern unserer Berichterstattung war und bleibt die Tatsache, dass Herr Goetz an der privaten Geburtstagsfeier von Herrn Assange teilgenommen hat. Ob er sieben Stunden bei der Party blieb, wie er selbst es sagt, oder länger, wie die UC-Liste es behauptet, ist völlig unerheblich. Was unstrittig bleibt: Er hat Assange an dessen Geburtstag in der Botschaft besucht und ist dort rund sieben Stunden geblieben. (…)
Wir berichten über die im Besuchsprotokoll ausgewiesene und von Herrn Goetz unbestrittene Tatsache seiner Teilnahme an besagter Geburtstagsfeier – und nicht über einen Verdacht, zu dem wir Herrn Goetz sorgfältigerweise hätten konfrontieren müssen.“
Der Verlag erwähnt in seiner umfassenden Antwort mehrfach, dass Goetz Gesprächsangebote nicht wahrgenommen habe. Er betont außerdem, dass der Fokus auf der Teilnahme an der Geburtstagsfeier selbst liege. Der veröffentlichte Artikel spricht aber eine andere Sprache: Die angebliche Übernachtung ist hier der Aufhänger, um ein besonderes Näheverhältnis von Assange und Goetz zu insinuieren.
Beim NDR bewertet man den Artikel der „Welt am Sonntag“ entsprechend als „gescheiterten Versuch, unseren Mitarbeiter mit der Andeutung zu diskreditieren, er habe ein nicht nur berufliches Verhältnis zu Julian Assange. Denn das für diese Andeutung genannte stärkste Indiz ist eine Falschbehauptung.“ Der Sender teilt mit, seinen Mitarbeiter John Goetz bei weiteren juristischen Schritten zu unterstützen.
Springer hat sich verpflichtet, die Übernachtungs-Behauptung nicht mehr zu verbreiten. Die Korrektur soll in der nächsten Frühausgabe der „Welt am Sonntag“ transparent gemacht werden. Inzwischen hat den Verlag eine weitere Unterlassungsaufforderung erreicht: Auch die Formulierung in der Sonntagsausgabe, wonach Goetz laut der UC-Liste „bis um 10.52 am Tag danach“ blieb, solle künftig unterlassen werden.
Die „Welt am Sonntag“-Autoren geben sich trotz alledem nicht zerknirscht. Wolfgang Büscher hat sich in der Zwischenzeit erneut mit einem Fragenkatalog an Goetz und den NDR gewandt. Die Beauftragung des Anwaltes habe die Zeitung „ermuntert, in der Recherche fortzufahren. Wir haben neue Fragen und bitten, sie nicht unbeantwortet zu lassen wie zuletzt.“
Der Autor
Frederik von Castell ist Redaktionsleiter von Übermedien. Als Datenjournalist und Faktenchecker war er unter anderem für HR, SWR und dpa tätig. Von Castell ist außerdem Recherchetrainer, unter anderem am Journalistischen Seminar Mainz.
3 Kommentare
Kann es sein, dass der fragliche Zeitpunkt lediglich in der englischen Form als 10:52 pm eingetragen wurde, die der (deutschen) Uhrzeit 22:52 entspricht?
Wieso ist die Aussage „Zur Glanzzeit von Wikileaks war Goetz dafür bekannt, kurz bevor die Plattform wieder ein amerikanisches Staatsgeheimnis preisgab, dieses vorab in deutschen Medien zu publizieren“ ein „raunende[r] […] Vorwurf“?
@ Stefan Lütgens: Die Vermutung gab es offenbar zunächst, sie hat sich aber nicht bewahrheitet. Die anderen Einträge sind (sofern sie denn stimmen) in der uns gewohnten Zeitform im 24h-Format vom spanischen Sicherheitsdienst eingetragen. Bei Goetz steht tatsächlich „10:52“. Tim Röhn hat den Ausschnitt, der uns auch vorliegt, eben auf Twitter geschwärzt geteilt: https://twitter.com/Tim_Roehn/status/1679437464350466051
Beim anderen Dokument oben im Text kann man erahnen, dass es mit dem „10“/ „22“ offenbar mehrfach Probleme gibt – oder dass das Dokument oben ggf. schlicht die Grundlage für den offenbar fehlerhaften Eintrag in die Tabelle war.
@Timo Rieg: Der Absatz im WamS-Artikel lautet vollständig:
„Und John Goetz selbst? In welcher Rolle agiert er eigentlich – als Journalist mit einer Armlänge Abstand zum Berichtsobjekt oder als dessen Freund und Gefährte oder alles auf einmal? Zur Glanzzeit von Wikileaks war Goetz dafür bekannt, kurz bevor die Plattform wieder ein amerikanisches Staatsgeheimnis preisgab, dieses vorab in deutschen Medien zu publizieren. Goetz beantwortete entsprechende Fragen nicht und verwies lediglich auf die Antworten des NDR.“
Kann es sein, dass der fragliche Zeitpunkt lediglich in der englischen Form als 10:52 pm eingetragen wurde, die der (deutschen) Uhrzeit 22:52 entspricht?
Wieso ist die Aussage „Zur Glanzzeit von Wikileaks war Goetz dafür bekannt, kurz bevor die Plattform wieder ein amerikanisches Staatsgeheimnis preisgab, dieses vorab in deutschen Medien zu publizieren“ ein „raunende[r] […] Vorwurf“?
@ Stefan Lütgens: Die Vermutung gab es offenbar zunächst, sie hat sich aber nicht bewahrheitet. Die anderen Einträge sind (sofern sie denn stimmen) in der uns gewohnten Zeitform im 24h-Format vom spanischen Sicherheitsdienst eingetragen. Bei Goetz steht tatsächlich „10:52“. Tim Röhn hat den Ausschnitt, der uns auch vorliegt, eben auf Twitter geschwärzt geteilt: https://twitter.com/Tim_Roehn/status/1679437464350466051
Beim anderen Dokument oben im Text kann man erahnen, dass es mit dem „10“/ „22“ offenbar mehrfach Probleme gibt – oder dass das Dokument oben ggf. schlicht die Grundlage für den offenbar fehlerhaften Eintrag in die Tabelle war.
@Timo Rieg: Der Absatz im WamS-Artikel lautet vollständig:
„Und John Goetz selbst? In welcher Rolle agiert er eigentlich – als Journalist mit einer Armlänge Abstand zum Berichtsobjekt oder als dessen Freund und Gefährte oder alles auf einmal? Zur Glanzzeit von Wikileaks war Goetz dafür bekannt, kurz bevor die Plattform wieder ein amerikanisches Staatsgeheimnis preisgab, dieses vorab in deutschen Medien zu publizieren. Goetz beantwortete entsprechende Fragen nicht und verwies lediglich auf die Antworten des NDR.“
(https://www.welt.de/politik/deutschland/plus246288526/Wikileaks-Der-Mann-der-Julian-Assange-ausspioniert-haben-soll.html)
Ich glaube, die Fragen direkt davor begründen meine Einschätzung eines „Raunens“.