Bahnhofskiosk

Ein Magazin wie „Landlust“, nur ohne Land und Lust

Ideen entstehen aus beobachtetem Mangel, jedenfalls die meisten erfolgreichen Geschäftsideen im Kapitalismus, der wie kein anderes System in der Lage ist, Mangel auszumerzen.* Der simpelste Weg dazu ist, eine Zielgruppe zu entdecken, und dann ganz laut zu rufen: „Und die haben noch kein Heft!“

Bei der Motorpresse in Stuttgart hat man das gemacht, und das Ergebnis ist ein Heft, dass von mir so unbemerkt auf den Markt gekommen ist, dass ich es diese Woche gekauft habe, obwohl es offenbar seit Monaten im Regal liegt – in einer Geschichte gibt es Vorberichte zu den Olympischen Spielen in Rio im August. Ich bespreche es trotzdem, weil ich mir einigermaßen sicher bin, dass diese erste Ausgabe von „Central – Stadt. Lust. Leben.“ auch die letzte sein wird. Eine weitere Gelegenheit werde ich vielleicht nicht bekommen, und es wäre schade, die Gelegenheit auszulassen, weil „Central“ einmal als Ausstellungsstück im Medienkrisenmuseum enden wird, als Beleg dafür, wie unglaublich selber schuld wir waren.

Ich pitche jetzt mal die Idee für „Central“: Drei Viertel aller Menschen leben heute in der Stadt! Städte sind ungeheuer aufregend! Eine neue Generation von bewussten jungen Menschen entwickelt die Städte gerade neu, zu lebenswerten Oasen innovativer urbaner Lebensformen! UND SIE HABEN NOCH KEIN MAGAZIN!

Es sind nicht die Zeiten, in denen Verlage leicht dazu zu bewegen sind, Geld für Neues auszugeben, insofern muss man kurz innehalten und gratulieren zu dem Mut. *kurzes betretenes Schweigen* Aber wenn man es denn dann macht, muss man es für Hefte ausgeben, deren Kernproblem so offensichtlich ist?

Hier kommt eine Liste von Themen aus der ersten Ausgabe von „Central“: Vintage-Stahlrennräder, wasserdichte Commuter-Mode, Clean Eating (Essen ohne Zusatzstoffe essen), wiederverwendbare Coffee-to-go-Becher, Imkern in der Stadt, eigenes Craft-Bier brauen, neue Wohnformen, kostenloses W-LAN, so spart man CO2, Urban Farming, Car Sharing vs. ÖPNV, ein Hackathon, Skateboarden, Friedhöfe als Oasen der Ruhe, Graffiti.

Das ist noch nicht ganz alles, aber ich kann nicht arbeiten, wenn alle auf dem Boden liegen und lachen. Es ist unfassbar: Haargenau das käme heraus, wenn die Autoren einer ZDF-Vorabendserie Hipsterklischees brainstormen sollten. Bis auf das Skateboarden vielleicht, das wäre ihnen zu alt. Und das Graffiti … ach, vergesst es.

Hipster selbst kaufen ja keine Magazine mit Hipsterklischees, sondern funky Zeug wie das spanische Alternative-Interior-Magazine „Apartamento“ oder das überelegisch großartige „Kinfolk“. Und sie können schon deswegen nicht Zielgruppe von „Central“ sein, weil die Optik des Magazins so unvorstellbar bieder und langweilig ist, dass ich diesen Satz nicht.

Die Modestrecke mit der Fahrrad-Pendler-Klamotte ist tatsächlich das singulär spießigste Stück Fashionfotografie aller Zeiten, weltweit. Es ist ein Monument. Der Hitlerbunker der Modestrecken. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, das alles noch schlimmer zu machen, und mit der Präzision einer Hiroshima-Bombe hat die Redaktion sie gefunden: Die Headline zu der Geschichte ist „Stadtschick“. (Die Headlines des gesamten Heftes bekommen eine eigene Abteilung im Medienkrisenmuseum.)

Nun muss man zu Zielgruppen sagen, dass sie nicht dem Personal des Heftes entsprechen müssen. Bei Promi-Magazinen ist das klar, aber auch Lifestyle-Magazine sprechen nicht unbedingt Menschen an, die so oder so ähnlich sind wie die Menschen im Heft. Der „Playboy“ wird nicht unbedingt von Playboys gelesen. Ein Hipster-Magazin im Sinne eines Magazins über Hipster könnte Sinn ergeben, wenn man sie als „Meinungsführer Lifestyle“ behandeln und glauben würde, es gäbe genug, die ihren Lebensstil so bewundern, dass sie ihm gerne medial folgen würden. Wie den Kardashians auf Instagram, nur mit Craft-Bier und Honig. Auf Papier. In bieder. Aber dafür ist es auch nicht konsequent genug.

Ein Magazin für Menschen zu machen, die gerne in der Stadt wohnen, weil so viele Menschen gerne in der Stadt wohnen, ist ungefähr so, als würde ich ein Magazin für Menschen machen, die ein bisschen dick sind, weil viele Menschen ein bisschen dick sind. Nur ohne die Ironie. Der gemeinsame Nenner ist Unsinn. Und ich glaube, er ist tatsächlich aus einem Gedanken entstanden, den ich in den letzten Jahren, seit dem unfassbaren Erfolg von „Landlust“, gefühlte 9000 mal gehört habe: Man müsste mal so etwas machen wie „Landlust“ für die Stadt.

Nein. Also ja, könnte man, aber dafür müsste man die Sehnsucht identifizieren, die „Landlust“ erfolgreich macht, und die korrespondierende Sehnsucht bei Menschen in der Stadt, und dann ein Magazin machen, das nicht darüber berichtet, sondern in vielen kleinen Facetten die vielen kleinen Details des Lebens zum Thema hat, nach dem sich Menschen sehnen. Ein Magazin für Alkoholiker müsste nicht von Schnaps handeln, sondern von Liebe.** Und umgekehrt. Leider.

Ein Magazin darüber, wie nett es ist, in einer Stadt zu wohnen, müsste es gar nicht geben.

Central
Motor Presse Stuttgart
5,90 Euro

*) Er geht allerdings gerade daran ein, dass er keine funktionierenden Mechanismen hat, Überfluss vernünftig zu verteilen. Aber das ist ein anderes Thema.

**) Es gibt übrigens tatsächlich ein großartiges Alkoholiker-Magazin, „The Modern Drunkard“.

26 Kommentare

  1. Sehr lustig, ich gehöre auch zu dem Teil der Fanschar, die ein Kind von Michalis Pantelouris möchte (aber der scheint gerade unglücklich verliebt zu sein). *Und Kapitalismus behebt doch nicht nur Mangel, er erzeugt auch welchen, bzw. den Schein eines solchen, oder?

  2. Hm. Durch einen merkwürdigen Glitch(?) kann ich diesen Post auf meinem Telefon lesen, deshalb kommentiere ich ihn entgegen meiner Befürchtung doch noch mal, unter anderem weil er schon wieder spektakulär gut geworden ist. Der Satz, den du nicht. Zum Beispiel. Immer wieder eine Freude. Danke!
    Nur über zwei Sachen müssen wir noch mal reden.
    1. Kapitalismus: *empörtes Räuspern, hochgezogene Augenbraue, dann kurz erschrecken, als mir das Monokel rausfällt und beinahe in die Kaviarschale stürzt, deren Inhalt ich mir gerade mit meinem Platinlöffel in den Mund schaufle; schließlich Erleichterung: Der Hausdiener, den die Kammerzofe heute auf Bitten des Majordomus zu mir ins Büro geschickt hat, um mir die frisch gebügelte Zeitung zu bringen, hat es aufgefangen. Mit acht Jahren hat man halt noch Reflexe.*
    2. „Und umgekehrt“? Ein Magazin für Schnaps müsste nicht von Liebe handeln, sondern von Alkoholikern? Oder wie?

  3. Ja, ein Magazin über Liebende müsste von Schnaps handeln, weil die halt meistens unglücklich lieben und deswegen trinken müssen.
    Oder?
    Ich konnte den Artikel auch ganz lesen, obwohl ich nicht Abonnentin bin. Aber jetzt nicht mehr.

  4. Na gut, das mit der unglücklichen Liebe ist mir unzugänglich, vielleicht bin ich deshalb nicht drauf gekommen …
    Was die Schranke angeht: Stimmt, jetzt gehts auf dem Telefon auch nicht mehr. Dann lags wohl nicht am Gerät, sondern an der Zeit. Hätte ich mir auch denken können. Der Page, der den PC bedient, tippt etwas langsamer als der andere mit Swype.

  5. Menno, ja, Niggemeier hat mir sechs mal gesagt, den Satz versteht man nicht, ich soll den rausschmeißen, aber ich hab nicht auf ihn gehört:

    Ein Magazin über die Liebe müsste von Schnaps handeln. Glaube ich.

    Cheers!

    @Muriel: Das ist kein Glitch, das ist ein Zeichen. Komm zurück!

  6. Habe beim Lesen angenommen, ein Magazin über Liebe würde von Wein erzählen. Hat also bei mir zu verständnis geführt.

    Hitlerbunkervergleiche sind übrigens auch ’n schönes Stilmittel.

  7. @Michalis Pantelouris: Hör nicht auf den Niggemeier, der ist der Grund, aus dem ich nicht zurückkomme. Oder so.
    Aber vielleicht können wir ja einen Sonderdeal vereinbaren. Ich zahl das Abo direkt an dich, oder du schreibst in Zukunft auf meinem Blog, oder so?
    Fangen beide mit ü an. Wie groß kann der Unterschied sein?

  8. Muriel ist wahrscheinlich unglücklich in Niggemeier verliebt, kann sich das aber nicht eingestehen – der Rest ist Abo anbestellen, Abo abbestellen, Abo anbestellen usw.

  9. Stimmt ja gar nicht! Du willst den Stefan doch nur für dich haben! Ich seh doch, was ihr euch immr für Blicke zuwerft! Glaubst du, ich bin blind? Und dass das Zufall ist, dass du mich kürzlich bei Twitter geblockt hast, kannst du auch deiner Oma erzählen!
    Meine Mutter hat mich noch gewarnt…
    *heulend ab*

  10. Ah, ich könnte Dich ja wieder entblocken und dann wieder blocken, wenn Du wieder garstig zu mir bist. Beim Niggemeier haben wir beide eh keine Chance mehr, so wie wir dem hier die Kommentarspalte zuspammen.

  11. Wahrscheinlich wirds mir bei übermedien am Ende so gehen wie dir jetzt bei meinem Twitter-Account: Wenn ich mich endlich durchringe, haben sie aufgehört.

  12. bei allem Liebeskummer und unerwiderter Liebe: mein Problem ist zunehmend dass mir diese Kolumne zum Schwer- und Glanzpunkt der kompletten Publikation wird, und so sehr ich mich jedesmal über einen neuen Bahnhofskiosk freue, so sehr fehlt mir (so langsam) Vergleichbares in anderen Bereichen. Help!

  13. @12 fun.da.mental: schön, dass das noch jemand sieht.

    @13 mycroft: Kriegen Sie, dauert aber noch ein bisschen. Ist derzeit noch als Wal unterwegs.

  14. „Das ist noch nicht ganz alles, aber ich kann nicht arbeiten, wenn alle auf dem Boden liegen und lachen.“ und „…, dass ich diesen Satz nicht.“ haben mir so gut gefallen, dass sie den Kollegen vorgelesen wurden.

    Frage: muss ich für jeden von ihnen ein Abo abschließen? Und wie berechne ich das? Es sitzen ca. 8 Personen in Hörweite, von denen 3 Deutsch sprechen und einer so ein bißchen versteht. …. ;)

    @Maike, Muriel & Michaelis (bitte laut lesen, es lebe die Alliteration!)
    Vielen Dank, euer Geplänkel ist für mich ebenfalls schon genüßlich geschmökerter und geschätzter (hah!) Bestandteil der Übermedien.
    :)

  15. Kommentar Nr. 12 ist so wichtig und richtig, dass ich ihn alle Urheberrechte verspottend nochmal kopiere und paste.

    FUN.DA.MENTAL
    25. OKTOBER 2016 UM 20:17
    bei allem Liebeskummer und unerwiderter Liebe: mein Problem ist zunehmend dass mir diese Kolumne zum Schwer- und Glanzpunkt der kompletten Publikation wird, und so sehr ich mich jedesmal über einen neuen Bahnhofskiosk freue, so sehr fehlt mir (so langsam) Vergleichbares in anderen Bereichen. Help!

  16. ..ich hatte das so verstanden, dass ein Magazin über Schnaps mit Liebe gemacht sein muss und von der Liebe des Schnapsbrenners zu seiner Arbeit handelt :D

  17. Sie erklären mir immer sehr schön, warum ich von den vorher zitierten Texten und Bildern berührt, nicht berührt, unangenehm berührt bin. Hier stellten Sie die Zeitschrift vor, und ich dachte: „Ist zwar nichts für mich und interessiert mich alles nicht, aber was ist daran falsch?“ Und dann erklären Sie mir, dass genau das daran falsch ist. „Der gemeinsame Nenner ist Mist“. Ich denk oft: Muss erst ein Grieche kommen, um mir Worte an die Hand zu geben, die Wirkung von Worten zu benennen.

    Da Sie viel mit Sternchen arbeiten: Könnten Sie die lesbar machen, wenn man mit der Maus drüberscrollt? Man scrollt nach unten, landet bei den Leserbriefen, dann wieder halb hoch, liest das Sternchen, sucht wieder die Textstelle. Ich will doch vom Pantelouris nichts verpassen.

  18. Oh Maike!
    Ich befürchte, er wird uns kein Kind machen, der wählerische Grieche.
    Kennt er andere Götter neben uns?

    Was die Lesbarkeit angeht: Ich vermiete gegen Monatsende regelmäßig meinen welken Körper an Menschen mit sehr unklaren Biographien und Absichten, um nicht gezwungen zu sein, meine zwölf Kinder zum Kastaniensammeln zwingen zu müssen.
    Es ist hart, ja. Aber das Geld muss ja aufgebracht werden.
    (iss so Trick, zwinkerzwinker)

    Ja, oh großer P., dieser mal wieder grandios!

    Klar luschtigluschtig.
    Ich spüre aber, wie informiert das ist; je länger ich dem folge eher untergründig so ein genaueres Hinschauen: wie funktioniert ein Magazin etc., wenn ICH in so Regal blicke.
    (das Semikolon orientiert sich an Wittgenstein [Der Philosoph behandelt eine Frage ;…….] und erscheint mir ähnlich rätselhaft)

    Aber egal. Geiles Teil.
    Perversen wie mir, verschaffte der unbeendete Satz natürlich einen höchst raffinierten Lustgewinn (Herr Niggemeier!).

    Und lieber Herr Pantelouris:
    Für den Hinweis auf Modern Drunkard werde ich Ihnen bis zum Ende meines vermutlich in eine Leberzirrhose mündenden Lebens dankbar sein.

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