Bahnhofskiosk

Eigentlich hätten wir nicht erwachsen werden sollen

Okay, das wird jetzt unangenehm. Ich mache, was ich mir fest vorgenommen hatte nie zu machen und beschäftige mich mit einer Zeitschrift, bei der ich viele Leute kenne, viele sehr, sehr schätze oder sogar als Freunde betrachte. Die Offenlegung hier am Anfang wird wahrscheinlich so lang wie der Rest des Textes.

„Neon“ ist sicher eins der speziellsten und auch originellsten Magazinprojekte in Deutschland, und ja, ich meine aller Zeiten. Es hat den Geist des alten „Jetzt“-Magazins übertragen von einer Zeitungsbeilage in die Welt der bezahlten Zeitschriften und dabei aus meiner Sicht mindestens zwei Dinge bewiesen. Erstens: Es gibt nichts Wertvolleres für eine Magazinmarke als den Spirit, diese wunderbare Verschwörung zwischen Leser und Redaktion, die Identifikation schafft durch Integration nach innen und Abschottung nach außen. Zweitens: Die Nischen im deutschsprachigen Markt sind so groß, dass man ein Nischenmagazin machen kann, das wie ein Mainstreammagazin verkauft, wenn man die Nische gut ausschöpft.

Das Prinzip ist nicht so kompliziert: Be everything for somebody instead of something for everybody. „Neon“ hat bewiesen, wie viele Somebodys es gibt, selbst wenn man sie manchmal nur schwer als Zielgruppe zusammenfassen kann. Aber das Prinzip ist sehr schwer durchzuhalten, wenn eine Anzeigenabteilung darauf drängt, dass es noch zwei Autoseiten und vier über Kosmetik geben muss, damit man entsprechende Anzeigen dort platzieren kann. Egal, anderes Thema.

Ich kenne also sehr viele aktuelle und ehemalige „Neon“-Mitarbeiter inklusive aller ehemaligen „Neon“-Chefredakteure und ich mag alle. Ich kenne die aktuelle, sehr neue „Neon“-Chefredakteurin nicht und deshalb ist das ein total bekloppter Moment für mich, mir das Heft anzugucken. Aber auf der anderen Seite hat mich das neue, erste Cover der neuen Chefredaktion sehr gewundert, und ich will auch nicht verschämt feige sein, deshalb: Ich rede jetzt drüber. Punkt.

Das Titelthema der aktuellen Ausgabe von „Neon“ ist „Besser schlafen“. Das Motiv ist eine junge Frau, die aussieht, wie wir alle gerne aussähen beim Schlafen: zauberhaft und sexy und unpeinlich. Wenn ihr Leben in der Sekunde ihres Todes einmal rasend schnell vor ihrem inneren Auge abläuft, wird sie das Drittel der Zeit lieben, in der sie geschlafen hat, weil sie dabei einfach fantastisch aussah.

Allerdings ist Schlaf immer noch Schlaf und als Titelthema eines jungen Magazins sehr doll nicht das, was ich erwarten würde. Es klingt nach einem der Ratgeberthemen, wie sie der „Stern“ machen würde (der auf irgendeine unerfindliche Art ja ein Mutterblatt von „Neon“ sein soll; aus meiner Sicht ist das aber eher eine verlagspolitische Verortung innerhalb des Hauses Gruner & Jahr als dass es einen inhaltlichen Sinn ergeben würde).

Mein erster Gedanke war … okay, den kann man nicht sagen. Mein zweiter war: „Besser WAS?????“ Und ich hasse es, wenn ich in Gedanken viele Satzzeichen benutze, ich hasse es total.

Nun ist die böse Realität aber, dass „Neon“ seit gefühlten Ewigkeiten in der Auflage abschmiert. Im letzten Quartal lagen die Verkäufe 30 Prozent unter dem Vorjahreszeitraum, und das sind selbst in diesen Zeiten keine guten Zahlen. Dass die neue Chefredakteurin etwas anders machen muss, ist also klar, und Unerwartetes, Überraschendes kann ja genau ein Rezept sein. Ich würde mir deshalb gerne Cover und Titelgeschichte angucken und darüber nachdenken, ob das ein viel versprechender Weg ist, und in einem Jahr können wir feststellen, dass ich total daneben lag*.

Guter Schlaf ist ein Thema. Ohne jede Frage. Er wird in Altersheimen diskutiert und unter Männern mit beginnender Midlife-Crisis, die zu wenig verdienen, um sich nicht zu beklagen, und zu viel, um irgendwas zu ändern, oder wie ich sie nenne: unter Alt- und Neo-Schnapstrinkern. Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, sie alle lesen nicht „Neon“, und wenn doch, dann ist das nicht nachhaltig.

Die Frage ist: Haben die – Vorsicht gefährliches Wort – durchschnittlichen „Neon“-Leser Schlafprobleme? Ich habe keine Ahnung. Ich bin zu alt, um das von mir und meinem Umfeld abzuleiten. Ich halte es für möglich, aber ich hoffe es ganz doll nicht. Und falls sie keine haben: Finden sie das Thema aus anderen Gründen – Schadenfreude, sexy Titelschlafmodel, Schnapstrinkerfreunde etc. – interessant genug, darüber lesen zu wollen? Das hoffe ich noch mehr nicht.

Gehen wir aber davon aus, dass sich die „Neon“-Redaktion damit mehr beschäftigt hat als ich jetzt und dass sie Schlafprobleme als ein echtes Thema in der Leserschaft identifiziert haben. Dann erwartet die im Heftinneren eine Strecke von dreieinhalb Geschichten zum Thema: eine Zusammenfassung dazu, dass immer mehr Unternehmen und Start-Ups unseren Schlaf als Lifestyle-Thema begreifen**; eine Seite mit Einschlaftipps; ein Essay darüber, wie ein Tagmensch die Nacht für sich entdeckt, und ein Selbstversuch zu dem offenbar propagierten Trend, statt acht Stunden am Stück lieber nur sechs mal 20 Minuten pro Tag zu schlafen.

Es sind drei sehr gute Autoren***, schön geschriebene Geschichten und sie schaffen es trotzdem höchstens auf einer Meta-Ebene, dass ich besser schlafe: Es ist ein bisschen langweilig. Ich glaube bei aller Liebe, das ist kein Titelthema für „Neon“.

Ganz am Anfang hatte „Neon“ einen Claim, ich glaube, bei den ersten Ausgaben stand er sogar noch auf dem Titel, der hieß: „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“. Er hat grandios zusammengefasst, worum es in dem Heft geht: Das Lebensgefühl derjenigen, die poetisch daran scheitern, ihren Alltag vernünftig zu überstehen, sondern stattdessen albern sind, sich verlieben, an keinem Tresen vorbeigehen können und im Büro immer so tun, als wüssten sie, wovon die Menschen mit den ernsten Gesichtern reden. „Neon“ war eine Insel für diejenigen, die die Welt um sie herum ansahen wie einen interessanten, leicht verunsichernden und nie ganz zu verstehenden Film, der aber einen grandiosen Soundtrack hat. Nicht erwachsen zu werden war der umgekehrte Matrix-Effekt: So lange man diese blaue Pille nicht geschluckt hat, konnte man die leicht absurde, beängstigend schöne Welt noch sehen, wie sie wirklich ist. Einmal erwachsen ist das dann vorbei.

Ich glaube, schlafen lernen ist erwachsen werden. Als Vater einer Neunjährigen, die gerade wieder nicht einschlafen kann und deshalb abends neben mir „Die Fünf Freunde“ hört**** bin ich sogar überzeugt, es gibt überhaupt keine bessere Metapher fürs erwachsen werden, als schlafen zu lernen.

Insofern: „Besser schlafen“? Go home, „Neon“, you’re not drunk enough!

Neon
Stern Medien GmbH
3,70 Euro

*) Wobei man fairerweise in diesen Zeiten, in denen sich Leser offensichtlich von Zeitschriften entwöhnen, feststellen muss, dass Chefredakteure Auflage verlieren können, ohne dafür etwas falsch machen zu müssen.

**) Ich kriege tatsächlich jeden Tag auf Facebook Werbung von Firmen eingeblendet, die behaupten, sie würden die beste Matratze der Welt machen, die einen Frauennamen hat und die ich ungefähr mein ganzes Leben lang testen kann und dann zurückgeben. Dabei weiß jeder, dass die besten Matratzen der Welt von der (zufällig griechischen) Firma Coco-Mat kommen. JEDER!

***) Zwei von ihnen kenne ich persönlich und sie sind auch noch sehr nette, fast schon unanständig attraktive Menschen und ganz allgemein eine Bereicherung für die Gesellschaft und den Planeten.

****) Hoffentlich sterben die bald.

9 Kommentare

  1. Ich bin auch vor nicht allzu langer Zeit der NEON „entwachsen“, vermutlich ungefähr dann, als das ungefähr siebenundachtzigste Redesign kam. Ich habe die Zeitung sehr gemocht, sie mir jeden Monat von meinem schmalen Studentenmoney abgezwackt und sogar fast immer komplett gelesen.

    Aber nach mir kamen irgendwie keine neuen Leser mehr. Die NEON hat ein paar Studentengenerationen wunderbar begleitet und ich mochte diesen hier beschriebenen Claim mit dem „Wir müssen echt irgendwann mal erwachsen werden.“wirklich sehr. Und dann bin ich wirklich erwachsen geworden.

  2. Grandios geschrieben, vielen Dank dafür! Ich habe bekennende Neon-Leser immer bewundert aufgrund Ihres zur Schau gestellten Nicht-Erwachsen-Werden-Wollens … ich glaub das ist jetzt vorbei.

  3. Diese vielen Fußnoten in Kombination mit ihrer Formattierung werden gefährlich. Habe jetzt im ersten Moment statt auf *** auf **** geschaut:
    „Es sind drei sehr gute Autoren“ => „Hoffentlich sterben die bald.“
    Ich war, gelinde gesagt, verwundert. So viel Neid?

    Allgemein mag ich diese Kolumne sehr, diesmal konnte ich aber eher wenig damit anfangen. Statt mir die Zeitschrift vorzustellen, schien es, als würden Sie hauptsächlich die Redaktion für die Titelstory abkanzeln wollen. (Aber vielleicht bin ich als jemand, der die „Neon“ noch nicht kennt, auch einfach so in der Minderheit, dass das allgemein schon Sinn macht.)

    Außerdem, Tippfehler: „Menschen mit den ersten Gesichtern“

  4. „Das Motiv ist eine junge Frau, die aussieht, wie wir alle gerne aussähen beim Schlafen: zauberhaft und sexy und unpeinlich. Wenn ihr Leben in der Sekunde ihres Todes einmal rasend schnell vor ihrem inneren Auge abläuft, wird sie das Drittel der Zeit lieben, in der sie geschlafen hat, weil sie dabei einfach fantastisch aussah.“

    Hach MP, ick liebe dir! xD

  5. Da ich eine chronische Krankheit habe und Schlafprobleme eine der Begleiterscheinungen sind, muss ich aus diesem Grund leider der Aussage „Ich glaube, schlafen lernen ist erwachsen werden“ freundlich widersprechen. Und ja, hier spricht eine Minderheit, das weiß ich – also nicht so ernst nehmen, ja? Pretty please :-)

    Dass ich mich als 32jährige Frau problemlos in die Mittagstischgespräche diesbezüglich mit meinen Mitfünziger Kolleginnen und Kollegen einklinken kann, hinterlässt bei mir schon ein kleines „Geschmäckle“. Ich hoffe, ich fange nicht auch bald an die Zeit bis zur Rente zu zählen.
    Erwachsensein und somit schlaflose Nächste, das habe ich immer mit mittlerem bis höherem Alter und/oder Elternsein assoziiert.
    Beides trifft bei mir nicht zu und somit schreie ich es heraus: 30 ist das neue 20 und ich will erholsamen Schlaf, verdammt! :-)

  6. Wieso schreibt der Autor nicht dazu, dass er der Schwager des abgesägten Chefredakteurs ist? Und Ex-Autor des Ex-Magazins der Ex-Chefredakteurin? Das wäre etwas transparenter und ehrlicher und man würde verstehen, wieso der Autor nun in der 14-jährigen Geschichte erstmals zu diesem Zeitpunkt über das Heft schreibt. Einfach nur verlogen und peinlich. Soll ich noch dazu schreiben, wie gutaussehend und nett ich den Autoren finde?

  7. Ja, bitte: wie gutaussehend? Aber ich habe gedacht, ich hätte das gesagt: Ich kenne alle Ex-Chefredakteure, habe für alle Ex-Chefredakteure und auch NEON selbst schon geschrieben, bin mit vielen ehemaligen und aktuellen „Neon“-Autoren befreundet und ich bin tatsächlich der Schwager des noch aktuellen stellvertretenden Chefredakteurs, der insofern von mir in meinem Text mit kritisiert wird, und mit dem ich vor dem Schreiben genau deshalb nicht darüber gesprochen habe (und der sich im übrigen nicht über meinen Text gefreut hat, falls das hier impliziert werden sollte). Insofern hätte ich (und das schreibe ich ja auch) es eher feige und verlogen gefunden, den Titel nicht zu kritisieren. Zur 14-jährigen Geschichte: Ich schreibe diese Kolumne erst seit etwa einem halben Jahr, insofern musste ich meine Kritik an „Neon“, wenn es welche gab, immer direkt dort abladen und ich bin mir ziemlich sicher, alle Chefredakteure, die „Neon“ je hatte, werden bestätigen, dass ich das umfassend und manchmal unflätig getan habe. Und nur nebenbei: Ich könnte überhaupt keine Zeitschriften kritisieren, wenn ich immer darauf Rücksicht nehmen müsste, wen ich dort kenne und mag, oder für wen ich schon geschrieben habe, denn ich mache das ja schon eine Weile. Ich werde allerdings keine Hefte kritisieren, die in direkter Konkurrenz zu Heften stehen, für die ich regelmäßig schreibe. Interessieren würde mich tatsächlich, ob es irgendeine Anmerkung zur inhaltlichen Kritik gibt, die ich geübt habe?

  8. Nochmal zum Thema Fußnoten: Könntet ihr die nicht einfach verlinken und dort dann wieder ne Sprungmarke nach oben platzieren? Oder die gleich als Mouseover/Hover-Text platzieren. Ständig nach unten und wieder hoch scrollen oder versuchen, die vier Textstellen im Kopf zu behalten, bis man am Ende angelangt ist, kann ja nicht die Lösung für einen Online-Text sein, oder?

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